Loe raamatut: «Disruptive Thinking»
BERNHARD VON MUTIUS
Disruptive Thinking
Das Denken, das der Zukunft gewachsen ist
Externe Links wurden bis zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches geprüft.
Auf etwaige Änderungen zu einem späteren Zeitpunkt hat der Verlag keinen Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-790-3
ISBN epub: 978-3-95623-507-8
Lektorat: Anke Schild, Hamburg
Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de
Autorenfotos: Sven Paustian und Richard Pichler
Grafiken und Layoutkonzept: Matthias Boie
Satz: Das Herstellungsbüro, Hamburg | www.buch-herstellungsbuero.de
Copyright © 2017 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
Das E-Book basiert auf dem 2017 erschienenen Buchtitel "Disruptive Thinking" von Bernhard von Mutius, ©2017 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Inhalt
Zum Einstieg: Ist die Welt aus den Fugen?
1.
Wissen und Nichtwissen
Das disruptive Spiel beginnt
Was nun?
2.
Routinen und Nichtroutinen
Die kreative Revolution erfasst die Organisation
Was tun?
3.
Maschinen und Menschen
Wer bestimmt über unsere Zukunft?
Wie weiter?
Dank
Literatur
Der Autor
Zum Einstieg
Ist die Welt aus den Fugen?
Ein Gespenst geht um in Europa. Und nicht nur dort. In den Konferenzräumen von Konzernzentralen, in den Redaktionen der Wirtschaftsmagazine, in den Köpfen von BWL-Studenten und ehrgeizigen Start-up-Aktivisten. Nein, es geht nicht um eine Ideologie des 19. Jahrhunderts. Es ist eine Idee des 20. Jahrhunderts, die sich jetzt im 21. Jahrhundert unheimlich rasch auszubreiten beginnt. Es ist die Disruption.
Dabei sind manche – wie das Wort »disruptiv« schon andeutet – hin- und hergerissen. Auf der einen Seite sind sie insgeheim entzückt, wenn sie erfahren, wie es andere zerreißt, insbesondere Konkurrenten. Zuerst Kodak, dann Nokia, vielleicht als Nächstes einen bekannten Energiekonzern oder eine große Bank oder ein Automobilunternehmen mit weltweitem Renommee? Auf der anderen Seite zittern sie, dass es möglicherweise sie selbst treffen, zerreißen, zerstören könnte …
Davos, Januar 2016. Wie jedes Jahr trifft sich die internationale Elite aus Business und Politik, um sich über relevante Themen der Zeit auszutauschen. Offiziell ist das Leitthema der diesjährigen Zusammenkunft die sogenannte vierte industrielle Revolution. Inoffiziell sprechen die meisten vor allem über ein Thema, das schon bei den letzten Treffen im Raum war, jetzt aber auf der Agenda der Aufmerksamkeit ganz oben steht: »Digital disruption is at the heart of all the conversations. Business leaders tell me that they are intent on disrupting before they are disrupted«, schreibt Pierre Nanterme, CEO der Beratungsfirma Accenture in seinem Blog am 17. Januar 2016. Ajay Banga, Präsident und CEO von MasterCard, bringt auf den Punkt, was in Davos viele empfinden: »The threat of disruption is a fear for most people.«
Was aber ist mit all dem gemeint? Geht es »nur« um »disruptive Innovationen«? Also um das, was Clayton M. Christensen einmal so beschrieben hat: »die Chancen digitaler Technologien nutzen«? Und wenn ja, wie weit oder wie eng sollte dieser Begriff gefasst werden? Entstehen disruptive Innovationen ausschließlich »in neuen Märkten und unteren Marktsegmenten«, wie Christensen sagt? Oder auch in anderen? Wer will der menschlichen Erfinderkraft gebieten, wie sie sich zu verhalten hat?
Aber vielleicht geht es gar nicht nur um technische Innovationen oder Produktinnovationen, sondern auch um soziale Innovationen – in der Arbeit und Zusammenarbeit, in Führung und Organisation, im Lernen und in der Bildung?
Doch möglicherweise ist auch das noch zu eng gedacht? No Ordinary Disruption heißt eine Studie aus dem Hause McKinsey. Darunter werden »Urbanisation, beschleunigter technologischer Wandel, demographischer Wandel und die stärker werdende globale Vernetzung« gefasst. Man fragt sich zwar, was daran nicht »ordinary« ist. Aber die gesellschaftliche Dimension des Themas ist damit in der Diskussion. Auch dies schien in diesen Januartagen in der Region Davos auf. Den Kongressteilnehmern wurde – wie jedes Jahr – eine weltweite, repräsentative Studie zum Thema Vertrauen präsentiert: »Politiker und Eliten haben das Vertrauen verspielt«, lautete die Meldung der FAZ. »Auf der ganzen Welt wird das Misstrauen der allgemeinen Bevölkerung gegenüber den besser ausgebildeten und gut verdienenden Schichten immer größer. Die Eliten führen nicht mehr«, so der Berichterstatter Carsten Knop. Ein Jahr später in Davos lautete die Meldung: »Das Vertrauen der Menschen in die politischen und gesellschaftlichen Institutionen erodiert. Politikern, Managern, Nichtregierungsorganisationen und auch den Medien wird immer weniger vertraut.« Gehört das vielleicht auch zum Thema Disruption? Oder schon zum Thema Revolution? Und was hat das mit der Digitalisierung zu tun? Und wie könnte das alles zusammenhängen?
Drei Thesen
»Disruptive Thinking« heißt zunächst: Umbrüche, Brüche, nichtlineare Entwicklungen denken zu können. Und nicht zu glauben, dies gehe gleich vorüber. Nein, das geht nicht gleich vorüber. Ich habe dazu drei Thesen, oder vielleicht sollte ich besser sagen: Hypothesen. Denn was wirklich passieren wird, werden wir erst in ein, zwei Generationen wissen.
Erste These
Wir leben in einer Übergangszeit von einer alten in eine neue Welt. Eine große Transformation. Die digitale Transformation. Sie gleicht in ihrer Wucht und in ihrem Ausmaß der industriellen Revolution. Und diese Transformation ist nicht nur eine technologische. Sie ist auch eine soziale und kulturelle und verändert massiv unser ganzes Denken und Verhalten.
Zweite These
»Übergangszeit« heißt: Manches Alte funktioniert nicht mehr richtig und manches Neue noch nicht richtig. Wir spüren das oft instinktiv und intuitiv, zum Beispiel am zunehmenden Druck, dem wir ausgesetzt sind. Und wir sind uns nicht mehr ganz sicher, was morgen passieren wird. Denn auch das gehört zu dieser Übergangszeit. Sie ist gekennzeichnet durch sich überlagernde Widersprüche und Konflikte. Nicht nur Altes, sondern auch ganz Altes, oft archaisch Anmutendes lehnt sich auf gegen das Neue.
Dritte These
Die gegenwärtige Transformation gleicht nicht nur der industriellen Revolution. Sie ist selbst auch eine Revolution. Ich nenne sie die kreative Revolution. Ihr historischer Sinn besteht in der Entfaltung der kreativen menschlichen Fähigkeiten, ermöglicht durch die digitalen Technologien und Netze.
Wer heute von digitaler Transformation spricht, wird fast überall auf Konsens stoßen. Alle nicken. Und manche tun so, als wüssten sie genau, was morgen passieren wird, wenn man nur die richtigen Technologien und Geschäftsmodelle einsetzt. »Kreative Revolution« sagt: Wir haben keine Ahnung, was in fünf oder zehn Jahren passieren wird. Die digitalen Technologien – die gerade erst am Anfang ihrer Entwicklung stehen – sind nur die Bedingung der Möglichkeit. Um sie zu entfalten, brauchen wir menschliche Kreativität, Schöpferkraft, und zwar in einem bisher nicht geahnten Ausmaß. Überall, in der Umwelt, für die Nachhaltigkeit, in Schule, Ausbildung, Unternehmen, Politik. Und Disruptive Thinking ist die Kunst und Disziplin für diese Revolution.
Leitgedanken: Was ist Disruptive Thinking?
Disruptive Thinking ist das Denken, das mit den komplexen Anforderungen dieser Zeit mitwächst. Es ist Querdenken ohne Geländer.
Disruptive Thinking ist realistisches Zukunftsdenken, das Störungen nicht ausklammert, sondern einbezieht.
Disruptive Thinking ist ein zweisprachiges Denken, es ist in zwei Welten zu Hause. Es rechnet mit der Ungewissheit und macht Widersprüche produktiv.
Disruptive Thinking ist das etwas andere »Betriebssystem« für Organisationen in der digitalen Transformation und der beginnenden kreativen Revolution.
Disruptive Thinking fördert das Innovationspotenzial und stärkt die soziale Verantwortung.
Vor ein paar Jahren habe ich zum ersten Mal die folgende Geschichte gehört: Eine Lehrerin unterrichtete in einer Grundschule sechsjährige Kinder im Zeichnen. Eine der Schülerinnen, die in einer der hinteren Bänke saß und sonst nicht besonders aktiv mitarbeitete, war diesmal völlig vertieft in das, was sie tat. Die Lehrerin war fasziniert und zugleich neugierig. Sie fragte das Mädchen, was es malen würde. Ohne aufzuschauen, sagte die Kleine: »Ich male ein Bild von Gott.« Die Lehrerin erwiderte überrascht: »Aber niemand weiß, wie Gott aussieht.« Darauf entgegnete das Mädchen: »Warten Sie einen Moment, gleich wissen Sie es.«
Ich mag diese Geschichte aus verschiedenen Gründen. Nicht nur, weil sie der begnadete Geschichtenerzähler und kreative Anreger Ken Robinson gerne erzählt. Sie ist ein wunderbares Beispiel für die Fantasie von Kindern. In dieser Lebenszeit waren wir alle kreativ. Viele von uns hatten das kreative Vertrauen, scheinbar Unmögliches zu wagen und die Grenzen der herkömmlichen Vorstellungen der Erwachsenen überspringen zu können.
Sie ist auch ein schönes Beispiel für die festgefügten Wissensüberzeugungen der Erwachsenen. Und für die Verblüffung, die es hervorruft, wenn dieses Gefüge infrage gestellt wird. Ich bekam zum Beispiel in der ersten Klasse der Grundschule die Aufgabe, einen Aufsatz über das Schlaraffenland zu schreiben. Wie sich die Erwachsenen das Schlaraffenland ausmalten, wusste ich natürlich. Das leuchtete mir aber nicht ein. Wieso mussten die Leute immerzu irgendetwas essen (meistens Tiere) und faul herumliegen?
Also malte ich in meinem Aufsatz ein ganz anderes Bild: ein Land, in dem die Luft so nahrhaft war, dass man sich von ihr ernähren konnte und man immerzu herumspringen und Neues entdecken konnte.
Doch das alles berechtigt noch nicht, jene Geschichte in einem Buch über Disruptive Thinking vorzustellen. Noch dazu in der Einleitung. Wäre da nicht noch eine andere Ebene und eine andere Assoziation, die diese Geschichte bei mir auslöst: Das Mädchen, das sich zutraut, ein Bild von Gott zu malen, steht für diese Zeit, für die gerade beginnende kreative Revolution, für eine neue Welt, die sich anschickt, Dinge zu entwickeln, die bislang unvorstellbar waren. Und es steht für die Erschütterung, die dies in der alten Welt auslöst. Vielleicht – aber dies als Letztes – steht es auch für etwas, was man früher Hybris nannte.
Mancher fühlt sich von dieser neuen Welt magnetisch angezogen, manchem macht sie Angst. In diesem Spannungsfeld entsteht ein Klima für Disruptionen – für begeisternde Innovationen und besorgte Abwehrreaktionen, für tatsächliche Disruptionen, aber auch für das Gerede darüber, für Geschichten, Meinungen Spekulationen. Doch wie kann man das eine vom anderen unterscheiden? Wäre es nicht interessant, ein bisschen mehr hineinzuhorchen?
Der Begriff »Disruptive Thinking« besteht aus zwei Wörtern. Das zweite steht da nicht aus Verlegenheit. Disruptive Thinking feiert nicht disruptives Tun jeglicher Art. Disruptive Thinking ist Reflexion der Disruption. Und zugleich kreative, verantwortliche Praxis – die praktische Unterstützung für Führung und Organisation, mit dem disruptiven Wandel besser umzugehen.
Dies scheint mir gerade in einer Zeit so wichtig, in der wir alle mit Instantangeboten überschüttet werden. Ständig müssen wir irgendetwas sofort downloaden, bestellen, kaufen oder unter permanentem Zeitdruck und in kürzester Frist implementieren, installieren, realisieren. Aber Disruptive Thinking sagt: Es ist immer Zeit zum Denken im Handeln. Oder noch besser: vor dem Handeln, wenn man sich in extremes Gelände begibt. Und Disruptionen sind extremes Gelände. Es sind nicht kleinere Unebenheiten auf einer Autobahn. Es ist Backcountry.
Extremkletterer, Snowboarder und Freeride-Profis wissen, wie sich das anfühlt. Sie begeben sich bewusst in dieses Gelände. Denn hinter jedem Berg wartet ein Gipfel voller neuer Möglichkeiten. Aber sie wissen auch, wie es die Freerider Melanie Schönthier und Stephan Bernhard formulieren: »Backcountry ist ein Ort voller Gefahren, wo eine falsche Entscheidung deinen Tag ruinieren kann.« Deshalb ist eine gute physische und vor allem mentale Vorbereitung so wichtig: »Better be ready when the shit goes down«, sagen sie dazu.
Eine gute technische Ausrüstung ist selbstverständlich wichtig. Das Werkzeug muss stimmen. Doch das bekommt man heute überall; jeder Anfänger kann es sich besorgen. Das Entscheidende aber passiert im Kopf. Es ist die Kombination aus Einstellung und Vorstellung. Man muss das Gelände lesen können. Und man muss beides gleichzeitig parat haben, vor seinem inneren Auge sehen und sich darauf vorbereiten: die Route, die man gehen, die Linie, die man fahren will, und zugleich jeden Stein, der zum Gegner werden kann, jeden Winkel, aus dem sich eine Lawine lösen kann.
Beides denken zu können, Widersprüche denken zu können, Gefahren zu erkennen und gleichzeitig Vertrauen zu haben, ist überlebensnotwendig. In jedem extremen Gelände. Disruptive Thinking ist deshalb die Kunst und Disziplin, mit Brüchen und Widersprüchen besser umzugehen. Es schafft die Voraussetzungen dafür, relevante disruptive Entwicklungen früher zu erkennen und sie in eine Gelegenheit zu verwandeln, eine neue Linie zu finden oder einen Sprung nach vorne zu tun.
Dieses Buch ist deshalb auch nicht einfach eine Handlungsanweisung oder ein Ratgeber herkömmlicher Art, sondern eher ein »Anleitfaden«, der den Leser dabei unterstützen soll, seine eigene Orientierung zu finden.
Natürlich verfügt Disruptive Thinking über eine Reihe von Tools, die sich in der Praxis in Innovations- und Transformationsprojekten bewährt haben, wie wir noch sehen werden. Aber Disruptive Thinking ist weniger ein neues Toolset als ein anderes Mindset. Es geht um Denken und Verhalten. Es geht darum, eine neue Anpassungsfähigkeit zu entwickeln und zugleich wieder Gestaltungsfähigkeit zu gewinnen, die uns mehr Freiheitsgrade gibt und mehr Wahlmöglichkeiten schafft.
Ich möchte den Leser mitnehmen auf eine Reise von der alten Welt in die neue Welt, eine dreiteilige Expedition in die Gedanken- und Erfahrungswelt von Disruptive Thinking. Man könnte die drei Teile »Gänge« nennen. Nicht zu verstehen als Menüfolge, sondern als Folge einer allmählichen Entwicklung der Gedanken beim Gehen, bei einer Wanderung querfeldein, bei der wir das Gelände aus unterschiedlichen Blickwinkeln erkunden und unsere Wahrnehmungen beobachten. Eindrücke sammeln und am Ende innehalten, um die Eindrücke zu sichten und mögliche Konsequenzen für unser künftiges Handeln zu ziehen. Jeder Gang mündet daher in einen praktischen Imperativ.
Wir werden uns bei jedem Gang in Spannungsfelder begeben. Wir werden ihnen nicht ausweichen. Wir können ihnen auch in der Realität nicht ausweichen. Spannungsfelder, Widersprüche, Dilemmata sind elementar für diese Umbruchszeit. Disruptive Thinking stellt sich ihnen, versucht sie zu meistern, an ihnen zu wachsen:
I. Gang
Wissen und Nichtwissen
Das disruptive Spiel beginnt
II. Gang
Routinen und Nichtroutinen
Die kreative Revolution erfasst die Organisation
III. Gang
Maschinen und Menschen
Wer bestimmt über unsere Zukunft?
In allen drei Gängen geht es zunächst um das Beobachten und Beschreiben typischer disruptiver Entwicklungen und Innovationen. Nämlich:
allgemein auf den Märkten und in der Wirtschaft (I),
mit Blick auf die Organisation und auf die Zusammenarbeit (II),
im Hinblick auf das künftige Zusammenspiel von Mensch und Maschine (III).
Daraus abgeleitet nehmen wir anschließend in allen drei Gängen mögliche praktische Schlussfolgerungen und Hilfestellungen durch nützliche Tools in den Blick:
zur mentalen Vorbereitung für die Strategie- und Innovationsarbeit (I),
für die Transformation der Organisation (II),
für die Kulturentwicklung (im weitesten Sinne) und für unsere eigene Entwicklung (III).
Oder noch kürzer: Zunächst sprechen wir über die Narrative, dann über die Imperative – die möglichen praktischen Imperative der Disruption.
Doch dies sind nur vorläufige Strukturierungen. Also nichts, was man in irgendwelche Kästchen oder Schubladen packen könnte. Das Thema Disruption lässt sich nicht kästchenförmig katalogisieren, wie wir noch sehen werden. Es hat eher etwas mit dem Aufsprengen der Kästchen zu tun. Disruptionen bringen Tools und Kataloge durcheinander.
Disruptionen ähneln Erdbeben. Erdbeben kann man bekanntlich nicht vorhersagen. Man kann erdbebengefährdete Gebiete benennen, Gesteinsschichten analysieren, immer genauere Messungen durchführen etc. Aber man kann nicht exakt wissen, wo und wann die Erde beben wird.
Disruptive Thinking reflektiert dies: Wir können nicht genau sagen, wo und wie sich die nächste Disruption ereignen wird – wir können technologische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungsmuster aufzeigen, damit wir nicht blind in irgendetwas hineinlaufen. Wir können Gestaltungsvorschläge machen, damit wir uns besser vorbereiten können. Aber das eigene Denken, das Entscheiden und die Übernahme von Verantwortung unter den Bedingungen zunehmender Ungewissheit – das kann uns niemand abnehmen.
Auch deshalb arbeitet Disruptive Thinking mit Fragen und mit Spannungsfeldern: Wissen und Nichtwissen, Routinen und Nichtroutinen, Maschinen und Menschen. Disruptive Thinking begnügt sich nicht mit einseitigen Bestimmungen. Nur Wissen, Routinen und Maschinen – das ist nicht genug. Das hieße, einseitig auf Gewissheiten, auf Zwangsläufigkeiten zu setzen. Sie lassen keine Wahl mehr. Da gibt es nichts mehr zu entscheiden. Nur noch zu exekutieren. Die Wege der digitalen Transformation scheinen vorherbestimmt. Manche hätten das gerne. Ich halte es für sachlich unrichtig, strategisch unzulässig und praktisch fahrlässig. Das unterscheidet Denken von bloßem Nachvollziehen des bereits Vorgedachten, also vom unreflektierten Gebrauch von Gefertigtem. Nach dem Motto von Friedrich Dürrenmatt: »Brauchbar ist eine Maschine erst dann, wenn sie von der Erkenntnis unabhängig geworden ist, die zu ihrer Erfindung führte.« Das ist hier nicht gemeint. Das hilft nicht, wenn man Neuland erschließen will. Disruptive Thinking setzt auf das Selbstdenken. Mit kreativem Vertrauen und Vergnügen. Neugierig, experimentell, vernetzt, bewusst und verantwortlich.