Loe raamatut: «Geliebter Unhold», lehekülg 12

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~9~

Sie blieben den ganzen Tag im feuchten, dunklen Gewölbe unter der Hütte eingesperrt. Glücklicherweise war die Kreatur nicht gerade mit Intelligenz gesegnet, sondern rein auf ihre Instinkte reduziert. Wie ein abgerichteter Hund kannte sie nur die Jagd und das Stellen ihrer Beute. Gut möglich also, dass sie so lange auf den Überresten des Gebäudes sitzen bleiben würde, bis ihr Herr antanzte.

Das Problem war jedoch, dass das Biest sie nicht sehen, nur wittern konnte, was ihm wohl das Gefühl des Versagens vermittelte, denn es brüllte und schlug mit dem schweren Schwanz auf, kratzte mit den Krallen über den Boden, sodass die Decke über ihren Köpfen bebte und Staub und Geröll herabrieselte. Stunde um Stunde verging. Xaiths flammende Leuchtkugel spendete etwas Licht, wurde aber zunehmend schwächer. Dicke Spinnen, so groß wie Hände, krochen durch den Lärm und die Vibrationen in der Erde aus ihren Löchern, Schaben und Nager huschten umher.

Sollte das ihr Grab sein?

Jin saß an einem Regal gelehnt, das in die Lehmwand eingearbeitet worden war und dessen Bretter bereits von der Feuchtigkeit zerfressen und herabgefallen waren, während er die Dielen im Blick behielt, die über den Balken lagen. Einige waren durch den Aufprall der Trümmer gesplittert, aber die Decke schien Stand zu halten. Zumindest noch.

Tageslicht sickerte durch die Ritzen, doch nicht genug, um die tiefe Dunkelheit zu vertreiben. Hin und wieder konnte er das violette Schimmern eines Federkleids, ebenso von Schuppen erkennen.

Ein leises Schnarchen weckte seine Aufmerksamkeit, mehr ein lauteres, schnurrendes Einatmen.

Er blickte an die gegenüberliegende Wand zu den drei anderen. Xaith hatte den Kampf gegen die Erschöpfung vor Stunden verloren, und Jin hatte es nicht über sich gebracht, ihn wach zu halten. An seiner linken Schulter lehnte der Kopf des unbekannten Jungen, unter dessen schmutziger Fischermütze schwarze Strähnen hervorlugten. Er trug lumpige Kleidung, ein weites Hemd und eine weite Weste darüber, und in seinen Armen ruhte ein Kind.

Alle drei schliefen, trotz des anhaltenden Lärms, tief und fest. Die Ringe unter ihren Augen zeugten von den Strapazen der langen Reise. Und vielleicht sogar von noch mehr.

Xaith sah… furchtbar aus. Nicht im Sinne von hässlich. Wenn er eines nicht war, dann hässlich, ganz gleich was dieser Dummkopf über sich selbst dachte. Nein, er wirkte ausgelaugt, wie ein Sklave, der dreißig Jahre Zwangsarbeit vollrichtet hatte. Sein schwarzes Haar war gewachsen, die Enden seiner Spitzen sahen ausgefranst aus, als würde er sie nur mit dem Dolch abschneiden, wenn sie zu lang wurden. Er hatte sie zu einem lockeren Zopf zusammengebunden, dünne Strähnen rahmten sein Gesicht ein. Ein schmales, langes Gesicht mit scharfen Kanten und nun hohlen Wangen, die schattig und fahl wirkten. Die zahlreichen Pickel und Beulen von damals hatten seine Haut gezeichnet und pockenartige Narben und Krater auf seiner Haut hinterlassen. Er war gewachsen, noch mehr in die Höhe geschossen, dazu schlank wie eh und je. Schwarzes, offenes Hemd, das einen flachen, aber wohlgeformten Oberkörper preisgab, als wollte er mit diesem Streifen nackter Haut beweisen, dass er nicht überall so vernarbt war wie in seinem Gesicht.

Er hatte sich kaum verändert, seine geschlitzten, grüngelben Drachenaugen bargen noch immer diese besondere, dicke Mauer – und diesen geflüsterten Ruf nach Hilfe. Letzteres würde er natürlich vehement abstreiten, doch Jin brauchte ihn nur anzusehen und wusste sehr genau, was in ihm vorging. In diesem leicht zerbrechlichen, schreckhaften, zarten Geschöpf, das sich gerne mit Granit ummantelte, aber das unsichere Herz eines Fluchttieres besaß.

Ein Junge, der viel zu früh gelernt hatte, dass die Welt grausam zu einem war, wenn man in den Augen der Gesellschaft nicht »schön« war. Was so viel hieß wie, wenn man nicht wie eine Marmorstatue aussah und das Lächeln der Sonne besaß, versteckte man sich lieber und schaufelte Kohle. So oder so ähnlich hatte er es mal ausgedrückt.

Jin betrachtete ihn und spürte den alten Schmerz, den er immer gespürt hatte, wenn er Xaith betrachtete. Xaith hatte so sehr gelitten, Drachenaugen und übersät mit Pickeln, niemand hatte mit ihm spielen wollen, er war gehänselt und ausgeschlossen worden, hatte angefangen, Abneigung gegen alle gesellschaftlichen Formen zu empfinden. Je mehr er sich verschloss, je mehr hatte man ihn mit Verachtung gestraft. Er hatte gar nichts richtig machen können.

Aber nicht nur Kinder waren grausam, viel schlimmer waren diese überfürsorglichen Eltern, die ihre Sprösslinge panisch weitergezogen hatten, wann immer Xaith in die Nähe kam.

So auch Jins eigener Vater.

Er erinnerte sich an ihre erste – die wirklich allererste – Begegnung, damals im großen, dunklen Thronsaal des Blutdrachenkönigs. Xaith, der kleine Prinz, hatte auf dem Schoß seines Vaters gesessen, winzig im Vergleich zu König Desiderius, aber seine beeindruckende, mystische Präsenz hatte seine kindliche, winzige Gestalt wieder wett gemacht.

Als Jins Vater mit dem König eine Unterredung führte – über Handel und Zusammenarbeit – war Xaith vom Schenkel seines Vaters gerutscht, hatte Jin mit großen Augen angesehen, Abneigung im Blick, als wollte er sagen: »Bleib mir bloß fern.« Doch er war nicht grob, das hatte Jin gleich bemerkt, er trug lediglich einen schweren Schild vor sich her, dahinter war er unsicher, zerbrechlich. Das Herz lag ihm auf, nicht in der Brust, so leicht berührbar, so leicht zu verletzen, es genügte ein falscher Blick. Und Verletzlichkeit verwandelte sich bei Xaith sofort in Hass – auf die Welt und insbesondere auf sich. Es war so unheimlich leicht, in ihm zu lesen.

Vom ersten Moment an hatte Jin das Bedürfnis verspürt, ihm näherzukommen, seine Hand zu nehmen und ihn mit Freundlichkeit zu überschütten, ihm zu zeigen, dass die Welt und ihre Völker schön waren, wollte ihn lächeln sehen, hatte sich ausgemalt, sein einziger Freund zu werden.

Doch als er damals einen Schritt auf ihn zumachte und Xaith ihn zwar argwöhnend ansah, aber nicht zurückwich, hatte Jins Vater ihn gepackt und hinter sich geschoben.

Eine Geste, die leicht so missverstanden werden konnte, dass der Vater den Sohn festhielt, damit er nicht auf den König zulief, denn es war nicht erlaubt, die Stufen zum Thron zu betreten. Doch Jin wusste es besser, sein Vater wollte nicht, dass er sich mit Xaith anfreundete. Und Xaith hatte es auch gewusst, Hass war in seine Augen getreten und er hatte sich umgedreht und war fortgegangen.

Kaum waren sie aus dem Thronsaal getreten, hatte Jins Vater ihn an den Schultern genommen und auf ihn eingeredet. »Halte dich von dem jungen Prinzen fern, er ist gefährlich, hörst du?«

»Wieso sollte er gefährlich sein?«

Das konnte er ihm auch nicht erklären, niemand konnte es ihm erklären. »Er ist es eben einfach, er ist seltsam, das sagen alle. Spiel mit Vaaks, der ist ein Mensch, so wie du.«

Natürlich hatte er mit Prinz Vaaks gespielt, er hatte seine Kindheit mit ihm verbracht, aber dadurch auch am Rande mit Xaith, wenn auch auf eine völlig andere Weise als erhofft, denn Xaith sah in ihm keinen Freund, sondern nur den Jungen, der ihm seinen Bruder wegnahm.

Es war lange her, zu lange, nun waren sie erwachsen, zumindest ihre Körper waren es, und doch hatte sich nichts geändert, der alte Groll, der tiefsitzende Argwohn und die Eifersucht waren genauso präsent wie vor Jahren.

Dabei war alles, was Jin je wollte, Xaiths Gesicht zu nehmen, sodass er ihm nicht mehr entweichen konnte, und ihm eindringlich zu erklären, dass er nicht seltsam oder anders oder auch nur einen Hauch hässlich war, ganz gleich was ein paar oberflächliche, neidvolle Betrachter behaupteten.

Du bist nicht allein in der Dunkelheit, Xaith, viele von uns sind mit dir dort, selbst die, die wie die Sonne lächeln. Wir trauen uns nur nicht, uns bemerkbar zu machen.

Wie oft hatte er ihm etwas in der Art sagen wollen, doch wann immer Xaiths geschlitzte Pupillen in seine Augen blickten, wann immer sie sich gegenüberstanden, verabschiedete sich sein Mut fluchtartig wie ein verängstigter Deserteur, und er bekam keinen Ton mehr heraus.

So wie jetzt, da es so vieles gab, was er ihm sagen wollte – sagen musste. Und alles, was ihm gelungen war, war ein saudummes: »Du musst nach Hause kommen.« Nachdem er über Jahre hinweg an einsamen Lagerfeuern sich eine lange Rede zurechtgelegt hatte, was er ihm sagen wollte, kam nur ein fadenscheiniges »Komm nach Hause« aus seinem Mund.

Er wollte die Stirn gegen die Wand schlagen.

Du hast es vermasselt, Jin.

Er runzelte die Stirn, als er den Kopf für einen Moment in den Nacken legte und sein eigenes, unbedeutendes Schicksal beklagen wollte, denn plötzlich bemerkte er die gähnende Stille.

Einen langen Moment hielt er ruhig, hörte sogar zu atmen auf, um ganz sicherzugehen. Nur das leise Zwitschern einiger Vögel war zu hören, was bedeutete, dass die Tiere in die nähere Umgebung zurückgekehrt waren.

War er so in Gedanken versunken gewesen, dass ihm nicht aufgefallen war, wie das Beben und Kreischen abgebrochen war?

Offensichtlich, aber das war auch nicht das erste Mal, dass ihn die Grübeleien über Vaaks´ Ziehbruder derart eingenommen hatten, dass um ihn herum die gesamte Welt in die Ferne rückte und er wie in einem dunklen Raum saß, ausgefüllt von Gedanken über Xaith.

Aber nun war es tatsächlich still.

Jin wagte es, sich zu bewegen, die zimtbraunen Augen auf die Deckendielen gerichtet. Etwas Licht fiel hindurch, erkämpfte sich seinen Weg ins Gewölbe und streifte sein von Sommersprossen übersätes Gesicht.

»Xaith?«, flüsterte er und blickte zu den anderen hinüber, die noch immer tief und erschöpft schliefen, wie junge Wölfe im Rudel – alle aufeinander.

Ein süßes Bild, ein herzerwärmender Anblick, der Jin immer wieder lächeln ließ.

Das bist du wirklich, dachte er über Xaith, dieser Kerl dort, der mit einem Jungen kuschelt, der ihm eine Schulter bietet, der Wärme zu geben hat. Du bist nicht das Monster, zudem alle dich machen wollten.

Nein, dachte Jin grimmig, Xaith war es nicht, sein Bruder Riath war es.

»Xaith?«, flüsterte er wieder und kroch über den Boden zu der Gruppe hinüber. »Xaith, ich glaube, es ist weg.«

Keine Rührung, flache, tiefe Atmung. Xaith sah so müde aus, nicht nur körperlich, selbst im Schlaf hing ihm ein dicker Mantel Schwermut an, sein Gesicht war eine hagere, düstere Maske voller Trauer.

Jin zog es das Herz in der Brust zusammen, er hob mitfühlend einen Mundwinkel und streckte seine Hand aus, um Xaith eine schwarze Strähne aus der Stirn zu streichen. Just in diesem Augenblick schnappte Xaith schnell wie eine Schlange zu. Nicht mit dem Mund, zum Glück, seine Fänge wären schmerzhaft gewesen, doch sein fester Griff, der sich um Jins Handgelenk zusammenzog, war alles andere als angenehm. Haut klatschte auf Haut und durchbrach die Stille. Feurige, geschlitzte Drachenaugen sahen hart und drohend in Jins Gesicht, bohrten sich wie flammende Dolche in seinen Blick.

Für einen Moment verharrten sie so, Jins Herz schlug so wild in seiner Brust, dass er kaum zu atmen vermochte, weshalb er ihn zitternd aus den Lungen entließ. Xaith war so… warm.

Xaiths Gesicht wurde etwas weicher, als er Jin erkannte, doch um seinen Mund veränderten sich die grimmigen Züge nicht.

»Was ist?«, fragte er mit rauer, barscher Stimme.

»Ich… ich glaube«, stammelte Jin geflüstert. Warum flüsterte er? »Ich glaube, das Vieh ist weg, die Vögel sind zurück und es ist still.«

In diesem Moment schien auch Xaith die Stille zu bemerken, er runzelte die Stirn und lauschte angestrengt, seine Augen flogen über die Decke.

»Hmm, stimmt.« Er ließ so abrupt Jins Handgelenk los, dass dieser in der Hocke taumelte und beinahe auf den Hintern geplumpst wäre. Xaith stand auf, ungeachtet aller anderen, die ihm so nahe waren, als wäre er ihr Mittelpunkt, ihr Herz. Und er verließ sie ohne Rücksicht.

Der fremde Junge wäre beinahe mit dem Gesicht auf den Boden geschlagen, wäre er nicht vorher mit einem Ruck erwacht und hätte sich verwirrt aufgerichtet. Das Kind quengelte kurz, schien dann aber weiterzuschlafen.

Wem gehörte dieses Kind eigentlich?

Jin hatte Gerüchte gehört über Riath und seine Angelegenheiten in Carapuhr, immerhin war Jin immer in dessen Nähe gewesen, war ihm gefolgt und hatte gehört, was Prinz Desith und Prinz Vynsu in Carapuhr aufgedeckt hatten. Doch konnte es wirklich sein, dass dieses Kind Riaths Sohn war, der aus dem Geburtenhaus gestohlen wurde?

»Du hättest mich nicht einschlafen lassen dürfen!«, murrte Xaith.

Jin riss den Blick von den beiden Kindern los und sah auf. Xaith stand mit dem Profil zu ihm, groß, schlank, überragend. Vielleicht ein wenig zu überragend. Jin bemerkte, dass er noch immer auf dem Boden saß und brachte sich so schnell auf die Beine, dass er taumelte.

So »perfekt«, wie Xaith ihn immer beschimpft hatte, war er nun wirklich nicht, grundsätzlich gelang es Jin, sich in jedweder Situation zu blamieren.

Ärgerlich musterte Xaith ihn, als ermüdete ihn Jins bloße Anwesenheit.

»Ich… ich dachte, du brauchst etwas Schlaf«, erklärte Jin, nachdem er sich wieder auf die Frage besinnt hatte, die im Raum stand. »Du siehst erschöpft auf.« Sorgenvoll streckte er eine Hand aus und wollte Xaith berühren. Dummer Fehler, er hatte es vergessen, Xaith mochte es überhaupt nicht, angefasst zu werden.

Er wich aus, zischend wie eine Schlange. »Du hättest mich wecken müssen!« Xaith wandte sich ab, ging zur Luke, unter der eine Leiter mit morschen Stufen stand.

Jin sah ihm nach, seine Schultern sanken hinab. Seit er Xaith endlich gefunden hatte, leistete er sich einen Fehler nach dem anderen.

So wie Xaith in den Augen anderer nie etwas richtig machen konnte, so konnte auch niemand bei ihm je etwas richtig machen.

Der Papagei rief, was man ihm entgegenschrie. Altes Sprichwort, neu interpretiert.

*~*~*

Xaith drückte die Luke einen Spalt auf. Warmes Tageslicht prickelte auf seiner Haut, die Kreatur hatte eine Schneise in den Urwald geschlagen. Bäume und Trümmer versperrten ihm größtenteils die Sicht, er sah ein paar bunte Vögel und spürte die Präsenz anderer Wildtiere in der näheren Umgebung. Hinter ihm versammelte sich eine Schlange aus Menschen. Zu viele Menschen, wenn er bedachte, dass er diese Reise eigentlich allein angetreten hatte – und wie gefährlich sie war.

Gut, den Jungen hatte er sich selbst angelacht, und er musste gestehen, es war entspannt mit einem Diener, dem man kleine Drecksarbeiten – Feuerholz sammeln, Wache schieben, Pferd putzen und tränken, solcherlei – überauftragen konnte. Und das Neugeborene war ein notwendiges Übel. Die zwei hatte er sich selbst ausgesucht, aber Jin?

Warum ausgerechnet Jin?

Es war, als wollte das Schicksal ihm noch einmal gründlich in die Fresse hauen. Er musste den Rotschopf wieder loswerden, ganz dringend, bevor die Vergangenheit wieder hochkam. Wobei sie ihn bereits einzuholen drohte, er fühlte sich wieder genau wie damals. Dieser Neid, diese tiefsitzende, dunkle Eifersucht auf einfach alles, was Jin verkörperte. Schönheit, Sanftheit, Freundlichkeit. Das Wissen, dass er der Diamant unter Steinen war und er der bessere Gefährte für Vaaks war. Zudem waren Vaaks und Jin beides Menschen, kurzlebig, wurden schnell alt, wollten sich nicht gegenseitig die Venen aufschlitzen. Es lebte sich mit Jin schlicht ungefährlicher. Und er war eine sehr angenehmere Persönlichkeit.

Oh ja, es wurde dringend, Jin wieder loszuwerden.

»Sieht ruhig aus«, sagte er leise und versuchte, die Luke aufzudrücken. Sie bewegte sich nur ein kleines Stück, dann stieß sie gegen etwas Schweres, Unbewegliches.

Xaith fluchte. Er stieß die Schulter gegen die massive Luke, der Boden knarrte, ansonsten rührte sich überhaupt nichts. Wäre die Kreatur noch in der Nähe, hätte sie sein Bemühen bereits gehört und erneut angelockt.

Nein, sie schienen sicher. Der Sturm hatte sich gelegt und das Biest war verschwunden, um nicht aufzufallen. Außerdem mochte es kein Sonnenlicht, das wusste er.

»Brauchst du Hilfe?« Jin griff nach der Leiter, wollte sich neben ihn ziehen. »Vielleicht geht’s, wenn wir zusammen-«

»Nein!«, rief Xaith ein wenig zu harsch.

Jin ließ sich matt wieder von der Leite sinken und zog die Lippen durch die Zähne. Weiße, perfekte Zähne, wie könnte es auch anders sein.

»Tretet zurück, ich mach das!«

Jin nahm Siderius am Arm und zog ihn und das Kind, das er auf dem Arm trug, sanft zurück, während sie zu ihm aufsahen.

Xaith zog den Kopf ein, hob die Hand nach oben und bündelte seine Kräfte. Die Druckwelle warf nicht nur die Luke auf, sie war auch stark genug, mit einem lauten Knall die Trümmer hoch in die Luft zu schleudern und zu zersplittern. Ein Regen aus altem Holz ging auf die Überreste der Hütte nieder, feiner Staub verfing sich in Xaiths schwarzem Haar, als er hinauskletterte.

Er streckte sich wieder nach unten, packte Siderius` dünnen Arme und zog ihn hinauf, dann reichte er die Hand wieder nach unten, ohne vorher darüber nachzudenken. Als Jin einschlug, durchzuckte ihn die Erkenntnis, dass sie sich berührten. Jins Hände waren so zart und weich, eindeutig nicht die Haut eines Kämpfers.

Xaith zog ihn aus dem Loch, ließ ihn dann so abrupt los, dass er beinahe wieder hineingestolpert wäre, drehte sich schnell um und versuchte, Jin nicht noch mehr dafür zu hassen.

Konnte nicht irgendetwas an ihm nicht perfekt sein? Irgendetwas? Ein paar Schwielen an den Händen hätten ihm gutgetan.

Na toll, nun stellte er sich auch noch vor, wie diese sanften Hände über Vaaks´ Körper geglitten waren, und fragte sich, was Vaaks dabei gefühlt hatte. Waren Jins Berührungen besser als alle, die er mit Xaith geteilt hatte?

Jin und Siderius klopften sich den Staub von den Kleidern. Ein Rascheln erklang unerwartet laut im Gebüsch zu ihrer Rechten. Sie fuhren alle herum, waren noch zu angespannt, um Ruhe zu bewahren.

Xaiths schwarze Fingerspitzen prickelten heiß, es brauchte nur den Funken seines Willen, um die Flammen zu erschaffen. Kampfbereit starrte er auf das Gebüsch, auf die vielen zitternden Blätter.

Ein leises Wiehern begrüßte sie, fuchsrotes Fell schimmerte in der Sonne durch das Unterholz. Es knackte und krachte, als der Hengst hervor trabte und wild den Kopf hoch- und runterwarf. Die Ausrüstung, die auf seinem Rücken geladen war, hing schief und klapperte.

Xaith ließ die Schultern hängen und schloss die Hände zu Fäusten, um den Zauber zu ersticken.

»Ach jetzt kommst du zurück, wenn der ganze Ärger vorbei ist, ja?«

Baron hob den Kopf und wieherte erneut leise, gleichzeitig schlug er mit dem Vorderhuf auf den Boden, als wollte er tunlichst um Verzeihung bitten. Manieren hatte er.

»Hast dich wohl erinnert, wo es Futter gibt.«

Sein Hengst schnaubte ihm schwer entgegen, lügen lag ihm nicht im Blut.

»Treuloses Stück.« Xaith verdrehte die Augen, schüttelte den Kopf und drehte sich um. »Gehen wir.«

*~*~*

Kurze Zeit später gelangten sie an eine saubere Quelle, die aus einer überwucherten Felswand in ein kleines, natürliches Becken plätscherte. Es war nicht das erste Wasser, das ihnen nach dem Sturm begegnete, doch die erste Stelle, die nicht faulig roch. Xaith war mit strammem Gang vorausgeeilt, ließ keine Zeit für Gespräche, und auch sein abweisendes Gesicht zeigte eine deutliche Abneigung gegen jedwede Annäherung. Jin hatte sich ihnen ungefragt angeschlossen, so einfach würde er nicht umkehren. Er führte Baron am Zügel, währen Siderius den hungrigen und quengelnden Bengel schleppte. Viele brennende Fragen lagen auf Jins weichen Zügen und in seinen riesigen Augen, während er zwischen allen hin und her blickte, doch er hielt sich glücklicherweise zurück.

Bis sie anhielten.

Sie wuschen sich die Gesichter, Siderius säuberte und wickelte den Säugling im Schatten, Baron tunkte die Nüstern ins kristallklare Wasser, auf dem die Sonnenstrahlen glitzerten, die wie Speere durch die Baumkronen drangen.

Xaith schnickte die Feuchtigkeit von den Fingern und sah sich um. Es war still, der Himmel über dem Urwald war klar, weit und breit konnte er kein Raubtier ausmachen, nur die Vögel waren mutig zurückgekehrt und sangen. Affen, Katzen, Nager, Schlangen waren erstaunlich still, kein Brüllen, kein Fauchen, kein Rascheln oder Klappern im Unterholz oder über ihren Köpfen in den stark bewachsenen Ästen. Die Tiere verkrochen sich noch.

Kurz um, es war die beste Gelegenheit, zurück nach Nohva zureisen.

Nicht für ihn natürlich, aber für Jin.

Der Rotschopf stand neben Baron und streichelte liebevoll dessen samtigen Hals. Jins Gesicht war gesäubert, die ahornroten Haarspitzen schimmerten noch nass, glitzernde Tropfen hingen daran, wie Tau, der an einem Frühlingsmorgen von spitzen Grashalmen perlte, seine langen Wimpern waren verklebt. Er hatte seinen Umhang abgelegt und in sein Reisegepäck gestopft, das neben dem Hengst am Baum im Moos lag.

Als Xaith auf ihn zutrat, löste er sich von Baron und schob unsicher die Daumen hinten im Rücken in seinen Gürtel, er kam ihm entgegen. »Wer ist er?«, fragte er, bevor Xaith etwas sagen konnte, und nickte hinüber zu Siderius, der im Schneidersitz im Moos und Laub saß und das quiekende Kind am Bäuchlein kitzelte.

Der Junge spürte die Blicke, die flüchtig auf ihm ruhten, und schaute auf.

Xaith und Jin wandten sich wieder einander zu.

»Ein Straßenjunge.« Warum lügen? »Er… er ist mein …Diener.«

Jin wirkte besorgt. »Ist das so, ja? Und das Kind? Riaths gestohlener Bastard?«

Xaith zuckte mit den Achseln, es wunderte ihn nicht, dass Gerüchte im Umlauf waren, was die ganze Angelegenheit natürlich noch gefährlicher machte.

»Er ist … groß«, stellte Jin nachdenklich fest.

»Ja«, antwortete Xaith trocken, als wäre daran nichts ungewöhnlich.

Jins Blick gefiel Xaith überhaupt nicht. Zu wissend, zu eindringlich. Er wandte das Gesicht wieder ab und blickte stattdessen ziellos in die leuchtend grüne Wildnis, aus der hie und dort eine bunte Blüte hervorschaute. Auf den Bäumen wuchsen Orchideen, sie verströmten einen blassen Duft, den er mit seinem feinen Näschen dennoch deutlich wahrnehmen konnte. Sie vermischten sich mit feuchter Erde, Stein, Laub, Moos und Jins süßem, eigenem Körpergeruch, der nach Zuhause schmeckte.

»Ich habe Gerüchte über dich gehört. Sie behaupten von dir, du seiest ein Nekromant.« Jin sprach, als erwartete er einen Protest. »Das glaube ich aber nicht.«

»Ach nein?« Xaith betrachtete ihn vernichtend. »Und wenn du dich irrst, könnte es dein letzter Irrtum gewesen sein.«

»Tu nicht so, als müsste ich dich fürchten.«

Wie gern er ihm das Gegenteil bewiesen hätte, doch Xaith rührte sich nicht. Wieder lieferten sie sich ein Blickduell.

Jin legte schließlich mit sanfterem Blick flehend den Kopf schief. »Komm nach Hause, Xaith.«

»Damit sie mich anklagen können?«

»Damit sie sehen, dass alles Lügen sind.«

»Das stimmt aber nicht, es sind nicht alles Lügen, Jin.«

»Aber nichts ist so, wie sie denken, das weiß ich, weil ich dich kenne!« Jin schüttelte bedauernd den Kopf. »Du musst nach Hause gehen, du wirst gebraucht, du…«

»Du musst gehen«, schnitt Xaith ihm das Wort ab und sah ihn ernst an. »Das ist keine Bitte, Fenjin! Hier trennen sich unsere Wege. Keine Diskussion.«

Jin öffnete den Mund, schüttelte irritiert den Kopf. »Xaith, du weißt nicht, wie es in Nohva aussieht, du…«

»Ich weiß es und deshalb gehst du jetzt nach Hause und hältst mich nicht weiter auf«, erwiderte er unnachgiebig. »Du bist allein hierhergekommen, ich bin sicher, du findest von hier auch allein zurück.«

Doch Jin rührte sich nicht vom Fleck, er sah mit einer Mischung aus Bedauern und Flehen zu Xaith auf, wieder schüttelte er den Kopf, langsam dieses Mal, als versuchte er vergebens, ihn zu verstehen. »Das ist Wahnsinn und das weißt du, Xaith. Du kannst die Toten nicht zurückholen.«

Die Worte kamen so unerwartet, dass sie wie ein Pfeil in seine Brust einschlugen und ihn beinahe taumeln ließen. Unwillkürlich senkte Xaith den Blick, fühlte sich wie in die Magengrube geschlagen, sein Herz pumpte nicht mehr richtig das Blut durch seine Venen, es steckte ein Dolch darin. Seit acht verfluchten Jahren. Er wollte brüllen, die ganze Zeit, schlicht und ergreifend brüllen, bis ihm Brust und Schädel zerbarsten und der Druck in seinem Inneren, das Chaos, der Schmerz einfach verklangen.

Jin trat auf ihn zu, packte ihn ungefragt an den Schultern und rüttelte ihn sanft, als wollte er einen Wahnsinnigen zur Vernunft bringen. Vielleicht war dem auch so, vielleicht war er wirklich wahnsinnig, aber wen kümmerte das jetzt noch?

»Lass ab von diesem Plan!«, flehte Jin inständig. »Während du einem Hirngespinst nachrennst, wirst du zu Hause gebraucht! Du bist ein Prinz Nohvas, ein Sohn des Blutdrachen, wir brauchen dich! Wexmell braucht dich. Komm heim!«

Xaith schnaubte über ihn, gab Jins Brust einen sachten Stoß und sah zu, wie er zurücktaumelte. »Du bist so melodramatisch. Niemand braucht mich, ich wäre nur ein weiteres Risiko für Wexmells Herrschaft, ein weiteres schwarzes Schaf der M`Shiers.«

Es stand Unverständnis in Jins Blick, ebenso Verzweiflung. »Wir trauern alle, Xaith.«

Das war zu viel, er wandte sich ab. Der Kloß in seinem Hals drohte ihn zu ersticken.

»Jeder von uns begräbt irgendwann seine Eltern, so ist der Lauf der Dinge, du musst dich damit abfinden und deine Trauer bewältigen« - Jin eilte ihm auf dem Fuße nach - »und endlich aufhören, vor allem davonzulaufen! Lass dich von anderen trösten!«

»Was weißt du schon von Trauer?«, sagte er erbost über die Schulter. Wo wollte er eigentlich hin? Er wusste es nicht, nur fort von diesem Mann.

»Siehst du, du läufst schon wieder davon!«

Was für ein nervtötender Klugscheißer er doch geworden war. »Lass es endlich gut sein.«

»Nein!«

»Lass mich in Ruhe!«

»Das ist das Problem, alle lassen dich immer nur in Ruhe. Aber ich werde nicht zusehen, wie du wieder wegläufst! Du musst dich dem Schmerz stellen! Du bist damit nicht allein!«

Xaith ging einfach weiter, jedes weitere Wort hätte den Rotschopf nur noch mehr angespornt, auf ihn einzureden.

»Mein Vater ist auch tot, Xaith.«, verkündete Jin schließlich.

Xaith stolperte beinahe über seine eigenen Füße, blieb wie angewurzelt stehen, drehte sich aber nicht um. In seinem Kopf herrschte plötzlich Leere.

Jin ließ hörbar die Arme fallen, seine Stimme wurde milder. »Er starb bei einem Aufstand, als Hexenjäger die Festungsstadt stürmten. Sie… haben das Königliche Kontor überfallen, nachdem Wexmell die Hinrichtung einer Hexe vereitelt hat. Mein Vater hat versucht, sie aufzuhalten, aber er war kein Kämpfer. Sie haben ihn ermordet.«

Es ist mir egal, sagte Xaith sich vor. Aber nein, das war es nicht, es wollte ihm egal sein, aber er spürte unwillkürlich Mitgefühl und Bedauern, auch wenn Jins Vaters nie auch nur ein Wort mit ihm gewechselt hatte, ihn sogar immer mit angstgeweiteten Augen angestarrt hatte, vor allem nach dem Vorfall mit seiner Mutter. Doch er war der Krone ein guter, treuer Mann gewesen, Xaiths Väter hatten ihn geschätzt.

Außerdem… wusste er, was Jin durchmachte.

Xaith ballten nervös die Hände zu Fäusten, ließ wieder locker, ballte sie wieder.

»Es herrscht Krieg zwischen Magiern und Hexenjägern, Xaith. Und du bist ein Magier!«

»Es ist trotzdem nicht mein Krieg«, konterte er, denn er wollte nichts damit zu tun haben. Es war eine Sache, für sich selbst zu kämpfen, wenn man es musste, eine andere, mit Kriegern in eine Schlacht zu ziehen oder auf einem Pferd zu sitzen und zuzusehen, wie andere für einen starben.

Das Letzte, was er wollte, war in einem Krieg zu kämpfen.

Jin trat auf ihn zu, seine ruhige Präsenz kam vorsichtig näher. »Ich weiß, dass es schwer ist, ich weiß, wie sehr es schmerzt, wie allein und wie haltlos du dich fühlst. Gerade du, der dem Vater so nahestand. Er war alles, was du hattest. Aber du bist trotzdem sein Sohn, auch wenn er tot ist. Du bist ein Sohn Nohvas, ein Prinz Nohvas, und ein Magier. Es ist dein Krieg.«

Xaith schloss die Augen, kämpfte gegen seine Gefühle an. Bloß nicht auf dieses schwarze, tiefe Loch einlassen, das ihn von innen heraus zu verschlingen drohte.

»Er hat dich geliebt, Xaith, glaubst du wirklich, er wollte, dass du dein Leben vergeudest, indem du versuchst, ihm seinen Frieden zu stehlen?«

Xaith fuhr zu ihm herum, das Herz in der Brust schlug wild und sein Gesicht war eisig. »Rührende Geschichte, Jin.« Jin wich verwundert zurück. »Aber was mit deinem Vater geschehen ist, ist nur ein weiterer Grund für mich, das hier zu Ende zu bringen«, erklärte er entschlossen. »Mein Vater muss das ganze Chaos wieder richten.«

Ihm antwortete eine gerunzelte Stirn, die von Bedauern zeugte.

Xaith wandte sich ab. »Geh jetzt nach Hause, Jin.«

So leicht würde er sich nicht manipulieren lassen. Er wusste, dass er für verrückt gehalten wurde, er wusste um die Angst, die seine Forschungen in Nohva verursacht hatten, aber auch wenn sich die ganze Welt fürchtete und auch, wenn alle glaubten, er folgte einem Hirngespinst und experimentiere mit dämonischen Zaubern, er würde es schaffen! Und dann, da war er sicher, würde alles wieder gut werden.

Ja, genau das würde es, sein Vater würde alles wieder in Ordnung bringen. Nur er konnte das Chaos, das sein Tod verursachte, wieder richten.

König Desiderius musste wiederkehren, zu jedem erdenklichen Preis!

Er würde es ihnen beweisen, er würde keinen Untoten erschaffen, er würde seinen Vater wieder lebendig machen. Er musste, er musste einfach…

»Vaaks ist verschwunden.«

Ein zweites Mal brachte Jin ihn zum Stolpern, dieses Mal verursachte er zusätzlich noch ein Rauschen in Xaiths Ohren.

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