Loe raamatut: «Geliebtes Carapuhr», lehekülg 13

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»Interessant.« Wirklich höchst interessant.

Kapitel 17

Es regnete noch immer. In den letzten drei Tagen war die heiße Sonne über Elkanasai vielleicht nur für wenige Augenblicke am Stück durch die tiefhängenden Wolken gebrochen. Drei Tage strömender Regen, Dampf, Dunst, Schwüle, Schlammmassen. Und Desith hing noch immer am Pfahl, kniete im sumpfigen Matsch und in seiner eigenen Scheiße und Pisse.

Doch er flehte nicht um Gnade, noch um Wasser oder ein Stück Brot. Er legte den Kopf in den Nacken und streckte die Zunge heraus, wenn er durstig war, ansonsten rührte er sich kaum.

Wie stur dieser magere Winzling doch sein konnte.

Seufzend lehnte Vynsu sich unter einem Zelt an einen Pfosten und blickte durch den grauen Regenvorhang über den wie leergefegten Platz. Desith blieb unbehelligt, dafür hatte er persönlich gesorgt. Auch wenn die Menschen es kaum hatten erwarten können, ihn mit faulem Obst zu bewerfen, und die Krieger, die ihn nicht hatten besiegen können, darauf gewartet hatten, ihm ins Gesicht zu pissen. Ihnen war ihr Verhalten nicht übel zu nehmen, welche Unterhaltung bot sich ihnen außer saufen, ficken und sich am Leid anderer zu laben denn sonst? Aber Vynsu hatte jedem einzelnen deutlich zu verstehen gegeben, dass sie Desith – auch wenn er bestraft wurde – mit dem höchsten Respekt behandeln würden. Immerhin war und blieb er ein Prinz von Rechtswegen. Er hatte sie daran erinnert, wie das Kaisersöhnchen gekämpft hatte. Hatte allen ins Gedächtnis gerufen, dass dieser dürre, kleine Kerl vier fette Barbaren in Schach gehalten hatte. Das verdiente den größten Respekt, dieses Zugeständnis mussten sie alle machen.

Und mit jedem Tag, den Desith ohne einen Mucks im Regen saß, trotzig und stark, je mehr Verwunderung und Achtung schlug ihm entgegen. Es hatten schon viele Männer an Prangern gestanden, waren vom Großkönig wie Vieh ausgestellt worden, viel ältere und größere Männer als Desith, die viele Schlachten und Handgemenge gewonnen hatten, aber bereits nach einer Nacht angebunden auf dem Marktplatz, weinten und jammerten sie wie Schlosshunde.

Desith schwieg eisern.

Auch Vynsu musste zugeben, dass er beeindruckt war. Allerdings hatte er Desith noch nie für einen Schwächling gehalten, oder gar feige. Aufmüpfig, gewiss, stur und manchmal arrogant, und hin und wieder hatte er die Stärke seiner schlanken Arme unterschätzt – und es immer wieder bereut – doch für einen weinerlichen Burschen hatte er ihn nie gehalten.

Weil er das einfach nicht war.

Jori trat neben ihn und reichte ihm einen der beiden Becher, die er herantrug. Vynsu nahm den Met blind an sich und trank einen Schluck.

»Feuriges Kerlchen.«

Vynsu starrte lippenleckend in sein Getränk. »Hm.«

Forschend sah Jori ihn an. »Einige böse Zungen behaupten, du bewachst ihn wie eine Löwin ihr Junges. Und man hört, es gefällt dem Großkönig nicht, dass du dich einmischst.«

»Ist das so?«, gab er trocken zurück und drehte nachdenklich den Becher in den Fingern.

»Weißt du, was ich glaube?«

»Ich kann vieles, Jori, aber Gedanken lesen gehört nicht dazu.«

Jori setzte diese Miene auf, die er immer bekam, wenn er jemandem vorsichtig ins Gewissen reden wollte. »Ich denke, dass du versuchst, eine Sache wieder gut zu machen, die gar nicht deine Schuld war.«

Vynsu schwieg.

»Er ist der Bruder deiner Frau, aber er ist nicht dein Gemahl, du schuldest ihm nichts und solltest dich wegen ihm nicht mit Melecay anlegen.«

Erstaunlich, dachte Vynsu bei sich, dass Jori geradezu riechen konnte, wenn jemand in seiner Nähe etwas ausgefressen hatte oder im Begriff war, etwas wirklich Dämliches zu tun. Leise lachend nahm Vynsu noch einen Schluck, genoss das wohltuende Gefühl der Flüssigkeit, die seine Kehle anfeuchtete. »Du bist die Löwin, Jori, die spürt, wenn ihre Jungen auf einen Abgrund zulaufen.«

»Komm«, Jori schlug ihm mit dem Handrücken gegen den Arm, »lass uns reingehen, ja?«

»Ja, gleich«, versprach er.

Nickend wandte sein Freund sich ab und schlenderte zurück zum Tisch, der sich hinter Vynsus Rücken im warmen und trockenen Zelt befand. Seine Kameraden spielten Würfelpoker und setzten ihren letzten Sold. Das erinnerte ihn daran, was er der Gruppe für die Zeit im Dschungel schuldete. Denn auch wenn er sie als Freunde bezeichnete, er hatte ihnen ein hohes Sümmchen versprochen und die Gruppe musste essen. Sie waren, sind und würden immer Söldner bleiben. Er schuldete es ihnen. Und er hielt immer sein Wort.

Immer…

Vynsu hob den Blick und sah noch ein letztes Mal zu Desith. Das lange Haar triefte und lag wie ein Helm um seinen Kopf, die feuerroten Strähnen klebten in seinem Gesicht und schimmerten wie frische Kratzer, das Hemd stand offen und der weiße Stoff war von der Nässe durchsichtig geworden, es lag hauteng an Desiths flacher Brust und Bauch, sodass die Brustwarzen hart und rosig hervorschimmerten. Ein Rinnsal klarer Regen floss über seinen Bauch und durch den Nabel wie ein Fluss auf einer unberührten Landschaft.

Unberührt? Wohl kaum, dachte Vynsu amüsiert.

Kopfschüttelnd setzte er den Becher an die Lippen, trank seinen Met aus und wandte sich ab.

*~*~*

Nacht. Schon wieder. Die dritte seither. Nein! Falsch. Es war die vierte Nacht. Oder doch die fünfte?

Desiths Vorsatz, bei klarem Verstand zu bleiben, schwand mit zunehmendem Hunger und Durst.

Sein Nacken tat davon weh, dass er immer wieder verzweifelt den Kopf zurücklehnte und das Maul aufsperrte, um einen Schluck Regenwasser zu sammeln.

Aber noch war er nicht am Ende seiner Kräfte und ganz gleich wie oft der Großkönig vorbei schlenderte und ihm die süße Aussicht auf Erlösung bot, indem er der Ehe mit Derrick ohne Wenn und Aber zustimmte, er würde nicht einknicken.

Melecay hatte gesagt, er würde ihm nicht die Wahl lassen, auch nicht die Wahl, zu sterben. Aber er konnte ihn auch nicht zwingen, dieser Vermählung beizuwohnen. Er müsste ihm schon ein Schwert in den Rücken drücken, um ihn dazu zu bewegen. Und selbst dann würde Desith sich lieber selbst aufspießen.

Vielleicht… hätte er zugestimmt. Vielleicht, wenn es eine Aussicht darauf gäbe, dass Rick ihn noch erkennt, oder er sich hier und jetzt zurück in einen Menschen verwandeln…

Nein. Desith machte sich etwas vor. Er konnte Rick nicht heiraten, selbst wenn sein kleines, naives Herz noch immer an ihm hing. Er konnte Rick nicht mehr in die Augen sehen und vergessen, dass er ihn für Sarsar mitten im Dschungel hatte stehen lassen.

Das konnte Desith nicht verzeihen, es nicht ertragen. Nach all den Jahren, die er Rick seine Treue, seine uneingeschränkte Loyalität geschenkt hatte, hatte dieser ihn für Sarsar verraten.

Desith konnte es einfach nicht vergessen, selbst wenn er gewollt hätte.

Also blieb ihm nichts anderes übrig, als weiterhin schweigend im Regen zu sitzen und sich selbst anzupissen, während sein knurrender Magen ihn morgens weckte.

Irgendwann würde sein Vater Fragen stellen. Ganz bestimmt würde er das. Vielleicht nicht Morgen oder Übermorgen, doch auch wenn Desith mit seinem Vater oft im Streit gelegen hatte, der Kaiser würde ihn nach sieben Jahren im Dschungel gewiss bald sehen wollen.

Der Großkönig musste das wissen, sonst würde er ihn nicht so sehr bedrängen. Vielleicht würde er bald dazu übergehen, ihn zu foltern. Dann wäre er aber wenigstens aus dem Regen draußen.

Obwohl der Guss jedes Mal warm war, durch die Nässe fing Desith an zu frieren und infolgedessen auch erbärmlich zu zittern. Tagsüber spürte er die Blicke der Menschen, die im Lager umherliefen und ihrem Tagwerk nachgingen. Wachen wetteten darauf, wie lange er durchhielt. Aber jeden Morgen, wenn der verdammte Hahn krähte und Desith noch immer nicht weinend zusammenbrach, spürte er, wie ihn neugierige Augen streiften. Wie aus Abneigung, Achtung wurde.

Und es war ein gutes Gefühl, dass sein eiserner Wille Früchte trug. Jedoch musste er gestehen, dass er die Furcht, die ihm an dem Tag entgegengebracht worden war, als er gegen die Barbaren des Großkönigs gekämpft hatte, mehr genossen hatte.

Gefürchtet zu werden war wie auf einem Berg zu stehen und über alle Völker der Welt zu blicken, erhaben zu sein, stark zu sein. Nie hatte er sich so lebendig gefühlt wie in jenem Augenblick, nie so groß, als sie erstarrt vor Angst waren, nur weil sie ihn für einen bösen Geist oder von einem Dämon besessen hielten. Er hatte sich gefühlt wie der Drache selbst, der ihm solche Furcht einflößte.

Desith hatte es geschafft, Derrick nicht anzusehen. Das Vieh schnarchte den ganzen Tag und die ganze Nacht, verweigerte die Nahrungsaufnahme und bevorzugte es, in der Nähe von Menschen bedrohlich zu grollen.

Trotz all der Bewegungen und Geräusche, die Desith aus dieser Richtung wahrnahm, war es ihm gelungen, nicht einen einzigen Blick in das offene Zelt zu richten. Es hatte ihn einiges an Willenskraft gekostet, aber ihm gezeigt, wie stark er sein kann.

Und er glaubte, dass auch Derrick ihn niemals ansah. Nicht für einen winzigen Herzschlag lang. Er hätte es gespürt, wäre es so gewesen. Wären diese großen, wütenden Echsenaugen über ihn geglitten, hätte er wie immer eine eiskalte Gänsehaut verspürt. Doch Rick beachtete ihn nicht, als würde er gar nicht mehr existieren.

Desith hätte weinen mögen, doch er schalt sich einen naiven Dummkopf. Er würde keine einzige Träne an jemanden vergießen, dem er nichts mehr bedeutete. Dazu war er sich selbst zu schade. Außerdem… Rick war es gewesen, der zuerst ihn gewollt hatte. Rick war es gewesen, der zuerst tiefere Gefühle gehegt und versucht hatte, ihn zu küssen, damals, als er noch klein gewesen und nur einen neuen, exotischen Freund hatte gewinnen wollen. Es war immer zuerst von Derrick ausgegangen. Desith brauchte ihn nicht. Er hatte vor Rick ein Leben gehabt, ein kurzes und behütetes Leben, aber er wusste, dass es nach Derrick ebenso ein Leben gab.

Er musste nur irgendwie dem Großkönig und seinen wahnwitzigen Plänen entkommen. Dann würde er schon herausfinden, was die Zukunft für ihn bereithielt. Der Bruch mit Derrick bedeutete nicht das Ende von allem, so war Desith nicht gestrickt.

Und irgendwann würde auch die Erinnerung an Derrick verblassen und es würde ihm vorkommen wie der dumme Traum eines verliebten Jungen. Aber eben nur wie ein Traum.

Ironischerweise konnte er gerade aber nur darauf hoffen, dass ihm sein Vater, vor dem er sich vor Jahren losgesagt hatte, den Kopf rettete. Oder vielleicht war es in diesem Fall passender zu sagen, dass er ihm den Arsch retten musste.

Ein schwarzes Paar Stiefel trat in sein Blickfeld. Verwundert sah er auf. Der Regen hatte so plötzlich aufgehört, wie er angefangen hatte, doch der Nachthimmel war noch verhangen, grau und dunkel.

»Wen haben wir denn da?« Desith erkannte ihn trotz Nachtschwärze im Schein der Fackeln, die in Derricks Zelt vor sich hin flackerten und einen Lichtkegel auf ihn warfen. Die Statur des Mannes ließ einen Schatten über Desiths noch tropfnasses Gesicht fallen. »Da soll mich doch der Schwanz des Kriegsvaters durchbohren, wenn das nicht des Großkönigs Schoßhündchen ist.«

Vynsus hartes Gesicht zeigte keinerlei Rührung, die Schnitte, die Desith ihm zugefügt hatte waren bereits verschorft.

»Oh, oder sagt man Schwert? Verzeih, ich denke wohl noch zu prägnant über unsere heiße Liebesnacht nach.« Er wusste, dass Vynsu nur bei Weibern lag und er hoffte, seine Worte würden ihn in mitten seines stolzen Herzens treffen. Falls er denn überhaupt noch einen Funken Stolz in sich trug, dieser elende Lügner.

»Heiß, ja«, konterte Vynsu trocken, »von Liebe kann allerdings keine Rede sein.«

Desith zog knurrend die Lippen hoch. »Was willst du? War dir kalt in deinem Bett und du hast gehofft, ich könnte mich nicht wehren?«

Gelassen hob Vynsu den linken Arm ein wenig an, sodass Desith die Holzschale auffiel, die er bei sich trug. Sie dampfte, und ihm zog der köstliche Geruch einer warmen Brühe in die Nase, die ihm den Speichel im Mund zusammenlaufen ließ.

Desith wackelte mit den Fingern, seine geschundenen Handgelenke schmerzten. »Und wie denkst du, soll ich essen?«

Mit einem Grummeln ging Vynsu vor ihm in die Hocke. Das Klimpern seiner Riemen lenkte Desiths Aufmerksamkeit auf seine Aufmachung. Er trug seine volle Lederrüstung, trotz Schwüle, samt bodenlangem, schwarzem Umhang und mit Schuppenplatten versehener Schulterpanzerung. Sein Harnisch saß eng und umschmeichelte seine hünenhafte Statur. Desith konnte noch so nass und gedemütigt sein und noch so starke Schmerzen empfinden, er würde immer ein Auge für solch rohe Schönheit haben. Immer. Vor allem wenn er sich noch so lebendig daran erinnern konnte, sie nackt zu spüren, als hätte er seine streichelnde Hand erst vor einem Moment zurückgezogen.

»Ich helfe dir selbstverständlich«, erwiderte Vynsu. Wenn ihm Desiths Musterung aufgefallen war, so ließ er sich nichts anmerken oder sie war ihm schlicht gleich.

Das ärgerte Desith wiederrum, er hasste die Vorstellung, etwas zu begehren, das ihn nicht begehrte, obwohl er Vynsu wie einen Wilden geritten und ihm Wonne geschenkt hatte.

Er presste die Lippen zusammen, als Vynsu ihm den Rand der Schale an den Mund hob.

Genervt ließ der Barbar die schönen Schultern hängen. »Sei nicht dumm, Desith, du brauchst Kraft.«

Das stimmte leider, also atmete er tief durch und öffnete ohne Widerstand die Lippen.

Die Brühe war köstlich, würzig und wahrlich kräftigend. Sie wärmte ihn von innen heraus, sobald er den ersten Schluck genommen hatte. Etwas gegartes Gemüse war darin, Kartoffelscheiben und Lauch, er kaute darauf herum, schlang gierig alles herunter. Dabei sah Vynsu ihm zufrieden zu, blickte sich aber hin und wieder nervös nach allen Seiten um, als lauerten neugierige Augen in der Dunkelheit.

»Du hast sie selbst gekocht«, stellte Desith fest, als Vynsu die Schale senkte.

Stirnrunzelnd blickte dieser ihm ins Gesicht. »Wie kommst du darauf?«

Desith leckte sich grinsend die Brühe von den glänzenden Lippen. »Die Suppe, die du mir im Dschungel gereicht hast, hatte eine besondere Note. Deine Mutter kocht sie ein wenig anders. Du musst sie also selbst gekocht haben, auch heute, denn nur du tust irgendein Kraut hinzu. Das schmeckt mir besser.«

»Oh. Hm. Na ja… irgendwas musst du ja essen, oder nicht?« Vynsu wich vor plötzlicher Verlegenheit seinem Blick aus und räusperte sich unbehaglich.

Das war beinahe niedlich, für einen so großen Mann. Vynsu mimte also gern den Versorger, aber so leicht ließ Desith sich nicht erweichen. So einfach war er nicht zu besänftigen.

Er setzte eine unfreundliche Miene auf. »Glaub ja nicht, nur weil du für mich den Koch spielst und mich heimlich fütterst, würde ich deinen Verrat verzeihen. Da musst du schon mehr aufbieten.«

Stumm sah Vynsu ihm wieder in die Augen. Er kniete mit einem Bein im Matsch, das andere hatte er aufgestellt und locker seinen Arm darauf liegen, sein Barbarenzopf lag lang und dick über seiner Schulter vorne auf seiner Brust und lud regelrecht frech dazu ein, ihn zu ergreifen und ihn sich um den Arm zu wickeln, um Vynsu an sich heran zu ziehen.

»Wenn ich vergessen soll, dass du ein Versprechen an mich gebrochen hast…«

Vynsu petzte sich mit zwei Fingern ins Nasenbein. »Desith, ich…«

»Dann«, betonte Desith schneidend, und Vynsu blickte ihm wieder ins Gesicht, »solltest du hier und jetzt auf alle viere gehen, mein Großer, und mir genau hier, vor Derrick, unter dem Sternenzelt Elkanasais und vor allen neugierigen Augen, die zufällig hier vorbeikommen, mit deiner hübschen Zunge die Härte polieren.« Er lachte schmutzig in Vynsus vollkommen unbewegtes Gesicht, das lediglich gelangweilt abzuwarten schien. »Aber auch nur dann vergebe ich dir vielleicht, dass du mich reingelegt hast.«

Es verstrich ein langer Augenblick des Schweigens nach seinem schamlosen Vortrag. Sie starrten sich an, Desith hatte sich Vynsu entgegen gelehnt und ihre Blicke bohrten sich ineinander, einer unnachgiebiger als der andere. Zwei Wände, die sich gegenüberstanden.

»Bist du fertig mit dem Narrentheater?«, fragte Vynsu schließlich ruhig.

Desith atmete herablassend aus und lehnte sich wieder an den Pfosten in seinem Rücken. Die Haltung schmerzte in jedem einzelnen Wirbel, seine Glieder waren steif. Er antwortete nicht, wollte nur, dass dieser Verräter endlich verschwand. So schön anzusehen er auch war.

»Ich bin kein Mann von Ehre«, sagte Vynsu, ohne Reue, ohne Entschuldigung. »Ich bin aber auch kein Mann, der ohne Sinn und Verstand die Hand nach einer blutigen Korne ausstreckt.«

Verwirrung schlug Stirnfalten in Desiths Gesicht, aber er wartete neugierig ab.

»Das soll heißen, dass ich sehr wohl darüber nachgedacht habe, mein Recht einzufordern, immerhin bin ich der einzige Blutsverwandte meines Onkels. Aber ich hätte mich gegen seinen Willen stellen und Krieg führen müssen, vermutlich sogar gegen Derrick antreten müssen. Es hätte meinem Vater das Herz gebrochen, es hätte meine Mutter von mir enttäuscht, und nicht zuletzt hätte es das Leben meiner Kinder – deiner Nichte und deines Neffen – in Gefahr gebracht. Und ja, ich hab beschissen viel Angst vor meinem Onkel, so wie vermutlich viele andere auch. Angst zu haben ist nicht beschämend, sie ist wichtig, um zu überleben. Nur ein Einfältiger würde sich nicht fürchten, sich gegen den Willen seines Königs aufzulehnen. Und nein, es kümmert mich nicht, ob du mich für feige oder für einen Schoßhund hältst, denn ich lebe noch, weil ich ein Einsehen hatte und mich zurückhielt.« Er atmete schwer aus, und Desith kam es auf einmal so vor, als läge die Last der Welt auf ihm. Irgendwie hatte er sogar einen Hauch Mitleid. Dann stand Vynsu schwerfällig auf und zog sein Schwert.

Desiths Augen weiteten sich ein kleinwenig, er schluckte leise.

»Aber der Allvater soll mich bewahren, deinetwegen halte ich den Kopf hin, weil ich schlicht kein Mann sein will, der sein Versprechen nicht hält.«

Desith schluckte einen Aufschrei herunter, als Vynsu seine Klinge plötzlich schwang und mit einem kräftigen Ruck auf den Pfahl einschlug. Die Ketten klirrten und Desith verlor seinen Halt, er kippte vorne über und versank bis zu den geschundenen Handgelenken im Matsch. Die Silberringe funkelten noch im Mondlicht, das sich in diesem Moment einen Weg durch die Wolken bahnte.

»Beeilung«, flüsterte Vynsu und packte ihn unter einem Arm, um ihn aus dem Schlamm und auf die Beine zu ziehen. »Ich habe zwar ein paar Krieger bestochen, die Wache halten, aber das haben bestimmt noch mehr hellhörige Ohren gehört.«

Desith starrte noch immer wie benommen auf seine Hände. »Aber… wie…«

»Silberketten.« Vynsu drückte ihn an seine Seite, verhüllte ihn mit seinem Umhang und zog ihn eilig vom Platz zwischen die engen Zeltreihen, wo die Dunkelheit sie verschluckte. »Sie mögen eine Hexe fesseln, aber kein Schwert aufhalten. Silber ist zu weich.«

Desith stolperte neben ihm her, er versuchte, zu laufen, aber Vynsu hatte es zu eilig, und so fiel es ihm schwer, sein Gleichgewicht zu finden. Er musste sich an Vynsus Gürtel festkrallen. »Nein, ich meine, wieso hast du das getan…?«

»Habe ich doch gesagt, ich hab versprochen, ich bringe dich heim, also bringe ich dich heim.«

»Ja, aber…« Desith wusste nicht, wo ihm der Kopf stand. »Ich weiß nicht, ob mir das gefällt.«

Denn jetzt hatte er zwar, was er wollte, aber er würde auch in Vynsus Schuld stehen.

*~*~*

»Ruhig, ich bin es nur.« Er ging durch die Reihe der Pferde und klopfte jedem einzelnen beruhigend auf die Stirn. Dann entzündete er die erloschenen Fackeln neu an und tauchte seinen vom Met benebelten Kopf in ein vom Regen überlaufendes Fass mit kaltem Wasser. Die Nässe tat gut und klärte ein wenig seinen Verstand.

Es war spät. So spät, dass es beinahe schon wieder Morgen war, aber wie üblich wollte sich kein Schlaf bei ihm einstellen, die Hitze hatte ihn nach wenigen Stunden wieder aus den Laken getrieben, und nun suchte Jori ein paar kleine Arbeiten zum Zeitvertreib bei den Pferden. Die großen und sanften Huftiere strahlten eine bemerkenswerte Ruhe auf ihn aus, vor allem wenn er ihrem lauten Kauen lauschte, nachdem er sie mit einer Handvoll Heu gefüttert hatte.

Hekkilston schabte wie üblich mit dem Vorderhuf, seine Muskeln zuckten und er schnaubte nervös. Jori klopfte ihm die Flanke ab und griff zu einer Bürste. Das ließ den Hengst wieder ruhiger werden.

»Der Prinz wird bald aufwachen und dann verdonnere ich ihn zu einem Ausritt mit dir, Hekkli«, flüsterte er dem Rotfuchs zu. »Er hat im Moment andere Sorgen, verzeih es ihm.«

Vynsu bereitete ihm Kopfzerbrechen. Bereits in dem Moment, als er den jungen Prinzen im Schweinedreck mit gebrochener Nase und aufgeplatzter Lippe gefunden hatte, hatte er gespürt, dass sich Vynsu an einem Scheideweg befand, und sein Helfersyndrom hatte sich gemeldet. Natürlich war ihm sofort aufgefallen, wen er da aufgegabelt hatte, Vynsus Verschwinden war in dem Moment in aller Munde, als er nicht mehr an Melecays Hof zu finden gewesen war. Rurik und Vala hatten ihn liegen lassen wollen, aber Jori hatte nicht auf sie gehört. Deshalb nannten sie ihn auch einen liebenswerten Trottel. Einen Weichling. Aber es konnte schließlich nicht schaden, sich einen Prinzen zum Freund zu machen, auch wenn dieser ein Ausreißer war.

Außerdem hatte Jori Mitleid gehabt mit diesen leeren, traurigen Augen. Wie ein Hengst, der durch das Gatter gebrochen war und nach dem ersten Raubtierangriff wünschte, er stünde wieder auf der Weide.

Und Jori hatte sich nicht getäuscht, er täuschte sich selten in Menschen. Vynsu war kein schlechter Kerl, das hatte sich bereits am dritten Tag gezeigt, als er ihnen, ohne einen Anteil zu erwarten, bei einem Söldnerauftrag geholfen hatte, der ohne sein kämpferisches Geschick mächtig schiefgelaufen wäre. Sie hatten eine Kutsche mit teuren Waren eskortiert. Allein die Zugpferde waren so viel wert gewesen, dass es Wegelagerer angezogen hatte wie frischer Dung die Fliegen. Der Prinz hatte ihm das Leben gerettet. Vynsus Fertigkeiten mit dem Schwert und sein Verzicht auf die Belohnung hatten ihm auch Valas und Ruriks Achtung eingetragen. Es war leicht gewesen, sich anzufreunden, Vynsu war nicht so herablassend und aufbrausend, wie sie es vom Hörensagen erwartet hätten. Im Gegenteil, Vynsu war zurückhaltend und vorsichtig gewesen, aber ebenso dankbar, dass er bei ihnen sein durfte. Es war ihm nicht schwergefallen, sich unterzuordnen, Befehle anzunehmen. Seine Vorschläge waren immer nur Vorschläge gewesen, er hatte sich eingegliedert, vom ersten Tag an. Vala hatte sogar verworfen, ihn gefangen zu nehmen und Lösegeld zu verlangen.

Jedenfalls bereute Jori es nicht, sich entschlossen zu haben, Vynsu schließlich in den Dschungel zu folgen, er für sich genommen war der Ansicht, dass in Vynsu ein gutes Herz schlug, er hatte es gesehen, in den kurzen Wochen, die sie zusammen geritten waren. Vynsu wäre kein so schlechter Nachfolger für den Großkönig. Und die zwei Jahre im Dschungel hatten es bewiesen. Während Melecay bereit war, jeden Preis zu zahlen, um Derrick zu finden, hatte Vynsu immer darauf geachtet, niemanden in Gefahr zu bringen. Er kümmerte sich um seine Leute.

Freundschaft. Vynsu wusste, was das war.

Aber Jori sorgte sich nun wegen Vynsus vermeintlicher Schuld gegenüber Desith Airynn von Elkanasai. Auch wenn er der Bruder von Prinzessin Lohna war, konnte Jori nicht nachvollziehen, was dessen Schicksal mit seinem Freund Vynsu zu tun hatte. Er konnte nicht genau benennen, was es war, aber ein drückendes Bauchgefühl sagte ihm, dass Desith Ärger bedeutete.

Jori musste über sich selbst schnauben. Er war bestimmt der letzte Mann, der Vynsu einen Vorwurf machen konnte, er selbst nahm immer wieder verlorene Seelen unter seine Fittiche, die geradezu nach Ärger stanken.

Bragi war einer davon. Bragi, den er kennen lernte, als er ihm den Münzbeutel vom Gürtel hatte schneiden wollen, und den Jori mitten in der Schenke gepackt, auf den Tisch geschleudert und ein Messer an die Kehle gehalten hatte. Dieser dreiste Dieb, der ihm auch noch frech ins Gesicht gegrinst und ohne jede Scham gesagt hatte: »Hätte ich doch nur zuerst dein Gesicht angesehen, bevor mir dein praller Beutel auffiel, hätte ich mir die Münzen heute Nacht auch einfach bei dir verdienen können, mein Schöner.« Dabei hatte er das Becken emporgehoben, und Jori war vor Verlegenheit fast im Boden versunken.

Es war das erste Mal in seinem Leben gewesen, dass ihm jemand seine Aufwartungen machte, falls er das in Bezug auf Bragi überhaupt so nennen konnte. Denn Bragi… nun ja, Bragi war eben Bragi, der sich vermutlich auch an einem Hund gerieben hätte.

Jori kannte das allerdings nicht, er war als einfacher Bauernjunge aufgewachsen, pickelig und pummelig, der in seinem Leben noch nicht ein einziges Kompliment gehört und von seinem versoffenen Vater immer ziemlich runter gemacht worden war. Jedenfalls hatte er, seit seine Gemahlin, die zu einer Ehe mit ihm im Alter von dreizehn Wintern gezwungen worden war, und die nur vier Jahre später mit einem Schweinehirten und den Kindern das Weite gesucht hatte, nichts von Liebschaften wissen wollen. Gewiss, es hatte Dirnen gegeben, manche hatten ihm Nettigkeiten zugeflüstert, andere hatten danach geweint, obwohl er immer sanft war. Aber wer glaubte auch schon einer Hure, deren Geschäft die Vortäuschung war? Jori hatte sich immer bedeckt gehalten, auch als er sich – wie viele junge Männer – entschlossen hatte, sich als Söldner zu verdingen und ihm etwas Achtung entgegengebracht worden war, hatte er nie vergessen, dass er nur ein pummeliger, pickliger Junge gewesen war. Er hatte sich seinen Respekt unter den Söldnern durch die Fähigkeit, eine Gruppe anzuleiten, verdient, nicht durch Schönheit. Dadurch hatte er seine beiden engsten Freunde getroffen, eine verruchte Kriegerin und einen grimmigen Barbaren aus dem Hochland. Vala war die Schöne, die alle Frauen bezirzen konnte, Rurik war der große, männliche Kerl, auf denen alle reiten wollten. Jori hatte sich für unsichtbar gehalten und es gut gefunden. Er brauchte kein Weib, und die Burschen, die er mochte, hatte er nie auf diese Weise gemocht.

Und dann trifft er diesen Dieb, zwei Wochen vor der Abreise in den Dschungel. Natürlich hatten seine Freunde dem Drecksack die Kehle aufschlitzen wollen. Aber Jori, vergebend wie er nun mal war, hatte den Dieb stattdessen aufgenommen und ihm versichert, er müsse nie wieder stehlen, wenn er sich ihnen anschloss. Und Vynsu hatte ihm erstaunlicherweise zugestimmt.

»Jeder Mann verdient die Gelegenheit, sich zu beweisen«, hatte er gesagt. Vermutlich, weil auch er auf eine solche Gelegenheit hoffte.

Und nun… nun war Desith da, und Jori hatte das ungute Gefühl, dass Vynsu sich in eine Sache verstrickte, die zu groß für ihn war. Oder wegen diesem aufsässigen Wicht etwas wirklich Dummes tun würde.

»Bevorzugst du die Gesellschaft von weiblichen oder männlichen Pferden?«, fragte plötzlich eine leise Stimme in der Dunkelheit.

Jori drehte den Kopf und sah auf einem Stapel Strohballen Bragi sitzen. Der Dieb musste ihn schon eine Weile beobachtet haben, seine Haltung war entspannt, seine Beine baumelten lässig, er grinste wie üblich rotznäsig und biss anschließend genüsslich von einem roten Apfel ab.

»Stuten und Hengste nennt es sich bei Pferden«, erklärte Jori geduldig und ging dazu über, Hekklis Mähne zu kämmen.

»Wie auch immer«, gab Bragi zurück, lehnte den Rücken an einen versetzt stehenden Strohballen und überschlug die schlanken Beine. »Du scheinst dich unter ihnen wohler zu fühlen. Willst du mir etwas beichten?«

Jori schielte ihm warnend zu. Doch mehr als ein schmutziges Lachen erreichte er damit nicht.

»Wahrlich, es ist mir ein Rätsel, wieso du jeden Morgen vor Sonnenaufgang und noch vor dem ersten Knecht hierherkommst.«

Jori antwortete wahrheitsgemäß: »Ich schlafe schlecht.«

»Das tun wir alle.« Bragis leises Kichern verursachte Jori eine nicht unangenehme Gänsehaut. »Warum kommst du nicht einfach zu mir, ich bin sicher, wir vertreiben uns die schlaflosen Stunden gemeinsam…«

Darauf erwiderte Jori nichts, wie immer tat er so, als hätte Bragi keine eindeutige Einladung ausgesprochen, und versuchte ebenso, seine glühenden Wangen zu ignorieren, die Bragi mit einem zufriedenen Grinsen bemerkte.

»Jori…«, flüsterte er heißer, »komm zu mir ins Stroh.«

Jori presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf, er wechselte von der roten Mähne zu Hekkilstons rotem Schweif, dabei ließ er die Hand zaghaft über dessen Flanke gleiten und spürte Bragis brennenden Blick auf seiner Rückseite. Beide stellten sich vor, Jori würde auf diese zärtliche Weise nicht das Pferd, sondern Bragi berühren.

»Warum nicht?« Bragi öffnete die Schenkel und in seinem Schritt zeichnete sich bereits eine deutliche Beule ab, die Jori vor Scham schlucken ließ.

Schnell wandte er den Blick ab und versuchte krampfhaft, sich auf das Durchbürsten des Schweifes zu konzentrieren.

Bragi lachte in sich hinein und warf die Reste des Apfels über die Schulter ins Stroh. »Aus dir kann ich lesen wie aus einem offenen Buch. Und dabei kann ich nicht mal lesen.«

Jori musste grinsen und schielte kurz zu ihm herüber. Er war wahrlich eine Versuchung, drahtig und doch auf eine schlanke Weise muskulös, männlich. Sein Haar hatte er zusammengebunden, die spitzen Ohren stachen hervor wie Dolche, bronzene Strähnen hingen ihm keck im langen Gesicht. Sein blindes Auge war trüb, dafür strahlte das algengrüne umso heller in der Nacht. Er war nicht hässlich, sein Körper versprach Sinnlichkeit, doch Jori konnte sich nicht darauf einlassen, selbst wenn er schon einmal bei einem anderen Mann gelegen hätte. Er würde vor Verlegenheit vermutlich alles falsch machen. Die meisten Huren schienen nie beglückt, die anderen weinten immer, vermutlich aus Abscheu vor ihm. Er genoss Bragis Schäkern, und wollte nicht riskieren, dass es endete. Außerdem glaubte er nicht, dass Bragi ihn wirklich nackt sehen wollte. Es war nur … ein Spiel. Nichts weiter. Ein hübscher Gedanke, der ihnen die Nacht wärmte.

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Kolmas raamat sarjas "Chroniken der Bruderschaft 3"
Kõik sarja raamatud