Loe raamatut: «Geliebtes Carapuhr», lehekülg 6

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Kapitel 7

Es war seltsam, wie schnell sich der Verstand an Dinge gewöhnen konnte. Desith hatte Vynsus Schnarchen in der allerersten Nacht als störend empfunden, doch in den letzten Wochen waren diese gegrummelten Laute seine Einschlafhilfe gewesen, wann immer er nachts aufgewacht war und die Gedanken um Derrick, um Dämonen, um die Zeit im Dschungel und die ungewisse Zukunft gewälzt hatte, hatte Vynsus Schnarchen ihn wieder eingeschläfert. Es war immer beständig, gleichmäßig, wurde nicht von plötzlich lauten Grunzern durchbrochen, es war mehr ein tiefes, zufriedenes Grollen, das es Desith leicht gemacht hatte, sich nur darauf zu konzentrieren und zu dem gewohnten Rhythmus einzuschlafen, ähnlich als ob er Schäfchen gezählt hätte.

Nun, da es plötzlich fehlte, war die Stille wie ein Weckruf.

Er blinzelte, es war ruhig im Zelt, aber er war nicht allein, Vynsu schlief jedoch nicht.

»Du bist wach«, stellte er fest, ohne von dem Zaumzeug aufzusehen, das er mit liebevoller Hingabe einschmierte, bis es geschmeidig im Kerzenschein glänzte. Das Fett, das er benutzte, kitzelte Desith zugleich in der Nase und weckte eine Erinnerung in seinem Kopf. Ein leichtes, flüchtiges Ziehen im Unterleib folgte. Dieses Fett hatten er und Derrick in so manchen Nächten auch für andere Dinge benutzt.

»Du auch«, stellte er fest und drehte sich auf den Rücken. Die Verbrennungen spannten noch und der Arm fühlte sich kalt an, fast fremd, aber allmählich gewöhnte er sich an das Gefühl. »Wie spät ist es?«, wollte er wissen und ließ den Arm auf der Stirn liegen.

»Kurz nach Abenddämmerung«, antwortete Vynsu von seinem Stuhl aus, er klang in seine Arbeit versunken. »Zeit für deinen Schlaftrunk, würde ich sagen.«

Desith schielte zu ihm rüber. »Muss ich wirklich noch mehr schlafen, oder meidest du nur ein Gespräch mit mir?« Obwohl er solange im Reich der Träume verweilt hatte, fühlte es sich nicht fremd an, zu sprechen, allerdings hörte er seiner eigenen Stimme an, dass sie schwach und kratzig klang.

Vynsus braune Augen schielten zu ihm herüber, die violetten Sprenkel darin funkelten wie Edelsteinsplitter. »Du musst ruhen«, erwiderte er schlicht.

Desith entgegnete: »Ich fühle mich gut.« Ihm war nicht mehr schwindelig, zumindest solange er lag, er fühlte sich nicht mehr wie erschlagen, seine Wunden waren nur noch ein entferntes Pochen, das Fieber hatte sich gelegt. Zwar spürte er eine gewisse Schwäche in Zehen und Fingern kribbeln, aber sein Geist wurde mit jedem Augenblick wacher und wacher und suchte nach einer Beschäftigung. Sein Körper war vielleicht noch dabei zu heilen, aber sein Verstand war hellwach – und seinen Gedanken wurde langweilig.

Vynsu stand nicht direkt auf, er schien zuerst das alte Lederzaumzeug fertig einfetten zu wollen, dabei war er still und wirkte abwesend. Desith drehte den Kopf und betrachtete den Prinzen von Carapuhr eingehend. Die letzten Male, als er aufgewacht war, hatte er mehr und mehr die Veränderung an Vynsu wahrgenommen. Sie waren unübersehbar, aber das hatte er in seinem verwundeten, halbtoten Zustand nicht bewusst aufgefasst, er hatte nur gesehen, was ihm vertraut vorgekommen war, die Augen und die Stimme. Vynsu war größer geworden, männlicher, muskulöser, hünenhafter … älter. Wie alt? Desith hätte ihn zwischen fünfundzwanzig und siebenundzwanzig Sommer geschätzt. Was unmöglich war, denn das würde bedeuten, er selbst wäre mittlerweile ebenfalls mehr als zwanzig Sommer alt. Das wiederrum würde die Frage aufwerfen, wie viele Jahre er mit Derrick im Dschungel vergeudet hatte, aber diese Frage schob er weit nach hinten, sie konnte warten. Warten bis zu dem Moment, da er von selbst aufstehen und dieses Zelt verlassen konnte, wenn er hinaus in die Welt trat und herausfinden musste, wie sein Leben weiter gehen sollte. Ohne Derrick.

Er verscheuchte die düsteren Überlegungen, ignorierte das Ziehen in seinem Herzen und drehte sich auf die Seite. Vynsu schien sich seiner Blicke bewusst, aber sie machten ihn nicht nervös, er fettete das Leder ein, als wäre er allein.

»Du trägst das Haar anders«, stellte er leise fest.

»Und du deines wie immer.« Der Barbarenprinz sah nicht auf.

Vynsus violette Strähnen waren etwas dunkler als damals, sie erinnerten jetzt mehr an reife Auberginen. Es war gewachsen und er trug es zu einem langen, geflochtenen Zopf, der ihm bis zur Mitte seines breiten Rücken reichte, allerdings war sein Schädel an den Seiten und im Nacken kahlgeschoren, sodass er quasi nur den violetten Kamm hatte wachsen lassen. Auf seinen markanten Zügen breitete sich der Schatten eines dunklen Bartes aus, aber er trug keinen Vollbart, es wirkte viel mehr so, als habe er seine Rasur vernachlässigt. Sein Leib wurde von einem einfachen, braunen Lederhemd mit offener Schnürung verhüllt, ebenso von einer robusten Lederhose und Reitstiefel, nichts an ihm sah adelig oder gar prinzenhaft aus. Diese Bescheidenheit hatte Desith an den Barbaren immer schon gemocht, ihren Sinn für das praktische und einfache Leben. Er selbst war in dem sprichwörtlichen goldenen Käfig aufgezogen worden.

Vynsus Augen zogen Desith immer wieder an, sie hatten sich stark verändert. Wobei, es war mehr der Blick, der sich gewandelt hatte. Früher hatte eine gewisse Wildheit in seiner Miene gestanden, heute wirkte er sehr ernst. Aber das konnte auch nur täuschen. Die restlichen Züge waren ihm jedoch sehr vertraut, das breite Kinn und die wulstige Stirn, die markante Nase, der perfekte Abstand zwischen den großen Augen, die langen, dunklen Wimpern, die sie umrandeten, und die regelrecht geschwollenen, dicken Lippen.

Die einschlägigste Veränderung, die Desith auffiel, war ohnehin nichts Körperliches. Es war etwas Materielles. Der Ring an Vynsus Finger.

Desith erinnerte sich, dass der Ring in Carapuhr ein Zeichen dafür war, dass ein Mann oder eine Frau bereits vermählt waren. Und da fiel ihm auch wieder ein, dass sein Vater ihm mitgeteilt hatte – damals, bevor er mit Derrick in Zadest zurückgeblieben war – dass Desiths geliebte Schwester dem Prinzen von Carapuhr versprochen worden war.

Hatte er die Vermählung verpasst?

Das würde sie ihm niemals verzeihen.

»Wie geht es meiner Schwester?«, fragte er geradeheraus. Und als Vynsu ihn überrascht ansah, lächelte er wissend. »Sie ist etwas verwöhnt, nicht wahr? War sie wütend, weil ich nicht bei der Vermählungsfeier dabei war? Ist sie hier?«

Vynsu schienen die Fragen für einen Moment die Sprache zu verschlagen, er starrte einfach zurück, fast wie zu Eis erstarrt, seine dicken Lippen standen leicht offen.

»Vyn?« Desith kräuselte die Nase. »Du schaust mich an, als wäre mir ein Horn aus der Stirn gewachsen.« Zur Sicherheit tastete er seinen Kopf mit einer Hand ab, aber bis auf eine verschorfte Wunde fühlte er nichts.

Vynsu blinzelte sich zurück in die Gegenwart. »Ich…« Er schüttelte den Kopf und senkte den Blick auf das Zaumzeug. »Entschuldige, und nein, sie war nicht wütend, sie war… Das Fest hat sie verängstigt, aber ich … ich war gut zu ihr, keine Sorge.«

Das konnte er nicht wirklich glauben, er hatte Vynsu mit anderen Mädchen gesehen, aber er wollte in diesem Moment nicht darüber nachdenken, wie Vynsu mit Lohna die Ehe vollzogen hatte. Er würde ihm später noch androhen, sie besser gut zu behandeln, wenn ihm sein Leben lieb war. Später, wenn er wieder aufstehen konnte. Ansonsten fürchtete er, dass er nicht sehr glaubwürdig klingen würde.

»Ist sie hier?« Desiths Brust füllte sich mit warmer, strahlender Hoffnung, er wollte so gerne jemanden aus seiner Familie sehen. Vor allem seine geliebte Schwester, mit ihr verband er immerhin seine Kindheit, seine Heimat. Die erste Liebe – abgesehen von jener für seine Mutter – die er gekannt hatte.

Vynsu räusperte sich. »Nein, sie ist leider nicht hier.«

Desiths Hoffnung erlosch und er ließ sich erschöpft zurück auf die Felle fallen. »Oh…« Er verstummte und Schweigen erfüllte das Zeltinnere, dehnte sich wie eine tiefe Kluft zwischen ihnen auf.

»Du klingst sehr … erholt, für jemanden, der die letzten Tage nur geschlafen hat«, erhob Vynsu irgendwann die Stimme.

Desith sah ihn mit einem undurchdringbaren Blick an. »Vielleicht gerade deshalb, ich fühle mich mehr als ausgeschlafen. Zumindest was meinen klaren Verstand angeht.«

Vynsu nickte bedächtig. Er war fertig mit dem Zaumzeug und hing es an die Stuhllehne, dann klatschte er die Hände auf die Schenkel und sah Desith durchdringend an. »Wir sollten über Derrick reden.«

Desith drehte das Gesicht zur Decke und erwiderte leise: »Ich will nicht über Rick reden.« Allein an ihn zu denken zerriss ihm die Eingeweide. Dabei wusste er immer noch nicht ob er traurig oder wütend war.

»Warum seid ihr vom Turm weggegangen? Habt ihr Sarsar gefunden? Seine Überreste? Irgendetwas? Was hat euch von den Trümmern fortgelockt?«

Sie hatten gedacht, sie hätten ihn gespürt. Sarsar. Nun ja, Rick hatte es gedacht und war dem Gefühl gefolgt, mitten rein in den Dschungel.

Desith bemerkte, wie ihm die Kehle trocken wurde, seine Sicht verschwamm und er wollte die Erinnerungen abschütteln. »Er folgte dem Ruf der Freiheit. Dem Drachenruf.« Das war alles, was er verriet. »Er konnte sich nicht dagegen wehren und er wollte sich nicht mehr zurückverwandeln. Ich habe ihn gesucht, ihn angefleht, immer wieder aufs Neue. Aber er wollte mich nur fressen. Immer wieder nur… fressen.«

Etwas kitzelte seine Wange und er wischte die entflohene Träne fort. Dann schluckte er und kämpfte seine Gefühle nieder, er bleckte die Zähne. »Er will nicht zurückkommen, Vyn. Er will einfach nicht.«

Daraufhin herrschte langes Schweigen.

»Weißt du, dass du hättest sterben müssen?« Ein Raunen voller Unbehagen.

Desith drehte das Gesicht zu Vynsu um und blinzelte ihn an. Ein Stich aus purer Angst zog ihm durchs Herz, aber das ließ er sich nicht ansehen. Er schluckte das Gefühl herunter. »Nein«, antwortete er. »Aber hätte ich wirklich sterben müssen, wäre ich wohl tot.«

»Keine Ahnung.« Vynsu wirkte ratlos, das machte Desith stutzig. Seufzend fuhr der Barbar sich über den violetten Kamm. »Du hattest schwerwiegende Vergiftungen von totbringenden Baumschlangen, Desith. Du wurdest verbrannt, dein Kopf stand offen, du…« Er unterbrach sich und sah zu Boden, rang nach Beherrschung.

Desith senkte ebenfalls den Blick, sein Mund stand offen. Er hatte nicht ahnen können, wie schlecht es um ihn gestanden hatte.

»Du hattest Fieber, Parasiten und Anzeichen von Schwindsucht, du bist unterernährt«, fuhr Vynsu bedächtiger fort, dann schüttelte er wieder den Kopf, als verstünde er die Welt nicht mehr. »Weißt du, wie viele Tage vergangen sind, seit wir dich gefunden haben?«

Desith blickte ihm ins Gesicht und schüttelte stumm den Kopf.

Bedauern lag in Vynsus Blick. »Siebenundzwanzig Tage«, betonte er.

Das überraschte Desith nun doch, die Zeit bei Vynsu war ihm nicht länger als eine oder vielleicht auch zwei Wochen vorgekommen.

»Die Leute haben Angst«, flüsterte Vynsu unheilvoll. Desith starrte ihn wieder an. »Vor dir«, bestätigte er und sah dabei aus, als wüsste er selbst nicht, ob er sich fürchten sollte. »Weil du… tot sein müsstest. Oder zumindest dich unter Qualen winden müsstest. Desith… du hast das Gift einfach so aufgenommen, als wäre es Wasser. Deine Brüche wuchsen quasi über Nacht zusammen, das Loch in deinem Kopf heilt viel schneller, als es möglich sein dürfte. Das ist alles … alles sehr seltsam. Und ich … ich will wissen …« Er hielt für die Dauer eines Seufzens inne, danach sprach er gefestigt weiter. »Desith, was ist da draußen passiert? Ich weiß, du bist immer noch du, ich sehe es vor mir, und doch ist es, als hätte sich dein Innerstes verändert.«

Desith rieb sich unwillkürlich über die Brust, während sich seine Gedanken überschlugen. Die Erinnerungen waren so lebhaft, als wären sie erst gestern dort unten im Turm gewesen. Dieser Schmerz, als Sarsar die fremde Magie aus dem Riss auf sie alle übertrug, das Gefühl, innerlich zu verbrennen, Lava zu trinken und zu Lava zu werden. Als er sich daran erinnerte, konnte er das Siegel fühlen, das Sarsar in ihnen allen hinterlassen hatte. Das Siegel, das die fremde Magie in ihnen einschloss, wie in einer sterblichen Truhe.

Desith war kein Magier, er trug keinen Funken Magie in sich, konnte sie nicht anwenden. Place hatte sie gewarnt, dass die fremde Macht sie verändern könnte, selbst wenn sie gebannt war.

Für einen kurzen Schreckmoment hatte er befürchtet, die fremde Macht könnte irgendwie durch seine Verletzungen befreit worden sein. Aber das Siegel war unbeschädigt, die Magie in ihm verschlossen, das konnte er ganz deutlich spüren. Wäre sie es nicht, wären alle anderen, die mit ihm dort im Turm gewesen waren, gezwungen gewesen, ihn zu töten. Das hatten sie sich damals geschworen. Und sie hätten es gespürt, wären bereits auf dem Weg hier her. Sie konnten ihn spüren, über alle Gewässer hinweg, so wie er sie in seinem Geist spürte.

Und so wie er spürte, wie die fremde Macht sich in ihm bewegte, wie eine weiße Katze, die es sich auf dem eigenen Kopfkissen bequem machte, nachdem man aufgestanden ist. Die Magie, die ihn heilte, weil er ihr Wirt war.

Er spürte sie in sich, als wäre sie ein neudazugekommenes Organ, wie ein Stück warmer Kuchen, der im Bauch lag. Sie war so präsent, wie der Widerhall all ihrer Splitter, die auf seine Kameraden verteilt worden waren. Sie war einfach da, und er war ihr Hüter, ihr Haus. Sie musste ihn repariert haben.

»Von diesem Moment an sind wir alle Brüder.« Das hatte Sarsar gesagt, bevor sie geflohen und er in den Trümmern zurückgeblieben war. Heute erst verstand Desith, was er gemeint hatte.

Brüder. Eine Gemeinschaft, die etwas Gefährliches hütete.

Desith sah Vynsu wieder an, der angespannt auf eine Erklärung wartete. Er atmete vernehmbar aus und legte sich zurück in die Kissen. »Ich weiß es nicht«, log er, »vielleicht ist es das luzianische Blut.«

Vynsu glaubte ihm nicht, er verengte die Augen und starrte ihn an, als wollte er ihn aufspießen und in ihm bohren, bis er ihm die Wahrheit sagte. Doch er stand nicht von seinem Stuhl auf.

»Ich bin keine Hexe, Vyn«, verteidigte er sich, »frag doch deine Mutter. Wenn sie es nicht weiß, warum sollte ich es dann wissen?«

Noch immer lag Vynsus eindringlicher, wissender Blick auf ihm, aber er gab diesem nicht nach, starrte einfach ernst zurück. Er konnte vielleicht nicht aufstehen, aber er würde nicht nachgeben.

Schluck es, dachte er bei sich, oder lass es bleiben, mehr wirst du nicht von mir bekommen.

So vergingen einige Augenblicke, sie starrten sich einfach an, wohlwissend, dass Desith etwas verbarg. Sie wussten es beide.

Schließlich gab Vynsu nach, er atmete aus und lehnte sich gegen die Stuhllehne, die unter seinem Gewicht einen knarzenden Protest von sich gab. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Es hilft dir nicht, Desith, Geheimnisse zu hüten.«

»Manche Geheimnisse werden gehütet, weil sie gehütet werden müssen.« Er wusste nicht, wem er vertrauen konnte, er würde nicht jedem Mann, den er von früher kannte, anvertrauen, dass er eine Macht mit sich herumschleppte, mit jener jeder Bauer alle Völker und Länder dieser Welt versklaven könnte. Er war vielleicht nicht sonderlich klug, aber einfältig war er nicht.

Vynsu zog eine Augenbraue hoch, er war alles andere als angetan von Poesie. Dann grunzte er und schüttelte pikiert den Kopf. »Es ist deine Angelegenheit, ich wollte dir nur helfen. Wundere dich nicht, wenn dich alle für einen bösen Geist halten.«

»Weil ich noch lebe? Ist das nicht eher ein Zeichen göttlichen Segens?«, schmunzelte er Vynsu an.

Vynsu drehte das Gesicht zur Seite und zog die Oberlippe hoch. »Carapuhrianer gehen immer zuerst vom Schlimmsten aus.«

Das war bei solch einem launischen König vermutlich auch ratsam, aber Desith biss sich auf die Zunge, bevor er etwas laut sagte, das er bereuen würde.

Er drehte sich auf den Rücken und starrte die Zeltdecke an, sie war vergilbt, alt und verfärbt von vielen Kerzen, Fackeln und allerlei. »Wie lange?«, fragte er schließlich.

Er spürte, wie Vynsus Augen über sein Profil glitten. »Was meinst du?«

»Wie lange waren wir dort?«, fragte er befürchtend und wandte Vynsu wieder das Gesicht zu. »Im Dschungel.«

Vynsu ließ sich mit seiner Antwort Zeit. »Ihr wart bereits fünf Jahre fort, als der Großkönig beschloss, dass wir euch zurückholen, doch an der Ruine wart ihr nicht mehr, da begann die große Suche im Dschungel.« Er machte eine kurze Pause und starrte dabei seine Stiefelspitzen an. »Seit zwei Jahren verfolgen wir euch.«

Desith runzelte die Stirn.

»Sieben Jahre«, schloss Vynsu ab. »Du warst sieben Jahre im Dschungel, Desith.«

Kapitel 8

»Wo willst du hin?«

Jori kam ihm entgegen, als er die Zeltreihen verließ und auf den Unterstand der Pferde zusteuerte. Er ging langsamer, als er seinen Freund erkannte.

»Ich habe Hekkli heute Morgen schon gestriegelt«, fuhr Jori fort. »Du musst dich wieder mehr um ihn kümmern, er braucht Bewegung.«

»Das hatte ich gerade vor«, Vynsu ging weiter. »Kommst du mit?«

Jori schüttelte den Kopf. »Vala und ich haben bereits einen Ausritt unternommen, die Raubtiere im Wald machen die Pferde nervös, pass auf dich auf. Ich muss jetzt Bragi suchen.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter und rollte mit den Augen. »Er macht sich beim Kartenspiel Schulden und hat sich hinreißen lassen, bei einem Kampf mitzumachen. Der Gewinner bekommt einen Sack voll Silber, ich fürchte nur, unser kleiner Dieb bekommt nicht mehr als ein blaues Auge.«

Vynsu schüttelte den Kopf. »Das ist nicht dein Problem, Jori.« Du kannst nicht jeden Straßenköter retten, wollte er noch hinzufügen, verkniff es sich aber. Es war sinnlos, jemandem wie Jori zu sagen, er solle sich nicht um seine Männer kümmern.

Jori zuckte verlegen mit den Schultern. »Er ist jetzt einer von uns, wir passen aufeinander auf.« Er zwinkerte Vynsu zu und drehte sich dann um, verschwand zwischen den im Wind flackerten Planen der Zelte.

Vynsu blickte ihm nachdenklich hinterher. Er ist jetzt einer von uns, wir passen aufeinander auf. So etwas Ähnliches hatte Derrick zu ihm damals über Desith gesagt, dass er jetzt, mit dem Schwur an Melecay, zu ihnen gehöre, auch ein Barbar war, und dass er ihn als Bruder ansehen sollte. Vynsu versuchte es, aber Desith machte es ihm nicht leicht, indem er sich vor ihm verschloss. Er schnaubte und schüttelte die Gedanken ab. Er ist jetzt einer von uns.

Dann drehte auch er sich um und suchte seinen Rotfuchs aus der Reihe der Pferde heraus. Der Hengst schnaubte und scharrte mit den Hufen, als Vynsu ihn aufzäumte und sattelte.

»Ist ja gut, mein Junge, gleich kannst du rennen.«

Hekkli – der eigentlich den stolzen Namen Hekkilston trug – tänzelte bereits ungeduldig auf der Stelle, als Vynsu vor den Palisaden aufsaß. Er brauchte seinem Hengst nicht in die Flanke zu tippen, er sprintete los, sobald Vynsu die Zügel etwas lockerte.

Die Reisfelder waren feucht, mehr Sumpf als Land, Wasser peitschte auf, als er über sie galoppierte, die Gräser raschelten und allerlei Vögel stoben auf und flogen klagend davon.

Der Himmel war klar, die Luft feucht und heiß, Vynsu genoss den Wind auf dem Gesicht, während er Hekkli über die Felder in Richtung der Silhouette der Stadt im Westen trieb. Weder geriet er in Reichweite der Sichtbarkeit der Türme, noch ließ er sein Reittier wie eine leckere Versuchung für die Jaguare an den riesigen Baumreihen des Regenwaldes entlang traben, er hielt sich auf und zwischen dem Reis auf, zügelte sein Pferd, als er an kleinen Gehöften vorbeikam, nickte freundlich den spitzohrigen Bauern zu und versuchte, die Ruhe und die Zweisamkeit mit seinem Pferd zu genießen.

Allmählich war ihm in Desiths Zelt die Decke auf den Kopf gefallen, und wenn es ihm bereits so erging, wollte er sich nicht ausmalen, wie schrecklich langweilig Desith sein musste.

Seit er vor drei Tagen das erste Mal richtig erwacht war und sie sich hatten unterhalten können, gesundete er regelrecht von Atemzug zu Atemzug, Vynsu konnte quasi dabei zusehen, wie die Wunden verheilten. Die Brandnarben würde er allerdings behalten und er glaubte zu spüren, dass Desith damit nicht gut zurechtkam. Ob es daran lag, dass seine halbe Brust und sein Arm samt Schulter entstellt waren und er sich nicht mehr schön vorkam, oder schlicht an der Erinnerung, dass er diese Verletzung Derrick zu verdanken hatte, wusste Vynsu nicht und er war nicht vertraut genug mit Desith, um ihn so etwas Tiefreichendes zu fragen.

Jedenfalls hatten sie nicht mehr über Derrick gesprochen, Desith weigerte sich. Er wollte nur heim, wollte aufstehen, kämpfte gegen seine Schwäche und gesundete scheinbar durch reinen Trotz.

Er fragte nach seiner Schwester, aber Vynsu konnte es ihm nicht sagen, nicht jetzt, da er gerade erst auf dem Weg der Besserung war. Er … er wollte noch nicht Desiths Vertrauen verlieren, denn noch war er dessen Bewacher.

Aber dies würde sich bald ändern. Vynsu zügelte Hekkli auf einem sanften Hügel, der Hengst schnaubte angestrengt, seine Muskeln zuckten und das Fell unter dem Sattel war verschwitzt, trotzdem ließ sein Bewegungsdrang ihn noch immer ungeduldig tänzeln.

»Bald geht es nach Hause«, versicherte er dem Rotfuchs und beugte sich über den kräftigen Hals, um mit der Pranke lobend darüber zu fahren. »Dann wird alles wieder wie früher.«

Nun ja, fast alles.

Seufzend blickte er gen Zadest, die Dschungelwand wirkte dunkel und bedrohlich, wie sie sich im Osten auftat und eine Mauer vor Elkanasai zog. Am Abend zuvor war ein Bote ins Lager gestürmt und hatte Vynsu und seiner Mutter mitgeteilt, dass Melecay auf dem Weg hier her war. Und er brachte Derrick mit.

*~*~*

Wenn er nicht bald dieses verdammte Zelt verlassen durfte, würde er aus Frustration anfangen, für jeden weiteren sinnlos vergeudeten Tag eine Wunde in seinen Arm zu ritzen. Da fiel ihm jedoch heiß ein, dass er keine Waffen mehr besaß und verdächtiger Weise auch keine spitzen oder scharfen Gegenstände im Zelt herumlagen.

Desith saß auf der Kante seiner Liege, nachdem er sich wie auch schon in den vielen Tagen zuvor, die Beine ein wenig vertreten hatte, indem er vor seinem Lager auf und ab gewandert war. Seit etwas mehr als einer Woche konnte er aufstehen, anfangs nur für kurze Zeit, aber nachdem er wieder feste Nahrung zu sich nehmen konnte, war er von Tag zu Tag kräftiger geworden.

Eigentlich stand seiner Heimreise nichts mehr im Wege, er wollte zu seiner Familie, wollte sich allem entziehen, was ihn an Derrick erinnerte.

Zwei Jahre… So lange hatte Vynsu gesagt, hätten sie nach ihnen gesucht. Zwei Jahre, die sie vom Turm entfernt durch den Dschungel gestreift waren. Zwei Jahre, die er Rick verfolgt hatte. So lange war dieser bereits ein Drache.

Er würde nicht zurückkommen, er würde sich nicht zurückverwandeln. Er wollte nicht.

Desith blickte hinab auf seine Hände, er hatte sie nervös aneinander gerieben, sein Bein wippte. Er hatte den Drang, zu laufen, wenn nötig sogar zu Fuß bis in die Hauptstadt des Kaiserreichs, wenn Vynsu sein Versprechen nicht endlich einhielt.

Er wusste nicht, wie es nun weiter gehen sollte. Seit er als Kind Rick begegnet war und sie sich verliebt hatten, hatte es für Desith nur eine Zukunft in Carapuhr gegeben. Er hatte sich schon unter den Barbaren gesehen, er hatte schon den kalten Wind geschmeckt. Doch was sollte er noch dort ohne Rick. Einsam und allein durch den Schnee stapfen?

Er hatte zwei Jahre allein im Dschungel verbracht, und so sehr er auch die hohen Mauern und überfüllten Städte des Kaiserreichs verabscheut hatte, gerade vermisste er ihre Vertrautheit.

Zwei Jahre…

Desith drehte die Handflächen nach oben und strich abwechselnd mit dem Daumen über die Narben, die über seinen blau schimmernden Adern entlangführten.

Er hatte damals seinen Vater bestrafen wollen, hatte sich dem Käfig entziehen wollen, den dieser um ihn herum gebaut hatte, um ihn von Rick fern zu halten. Es kam ihm heute wie die dumme Tat eines trotzigen Kindes vor, aber er schämte sich nicht. Doch vielleicht waren diese Narben der Grund, weshalb Vynsu ihm keine noch so kleine Waffe in die Hand geben wollte.

Oder vermutlich war dies der Tatsache geschuldet, dass er ein Gefangener war.

Desith war nicht dumm, er spürte, dass er bewacht wurde, dass er nicht einfach gehen durfte, wohin er wollte. Und natürlich dachte er über eine Flucht nach, aber er kannte das Lager nicht, er kannte nicht die Wachzuteilung, er kannte nicht die Anordnung der Zeltreihen, kannte weder den Standort noch in welcher Richtung sich Westen befand. Sollte er flüchten wollen, musste er wenigstens das Lager kennen, dafür müsste er aus diesem Zelt raus. Aber noch ließen sie ihn hier drinnen schmoren, vermutlich mit Absicht.

Andererseits war eine Flucht vielleicht gar nicht nötig, zumindest nicht allein. Vynsu hatte ihm ein Versprechen gegeben, und Desith würde ihn daran erinnern, es einzuhalten. Vielleicht konnte ihm auch seine Schwester helfen, das wiederrum würde allerdings voraussetzen, dass sie im Lager wäre, was sie laut Vynsu nicht war.

Wie gesagt, ihm wurde langweilig, und seine Überlegungen überschlugen sich. Was sollte er sonst tun, außer zu grübeln? Die Hexe Karrah hatte ihm Bücher gebracht, doch Desith war kein Leser. Er konnte zwar lesen, aber er tat es nicht gern. Schon immer hatte er Büchern ein Schwert vorgezogen, mit dem er üben und sich bewegen konnte. Dies war einer der Gründe, weshalb sein Vater und er sich gegenseitig nur Unverständnis entgegenbrachten.

Die Wahrheit war, Desiths Vater war einer der klügsten Köpfe, die Desith kannte, er selbst war jedoch leider nicht ansatzweise so clever wie sein Vater. Das frustrierte ihn, er hatte das Gefühl, eine Schande zu sein.

Es regnete, das Trommeln der Tropfen auf dem Dach des Zeltes war ihm ein geliebter, vertrauter Laut, immerhin war er in den Regenwäldern des Kaiserreichs aufgewachsen. Der Regen wirkte beruhigend auf ihn, das Rauschen und Prasseln schmeichelte seinen Ohren und vertrieb die innere Unruhe ein wenig.

Die Plane wurde zurückgeschlagen und Vynsu streckte seinen Kopf herein, hinter ihm war der Tag grau und verregnet. Er stand gebückt, weil er für den Eingang gute zwei Köpfe zu groß war. »Komm mit«, sagte er nur und war schon wieder verschwunden.

Obwohl Desith die Gelegenheit nutzen und aufspringen wollte, um endlich aus diesem Zelt raus zu können, das ihm von Stunde zu Stunde enger zu werden schien, wandte er all seine Willenskraft auf und blieb eisern sitzen.

Nach einem Augenblick kam Vynsu zurück und beugte sich wieder in den Eingang, er sah Desith ungeduldig entgegen. »Findest du das amüsant?«

Desith nahm eine Haarsträhne und betrachtete ihre abgefressene, rote Spitze. Die Haare hatte er sich nach dem Ziehen der Fäden seiner Kopfwunde wieder hochgebunden und mit einem frischen, roten Band versehen, das Vynsu ihm mit einem gemurmelten »Dein altes ist zu verschlissen, ich dachte, du willst trotzdem ein neues« mitgebracht hatte. Seltsam, manchmal wirkte es fast so, als wäre dieser einst so großmäulige, wilde Bursche, der kein Blatt vor den Mund nahm und die Weiber mitten in der Schenke auf dem Tisch durchgenommen hatte, in Desiths Gegenwart regelrecht verlegen. Er hatte sich wirklich verändert, war ruhiger geworden. Fast besonnen.

»Desith!« Vynsu knurrte, als er ignoriert wurde. Er trat ein und ließ die Plane hinter sich zufallen, im Zeltinneren konnte er sich zu voller Größe aufrichten. »Das ist kindisch, das weißt du, oder?«

Desith sah ungerührt zu ihm auf. »Ich bin kein verdammter Untertan! Und ich gehorche nicht deinem Befehl.«

Vynsu zog auf unverschämt provokante Art seine Augenbraue in Richtung Haaransatz. »Wolltest du nicht raus?«

»Versuch es mal, indem du mich höflich bittest!«

»Ich bin auch nicht dein verdammter Untertan«, konterte er geschickt, dabei blieb er völlig ruhig, parierte mit Ruhe und Umsicht. Das machte Desith fast noch rasender. »Und jetzt komm! Du magst dich vielleicht mir verweigern, aber nicht dem Willen des Großkönigs, Desith. Beweg deinen knochigen Arsch, oder du bringst uns beide in Schwierigkeiten.«

Desith spürte, wie ihm die Kehle eng wurde, er sah zu Vynsu auf, die Farbe wich aus seinem Gesicht. Er hatte sogar überhört, dass Vynsu sein schönstes Körperteil beleidigt hatte. »Der Großkönig ist zurück?«

Vynsu nickte ernst. »Sie sind gerade erst eingetroffen.«

Das hatte der Tumult draußen zu bedeuten gehabt. Desith blickte zur Seite, starrte die Zeltwände an, als könnte er durch sie hindurchblicken.

»Komm schon«, drängte Vynsu etwas milder, trat auf ihn zu und wollte nach seinem Arm fassen.

Desith sprang auf und entzog sich seinem Griff, ehe er die Finger um seinen Oberarm hatte schließen können. »Hat er gefunden, wonach er gesucht hat?«, fragte er schneidend und ging um Vynsu herum, brachte leeren Raum zwischen sich und ihn, damit der Barbar ihn nicht einfach aus dem Zelt zerren konnte.

Plötzlich kam ihm das Innere gar nicht mehr so klein und trist vor, im Gegenteil, er wollte viel lieber hier drinnen bleiben. Noch lieber wäre ihm eine feuerfeste Unterkunft gewesen.

Vynsu ließ seufzend die breiten Schultern sinken. »Ja«, hauchte er vorsichtig. »Sie haben Derrick gefunden und hergebracht.«

Desith unterdrückte ein ängstliches Keuchen, er rieb sich die Kehle und kämpfte gegen seine aufkommende Furcht an. Sei stark, verdammt, du Feigling.

»Der Großkönig ließ nach dir schicken, damit du mit ihm sprichst«, erklärte Vynsu. »Mit Derrick!«

Desith blieb das Herz fast in der Brust stehen, er fuhr zu Vynsu herum. »Ist er… ist … ist Rick ein Mensch?« Konnte es wirklich sein, dass er sich zurückverwandelt hatte? Desith leckte sich die Lippen, er spürte Tränen in seinen Augen brennen, aber sie waren ihm gleich.

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