Loe raamatut: «Geliebtes Carapuhr», lehekülg 7

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Betreten senkte Vynsu den Blick. »Deshalb wollen sie, dass du mit ihm sprichst«, antwortete er entschuldigend. »Mein Onkel glaubt, Derrick würde sich zurückverwandeln, wenn er dich sieht.«

Desith starrte ihn einen Moment lang nur an, es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Worte – und ihre Bedeutung – zu ihm durchdrangen. Er wollte schreien, stattdessen fing er unwillkürlich an zu lachen.

Vynsu schaute ihn stirnrunzelnd an, er verstand nicht, was auf einmal so lustig war.

»Nein!« Desith schüttelte den Kopf und wich vor Vynsu zurück, als wäre dieser auf ihn zugegangen wie ein Henker auf den Verurteilten, dabei hatte Vynsu sich nicht vom Fleck gerührt. »Niemals! Das könnt ihr vergessen!« Er lachte, während der Kloß im seinen Hals immer größer wurde und ihm die Tränen kommen wollten. »Er ist verloren, Vyn. Verloren! Das ist reine Zeitverschwendung.«

Tief durchatmend fuhr sich Vynsu über den Kopf, von der Stirn bis zum Nacken, wie er es stets tat, wenn er nicht weiterwusste. »Ich fürchte, du hast keine Wahl.«

»Ich gehe nicht«, trotzte Desith ihm, doch sein Protest klang mehr wie ein weinerliches Wimmern. Er presste die Lippen zusammen und verfluchte seine eigene Schwäche.

In Vynsus Blick schlich sich allmählich etwas Ärger. »Warum nicht? Ich meine … es geht um Rick, Desith! Um Rick, verdammte Scheiße. Ich weiß nicht, was im Dschungel passiert ist, du willst nicht darüber reden. Er hat versucht, dich zu fressen? Fein, das würde mich auch wütend machen, aber du weißt auch, dass er gerade nicht er selbst ist. Derrick ist gefesselt, der tut keiner Fliege etwas zu leide, und du hast endlich die Chance, ihm in die Augen zu sehen und zu bitten, sich zurück zu verwandeln.« Verständnislos breitete er die Arme aus. »Sollte es nicht genau das sein, was du willst? Hast du ihn wirklich so leicht aufgegeben? Nach Jahren der süßen Liebe stehst du jetzt hier und sagst mir, du willst ihm nicht mehr helfen, weil er dir wehtun wollte, als er nicht er selbst war? Ergibt das einen Sinn für dich? Für mich nicht!«

»Junge Liebe verblasst eben«, flüsterte Desith matt. Er hatte die Arme während Vynsus Vortrag vor der Brust verschränkt und ihm die kalte Schulter zugewandt, aber seine Ohren konnte er nicht verschließen.

»Desith«, Vynsu seufzte und trat einen Schritt näher, »du hast ihn geliebt und er dich, ihr habt eurer Liebe wegen beinahe einen Krieg zwischen Elkanasai und Carapuhr angezettelt. Willst du nicht alles versuchen, was möglich ist, um Rick daran zu erinnern, dass in ihm ein Mann schläft, dessen Rückkehr von seinem Gefährten erhofft wird? Willst du mir ins Gesicht sagen, dass du ihn so kampflos fallen lässt?«

Oh er hatte gekämpft. Zwei Jahre lang. Natürlich konnte Vynsu es nicht verstehen, er kannte nicht die ganze Geschichte hinter Derricks Verwandlung, und Desith wollte nicht daran denken. Er wollte die mitleidigen Blicke nicht, die ihm alle zuwerfen würden. Vynsu hätte es vermutlich auch dann nicht begriffen.

Desith drehte ihm das Gesicht zu, seine Nasenflügel bebten aufgebracht. »Er ist gegangen, Vyn. Er will nicht hier sein, er will nicht nach Hause, und er wird nicht für mich zurückkommen.«

Vynsus Schultern sackten erneut herab, ein Zeichen seiner Aufgabe. Er wirkte streng, aber einlenkend. »Fein. Aber du wirst dich ihm stellen, Desith, weil mein Onkel es verlangt.«

Er wollte gerade zum Protest ansetzen, als Vynsu ihm eine Hand in den Nacken legte und sich zu ihm hinabbeugte.

»Beweis uns, dass er nicht zurückkommen will, Desith«, flüsterte er eindringlich, seine Augen funkelten, und Desith begann zu verstehen. »Beweis, dass du nichts ausrichten kannst – und der Großkönig wird dich gehen lassen.«

*~*~*

Er lag auf einer rollenden Plattform, die aus dicken Baumstämmen und robusten Seilen zusammengebaut worden war. Einfallsreich waren diese Barbaren ja, sie waren auch die Erfinder der Armbrust und sorgten dafür, dass diese Waffe ihrem Volk vorbehalten blieb. Die Baupläne waren jedenfalls strickt geheim und alle Nachbauten waren bisher nicht so effektiv wie das Original.

Jedenfalls erinnerte die Plattform an ein riesiges Floß, bloß dass es nicht auf Wasser schwamm, sondern auf mehreren knirschenden Rädern stand, die nun mit schweren Steinen befestigt wurden, damit sie nicht unkontrolliert wegrollten.

Desith hatte sich schon gefragt, wie sie ihn transportiert hatten.

Das Grollen des Drachen war durch das ganze Lager zu hören, die Pferde wieherten und schabten ängstlich in ihren Gattern, Kriegshunde kläfften und zerrten an ihren Leinen, viele Schaulustige tummelten sich zwischen den Zeltwänden, jeder wollte Derricks neue Form bestaunen, während ein halbes Dutzend Männer damit beschäftigt war, eine Plane über dem Monster zu spannen.

Desith blieb stehen. »Ich gehe nicht zu ihm, wenn mir das halbe Lager zusieht«, flüsterte er konsequent und setzte alles daran, dass man ihm seine Furcht nicht anhörte.

»Komm!« Vynsu legte ihm eine Hand ins Kreuz und schob ihn vorwärts durch die Menge. »Das wird nicht nötig sein.«

Desith schüttelte energisch seine Hand ab und stampfte weiter vor ihm her, dabei war er gar nicht wütend auf Vynsu, er musste nur seiner Nervosität Luft machen.

Als sie an einer Gruppe gelangweilt wirkender Söldner vorbeikamen – Desith erkannte sie daran, dass sie keine Wappen auf den Harnischen trugen und auch sonst keine Flagge zeigten, die sie mit einem der Fürstentümer Carapuhrs in Verbindung brachte – nickte Vynsu ihnen zu und sagte: »Sorgt dafür, dass die Gaffer verschwinden, Derrick ist kein Stück Rind auf dem Marktplatz!«

Die vier Gestalten schwärmten aus, aber Desith nahm kaum Notiz von ihnen, denn er näherte sich dem Rücken des Großkönigs, der neben der Hexe Karrah stand und grimmig verfolgte, wie sein Ziehsohn abgedeckt wurde. Der warme Regen prasselte ungehindert weiter, niemand schien sich daran zu stören, dass ihnen Sturzbäche über die Gesichter rannen. In Elkanasai wären zig Diener unterwegs, um dem Adel ein Schirmchen über den Kopf zu halten.

Auch Desith bemerkte den Regen nicht, sein Haar lag platt und nass auf seinem Kopf, seine zottligen Strähnen tropften ebenso wie seine Nase und seine Lippen. Es war ihm gleich, er fühlte sich wie in einem Traum, bekam einen Tunnelblick, als hätte er zu viel Wein gekippt. Alle Geräusche entfernten sich, vermischten sich mit dem Rauschen des Regens. Die Leute, die sich nur mürrisch in ihre Zelte verweisen lassen wollten, die Rufe der Männer, die die Plane befestigten, Vynsus Murmeln. All das war nicht mehr als Hintergrundgeräusche, während Ricks grollender Atem immer lauter wurde, je näher er ihm kam.

Er wirkte viel größer außerhalb des dichten Dschungels, beinahe übermächtig. Fettgefressen und monströs. Desith spürte ein Zittern durch seinen Leib rollen wie eine kalte Flutwelle. Er wusste nicht, wie er diesem gigantischen Vieh entkommen war. Es schien so unwirklich, dass er erst in jenem Moment dort im Regen begriff, wie knapp er dem Tod entronnen war.

Dem Tod durch Rick. Dem einzigen sterblichen Wesen, dem er je so sehr vertraut hatte…

Der Drache lag flach auf der Plattform und war mit dicken Eisenringen versehen. Der Großkönig musste sie eigens für diesen Zweck anfertigt haben, allerdings war er auch der Drachenflüsterer – der Drachenkönig, um genau zu sein – er besaß solcherlei Dinge vermutlich bereits seit Jahrzehnten, immerhin züchtete er diese Biester.

Ein Grund mehr, nicht nach Carapuhr zu gehen, von Drachen hatte Desith eigentlich genug.

Alle vier Vorderbeine des Drachen waren an die Plattform gekettet, seine Flügel waren mit dicken Eisenketten an seinem Körper fixiert worden, er konnte sie nicht ausbreiten, selbst seinen langen Schwanz hatte man eingeknickt und festgekettet. Sein Hals und Kopf lagen in einer Linie flach auf der Plattform, ein Eisenring befand sich hinter seinem Kopf, ein weiterer lag um seine Schnauze und hielt sie am Boden. Er war vollkommen bewegungsunfähig, der Regen prasselte auf ihn nieder und perlte über seine Augen, die langsam und trostlos blinzelten.

Aber obwohl er sich nicht rühren konnte, sank Desith mit jedem weiteren Schritt das Herz in die Hose, seine Knie wurden weich. Er wollte fortrennen, aber er konnte nicht.

Sie kamen neben Karrah und dem Großkönig zum Stehen. Vynsus Mutter lächelte ihnen flüchtig zu, während der Großkönig sie keines Blickes würdigte. Er war älter geworden, sein blondes Haar besaß einen gräulichen Schimmer, sein Bart wirkte ausgebleicht und stumpf, das Blau seiner einstig strahlenden Augen war verblasst, als läge ein grauer Schleier über ihnen, Falten hatten sich um seine Augen herum gebildet, er wirkte noch härter als Desith ihn in Erinnerung gehabt hatte.

»Das hat aber gedauert«, murrte König Melecay.

Desith holte bereits Luft, da kam ihm Vynsu aber zuvor: »Vergebung, Onkel, Desith ist noch etwas schwach auf den Beinen.«

Das war nicht die Wahrheit und es wiederstrebte ihm, dass Vynsu ihn hinstellte, als sei er ein schwächlicher Kranker. Dass dieser ihn schützte, war ihm nicht recht, er hätte lieber geantwortet, dass er sich weigern wollte und auch jetzt noch dagegen war.

»Nun gut. Geh«, sagte der Großkönig mit harter Miene, offenbar war er alles andere als erfreut, seinen Ziehsohn in Ketten zu sehen, aber freigeben wollte er ihn auch nicht. Vermutlich wusste er, was Desith bereits die ganze Zeit gesagt hatte. Derrick wollte nicht freiwillig nach Hause kommen, und wenn man ihn darum bat, wurde er ziemlich ungemütlich. »Sorg dafür, dass er zu uns zurückkommt.«

Der Befehl ging an Desith, das bemerkte er, als Vynsu ihm einen leichten Stoß mit den Ellenbogen in die Seite verpasste. Er zuckte leicht zusammen, riss sich dann aber am Riemen.

Er schluckte seine Nervosität herunter. »Nicht unter so vieler Augen.«

Der Großkönig drehte ihm das Gesicht zu. Noch nie hatte Desith einem so kalten, so durchdringenden Blick standhalten müssen. Er sah König Melecay nicht in die Augen, er starrte den Drachen an – oder besser gesagt, die Räder des riesigen Karrens – und rührte sich nicht. Niemand konnte ihn zwingen. Sei stark, Desith!

Doch der Großkönig verstand sich blendend darauf, einen Mann nieder zu starren, Desith spürte bereits, wie seine stolze Haltung immer weicher wurde, wie sein Widerwille einzuknicken drohte, aber er gab nicht nach, biss die Zähne zusammen und blieb an Ort und Stelle stehen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit wandte König Melecay den tödlichen Blick endlich von ihm ab und erwiderte: »Wir warten hier. Wenn die Plane steht, habt ihr Privatsphäre.«

Offenbar hatte Desith irgendetwas richtig gemacht, aber die Erleichterung verkniff er sich.

Sie warteten im Regen, bis das Zelt stand und Derrick darunter verschwunden war. Desith war bis auf die Knochen nass, als sich drei Köpfe zu ihm umdrehten und auffordernd ansahen.

Die Hexe Karrah legte ihm einen Arm um und drückte ihn mütterlich, dabei schob sie ihn allerdings einen Schritt vorwärts. »Der erste Schritt ist der schwerste, danach geht alles wie von selbst«, flüsterte sie ihm zu und strich ihm über den Kopf. »Geht, Prinz Desith, dann habt Ihr es hinter Euch.«

Die Wärme in ihrer Stimme erinnerte ihn an seine eigene Mutter, auch sie war unerschütterlich – einst eine Kriegerin im Kampf gegen die Dämonen – und hatte ihm ihren Mut vermacht.

Sei stark.

Der Weg zum Zelteingang kam ihm unwirklich vor. Noch stand die Front offen, zwei Krieger warteten darauf, sie hinter ihm fallen zu lassen, die Seile waren bereits gelöst und sie mussten nur noch daran ziehen. Er atmete tief durch und ging auf das finstere Innere zu, die Fackeln brannten wie von Geisterhand auf, das musste das Werk der Hexe gewesen sein. Der Lichtschein schimmerte auf Derricks nassen, schwarzen Schuppen als wäre er mit Öl überzogen.

Dann war er drinnen und hinter ihm wurde mit einem lauten »Ratsch« die Plane heruntergerissen, das graue Licht des Tages blieb zurück, er stand mit nassem, durchsichtigen Leinenhemd und triefendem Haar direkt vor der Schnauze des Drachen.

Von diesem Blickwinkel wirkte er noch gewaltiger, die Nüstern wie zwei tiefe Schlünde, die Augen im Hintergrund gefährliche, böse Schlitze.

Rick atmete tief ein und aus, seine Atemzüge erzeugten einen leichten Windzug im Zeltinneren und ließen die Fackeln gefährlich tanzen. Desith befürchtete bereits, sie könnten erlöschen, und es war schon bei Licht schwer genug, nicht wegzurennen.

Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er blieb nur deshalb dort, weil er die Eisenringe anstarrte und sich immer wieder vergewisserte, dass der Drache sich nicht bewegen konnte.

Nach einem Moment atmete er vernehmbar aus, Derricks Nüstern bewegten sich, saugten seinen Duft ein, und grollend hoben sich die Lippen über die weißen Zähne.

»Ja, hier bin ich wieder«, sagte Desith leise, »aber nicht auf Wunsch, glaub mir. Und nein, ich bin nicht dein Abendessen, du dämonisches, garstiges Biest!«

Wenn Rick noch irgendwo dort drinnen gewesen wäre, hätte Desith ihn doch in den Augen des Drachen wiedererkennen können. Eine kleine Veränderung des Bedauerns nur, aber da war nichts als bloße Gier.

»Das bist nicht du«, flüsterte Desith zu sich selbst, »du bist nicht mehr da drin, oder?« Er wusste es nicht, er wusste nur, dass sein Rick ein ruhiger, netter Kerl gewesen war, trotz dämonischer Seite stets besonnen, niemals aufbrausend, beschützend und aufopfernd, ein guter Krieger, der Befehle befolgte, nicht erteilte. Rick, der Vynsu die Krone überlassen hatte, weil er es diesem gegönnt und selbst nie nach Macht gestrebt hatte. Aber diese Bestie vor ihm war selbst für einen Drachen ungestüm, temperamentvoll und schlicht bösartig. Tötete nicht um zu Fressen, er hatte es sie aus Freude tun sehen, hatte am eigenen Leib erfahren, was es bedeutete, in ihr Blickfeld zu treten. Es war, als ob die Drachenform Ricks dämonische Seite hervorgebracht hätte.

Nach einer Weile, da er nur auf die entblößten, drohenden Zähne gestarrt hatte, aber nichts weiter passierte – Derrick konnte das Maul nicht zum Feuerspeien öffnen – , beruhigte sich Desiths Herz ein wenig.

Er wagte es, näher heran zu treten, der Kloß in seinem Hals war wieder da. »Wenn du doch noch da drin bist, Rick, wenn du mich hörst, dann wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, dich zurück zu verwandeln.«

Der Drache grollte böse.

»Nur wandeln«, brachte Desith erstickt hervor, erst da wurde er sich bewusst, dass er flehte. »Ich verlange nichts, Rick, ich verspreche es, du hörst kein Wort von mir, du kannst hingehen, wohin du willst, ich halte dich nicht mehr auf. Aber wenn du mich hörst…«, seine Knie waren weich, aber er wagte dennoch einen weiteren Schritt, starrte in das linke, grasgrüne Auge. »Wenn du mich hörst, Rick, dann bitte verwandle dich zurück. Tu es für mich. Wenn ich dir noch irgendetwas bedeute, dann…« Er streckte eine zitternde Hand aus, wollte Derricks Nüstern berühren. »Bitte verwandle dich zurück. Erinnere dich, werde wieder zum Menschen! Rick… bitte, tu es für mich.« Er berührte fast die Schuppen. »Komm zu mir zurück, jetzt oder nie, vergiss Sarsar nur für einen winzigen Augen-«

Er unterbrach sich selbst mit einem leisen Aufschrei und zuckte zurück. Derrick hatte sich mit einem Ruck gegen seine Fesseln aufgelehnt, sie klirrten, die Plattform protestierte. Desith blieb das Herz stehen, er stellte sich vor, wie die Plattform brach.

Er hatte das Falsche gesagt, den falschen Namen erwähnt. Der Drache wurde wütend, wurde sich seiner Aufgabe und seiner Fesseln bewusst. Immer und immer wieder lehnte er sich auf, wurde wütender, knurrte und brüllte erstickt, wie ein Köter in der Bärenfalle. Das Holz unter ihm splitterte, er versuchte mit aller Kraft, aufzustehen und seine Ketten zu sprengen.

Desith stolperte mit geweiteten Augen rückwärts und fiel unbeholfen auf seinen Hintern. Aus einem unbestimmten Grund schmerzte plötzlich wieder sein verbrannter Arm, erinnerte ihn daran, was geschehen würde, sollte Derrick sich befreien.

»Nein«, hauchte er, die Angst war wie ein Seil, das sich um seinen Hals zugezogen hatte. Er warf sich herum und polterte aus dem Zelt, verfing sich fast in der Plane und schlug wild um sich.

Jemand hielt ihn fest, da brach sich seine Panik bahn, er brüllte und wandte sich unter Anwendung von Gewalt aus dem stahlharten Griff des anderen.

»Nein!«, schrie er. »Lasst mich los! Lasst mich sofort gehen! Rick ist weg!« Er schubste den, der ihn festgehalten hatte, und erkannte, dass es Vynsu war, der ihn erschrocken anstarrte.

Krieger eilten heran, Armbrüste bereit, der Großkönig und die Hexe Karrah verschwanden im Zelt, Magie knisterte in der Luft.

Desith atmete schwer, die Panik ließ ihn nicht los. »Er ist weg«, raunte er noch einmal, dann taumelte er davon.

Vynsu rief ihm etwas nach, aber er blieb nicht stehen, wurde immer schneller und schneller, bis er rannte und die Pfützen, die der Regen verursacht hatte, unter seinen Stiefel feucht patschten.

Er wusste nicht, wohin er eilte, er spürte nur die Gefahr im Nacken, bildete sich ein, das Holz und die Ketten brechen zu hören, wollte nur so weit wie möglich fort. Zeltwände reihten sich dicht aneinander, er stieß mehrfach mit mürrischen Knechten und erschrockenen Mägden zusammen.

Leider rannte er nicht so weit, wie erhofft, denn er war noch immer nicht bei vollen Leibeskräften, die Erschöpfung holte ihn ein, aber er fand Zuflucht in einem Vorratszelt zwischen gestapelten Kisten und Fässern. Es lag Stroh auf dem Boden, das feucht roch und klamm war, als er sich hineinfallen ließ und schwer atmete.

Seine Gliedmaßen zitterten, als er sich nach vorne lehnte und das Gesicht in den Händen vergrub, er wollte schreien – aus Frust, aus Angst, aus Trauer – doch ihm entkam nur ein scheußliches Schluchzen.

Er wusste nicht, wie lange er so dort saß, vermutlich nicht sehr lange, als plötzlich ein Schaben laut wurde und ein Schatten über ihn fiel.

Desith schniefte und lehnte sich gegen ein Fass. Er sah zu Vynsu auf, konnte dessen undurchdringlicher Miene aber nicht standhalten und blickte zur Seite.

»Sag es«, flüsterte er matt, »ich bin erbärmlich… Ein Schwächling.« Eine seltsame, mutlose Leere erfüllte ihn, als ihm das gewahr wurde.

Er war ein Nichts.

Die Erkenntnis glich einem Hammerschlag, der alles in ihm zertrümmerte. Alles, was er je geliebt hatte, jede Freude, jede Schönheit, jede Wonne zerbrach wie eine Glasscheibe. Er war ein Nichts, hatte nie etwas erreicht außer der Liebe zu Derrick. Und die war ebenso zerbrochen.

Er zog die Beine an die Brust und umschlang seine Knie. »Bring mich heim«, bat er.

Doch Vynsu forderte nur: »Komm mit.«

»Ich gehe nicht zurück zu diesem Biest«, zischte Desith mit Tränen in den Augen. Wut wallte in ihm auf wie ein stickiger Sommerwind in der Wüste. »Ich will soweit von ihm weg, wie ich kann. Bring. Mich. Heim.«

Vynsus Blick ruhte einen Moment auf ihm, dann atmete der Barbar hörbar aus, etwas Mitgefühl schlich sich in seine Augen. »Ich bring dich nicht zu Derrick.«

Verwirrt sah er zu Vynsu auf.

»Vertrau mir und steh auf. Du siehst aus, als ob du einen großen Becher Met gebrauchen könntest.«

Kapitel 9

»Das ist nicht gut«, murmelte Jori dicht neben ihm.

Melecays persönliche Schar hatte sich das Hauptzelt unter den Nagel gerissen, sodass Gedränge um und an den Tischen entstanden war, wie der Schankraum einer beliebten, überfüllten Wirtschaft an einem heiligen Feiertag.

Saufen für den Allvater war eine beliebte Beschäftigung, saufen auf den Großkönig natürlich noch mehr, dabei war es völlig gleich, dass Derrick nur als Drache zurückgekehrt war, gefesselt, und wohlbemerkt bei seiner Gefangennahme gleich fünf Krieger verspeist hatte. Doch der Tod wurde in Carapuhr nicht so beklagt wie in anderen Kulturen, sie feierten die Toten, tranken auf sie.

Vynsu lehnte mit Jori in einer hinteren Ecke an einem Regal voller Metfässer und begutachtete das Treiben stumm. Es wurde gegrölt, gelacht, gefeiert, die Geräuschkulisse glich dem Chaos auf einem Schlachtfeld. Doch das waren sie gewohnt und das hatte Jori auch nicht gemeint.

»Er hatte recht«, seufzte Vynsu bedauernd und blickte gemeinsam mit Jori durch den Raum zu Desith, der an einem Tisch zwischen den Barbaren saß, klein und verloren wirkte, und brütend in seinen Hornbecher starrte. Er hatte kein einziges Wort gesagt.

»Desith hatte Recht, Jori. Derrick wird sich nicht für ihn zurückverwandeln.«

Jori schob sich ein Stück Brot in den Mund sah Vynsu kauend an. »Was sagt unser Großkönig dazu?«

»Nicht viel«, Vynsu zuckte mit den Schultern, »es hat sich nichts verändert. Er hat meine Mutter eingespannt, herauszufinden, wie sie Derrick gegen seinen Willen zurückverwandeln können. Er will auch Boten an Kaiser Eagle schicken, immerhin ist Elkanasai für seine magischen Lehren bekannt.«

Jori kaute nachdenklich auf einem weiteren Bissen Brot herum.

Leise fügte Vynsu hinzu: »Natürlich will er noch immer, dass Derrick sein Erbe wird und er mit Desith vermählt wird, um das Bündnis zwischen Carapuhr und Elkanasai zu stärken.« Sie sahen sich an, dann blickten sie wieder hinüber zu Desith, dessen leerer Blick verloren und verweint wirkte.

»Sah mir nicht so aus, als ob der Rotschopf dazu Lust hätte«, bemerkte Jori. »Jugendliebe hin oder her, ich habe gesehen, wie er davongelaufen ist. Sah mir mehr nach Angst als Zuneigung aus.«

Das war Vynsu nicht entgangen, er mahlte mit den Kiefern und starrte auf den zertretenen Boden unter seinen Füßen. Er musste tun, was sein Onkel von ihm verlangte, er musste Desith weiter bewachen und dafür sorgen, dass er ihnen nicht davonlief. Ihn daran erinnern, wem er einen Treueeid geleistet hatte – und an die Konsequenz, sollte er ihn brechen.

Aber wie sollte er das mit seinem Gewissen vereinbaren, er hatte schon einmal jemanden gegen seinen Willen und ohne Rücksicht auf Gefühle in eine Ehe gezwungen – und was war daraus geworden? Nur Schuld und Trauer und Tod. Und zwei Halbwaisen, die zurückblieben.

Wie konnte er einfach dabei zusehen, wie Desith das Gleiche angetan wurde wie dessen Schwester. Er hatte angenommen, dass Desith und Derrick noch immer verliebt waren, aber das waren sie nicht. Und wenn doch, war diese Liebe nicht groß genug, um die Furcht vor dem Drachen zu überwinden.

Vynsu glaubte, dass da noch etwas anderes war, etwas, das Desith nicht nur Angst eingeflößt, sondern auch maßlos enttäuscht hatte. Da war mehr als Furcht in seinem Blick, das spürte Vynsu, er konnte nur nicht benennen, was es war.

Und Desith redete nicht.

Jori sah ihn von der Seite an. »Also, was machen wir jetzt? Bist du Großkönigs treuer Köter«, er senkte die Stimme, »oder hältst du dein Versprechen gegenüber Desith?«

Vynsu verzog genervt die Lippen und sah Jori an. »Ich glaube noch ein weiteres Mal lässt mir Melecay kein Ungehorsam durchgehen.«

»Er hat dir dein Recht auf die Krone entzogen«, warf Vala ein, die sich von hinten anschlich und sich an Vynsus Seite schmiegte. Sie trug nur ein Leinenhemd und ihre weiche Brust drückte sich an seinen harten Oberarm. »Was kann er dir jetzt noch nehmen?«

Vynsu sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Mein Leben?«

»Wie viel ist es denn noch wert?«, konterte sie mokant. »Deine einzigen Freunde sind eine kleine Gruppe Söldner, die dich wie einen ausgesetzten Welpen von der Straße geholt haben, als du das letzte Mal davongelaufen bist.«

Bragi schlenderte ebenfalls aus dem Gedränge heran und stellte sich dicht neben Jori. »Jemand sollte mit ihm reden«, mischte er sich ein und legte mitleidvoll den Kopf schief, während sein Blick auf Desith ruhte. »Der arme Kleine, ich glaube, ich setze mich mal zu-«

»Nein!«, bellten Jori und Vynsu wie aus einem Munde. Da Bragi bereits einen Schritt nach vorne gemacht hatte, musste Jori ihn an seinem Umhang wieder zurückzerren.

»Das fehlt uns gerade noch«, kicherte Vala in ihren Becher, den sie gerade zum Mund führte, »dass du mit Derricks versprochenem Prinzen erwischt wirst.«

Bragi leckte sich obszön die Lippen. »Ich werde ihn vergessen lassen, dass Derrick überhaupt je existiert hat.« Sein Lachen erstarb, als er Vynsus bösen Blick bemerkte. »Entschuldige, Prinz.«

Vynsu presste warnend hervor: »Es ist immer noch Derrick, über den wir hier reden.« Und er duldete kein schlechtes Wort über diesen. Derrick war ihm wie ein großer Bruder, Melecay hatte sie immer so behandelt, wie zwei Söhne, die um seine Krone streiten sollten. Aber Derrick war nie daran gelegen, in die Fußstapfen seines Ziehvaters zu treten, er hatte Vynsu schlicht den Vortritt gelassen.

Lass nicht zu, dass die Krone zwischen uns steht. Brüderlichkeit sollte immer über Macht stehen.

Zu gerne hätte er gewusst, was Derrick dazu zu sagen hätte, dass er nun doch der Erbe Carapuhrs war. Vermutlich wäre er der einzige Mann, der seinen Ziehvater hätte zur Vernunft bringen können.

Aber Desith hatte Recht, freiwillig wollte der Drache Derrick nicht freigeben.

Und obwohl er es nicht zulassen wollte, fühlte Vynsu sich ebenso von Derrick im Stich gelassen wie Desith, der lethargisch in seinen Becher starrte, als wäre er in einem Alptraum gefangen.

*~*~*

Unfassbar. Das dachte er, als er sie sah. Nicht auf eine überraschte, freudige Art, wie ein Zirkusbesucher unfassbar gewesen wäre, wenn er ein exotisches Tier vorgeführt bekam. Sondern schlicht maßlos empört.

Desith kannte ja Vynsus Anziehung auf das weibliche Geschlecht, er wusste auch, dass der Prinz von Carapuhr sich nie zu schade gewesen war, damit zu prahlen und jeder Versuchung zu erliegen.

Trotzdem war er stinksauer, als der Abend immer später wurde – fließend in eine tiefe Nacht überglitt – und Vynsu immer ausgelassener in seinen Becher blickte, während die große, schlanke Kriegerin mit dem kurzen, blonden Haar von Augenblick zu Augenblick immer näher an ihn heranrückte, bis sie fast auf seinem Schoß saß.

Vynsu hatte sich zu ihm gesetzt, sich ihm gegenüber auf die Bank niedergelassen, die blonde Frau war ihm gefolgt. Sie feierten, während Desith sich ausgeschwiegen hatte.

Allmählich konnte er es nicht mehr mitansehen. Auch wenn er wusste, was für ein Bursche Vynsu gewesen war, er hatte gedacht, dass er sich in den letzten Jahren die Hörner abgestoßen und sich verändert hatte. Desith hatte es um seiner Schwester willen so sehr gehofft.

Er hatte herausgehört, dass die Kriegerin zu Vynsus Männern gehörte. Während der Prinz also auf Reisen ging und mit dieser … dieser Fotze fickte, saß Desiths Schwester unwissend allein in irgendeiner kalten, beschissenen Burg herum.

Natürlich machte ihn das wütend, zusätzlich zu all der Enttäuschung gegenüber Derrick.

Sie hatten versucht, ihn zum Reden zu bringen. Vynsu mit Einfühlsamkeit, die Frau mit Met und amüsanten Anekdoten. Anfangs hatte Desith sie noch für freundlich gehalten, hatte ihre schmutzige Art zu Lächeln sogar gemocht, ebenso ihren schwarzen Humor. Aber je intensiver ihre Brust an Vynsus Arm klebte, je weniger war sein Respekt vor ihr geworden.

Er wollte nicht reden, also waren sie dazu übergegangen, miteinander zu sprechen, zu schäkern, zu trinken. Vynsu lächelte sogar mal, nicht sehr breit, aber er lächelte. Das brachte Desith noch mehr zur Weißglut.

Irgendwann hielt er es nicht mehr aus, er sprang auf. Vynsu verstummte gerade mitten im Lachen und starrte überrascht zu ihm auf. Desith wollte ihm etwas ins Gesicht schleudern, hielt sich aber zurück. Er sah ihn einfach mit bebenden Nasenflügeln und gebleckten Zähnen an, wollte ihn mit allerlei Schimpfwörtern belegen, brachte vor Wut aber nichts heraus.

Schließlich schnaubte er nur herablassend, stieg über die Bank und bahnte sich einen Weg durch riesige, halbnackte, halb in Felle gehüllte Barbaren, die nach altem Schweiß und Dung stanken, nach draußen.

Die Nachtluft war für Elkanasai typisch feucht und heiß, der Regen hatte aufgehört und über dem Lager hing ein klarer und schimmernder Sternenhimmel.

»Desith!« Vynsu donnerte regelrecht aus dem Zelt.

Desith ging einfach weiter. Hinter ihm sah Vynsu gehetzt von links nach rechts, das tat er zweimal, bis er Desiths schlanke Gestalt endlich erkannte und ihm nacheilte. Seine Schritte platschten in den tiefen Pfützen, die zwischen den Zeltreihen lagen.

»Warte, Desith!«, bat er.

Kopfschüttelnd ging Desith weiter, die Arme vor der Brust verschränkt. Vynsu täte gut daran, ihn allein zu lassen, bis die erste Wut verraucht war. Ansonsten würde er sich gleich umdrehen und ihm ins Gesicht schlagen.

»Bitte, warte!« Der Barbar packte mit seiner großen Pranke grob Desiths Schulter und wirbelte ihn mit einem Ruck zu sich herum.

Desith sah sich plötzlich von Angesicht zu Angesicht vor ihm stehen – und wollte ihm noch immer die Nase brechen.

»Es ist nicht so, wie es aussah…«

Desith schnaubte. »Halte mich bloß nicht für so dumm! Und geh mir lieber aus den Augen, bevor wir beide etwas tun, was wir bereuen!«

Vynsu runzelte die Stirn, kam aber nicht mehr dazu, etwas zu sagen, denn Desith drehte ihm wieder den Rücken zu und wollte gehen.

Dieses Mal schnappte sich Vynsu Desiths Handgelenk, um ihn erneut zu sich herum zu drehen.

Desith prallte fast gegen seine breite Brust, er knirschte angestrengt mit den Zähnen.

»Lass mich los«, warnte er schneidend, »oder du wirst es bereuen.«

»Vala und ich schäkern ab und zu, aber wir liegen nicht beieinander. Desith, sie ist nicht … sie würde nie … Verdammt, sie liegt nur bei Frauen, in Ordnung? Wir haben nur Spaß, wir sind Freunde«, sagte Vynsu so eindringlich – so scheinheilig – dass Desith aus der Haut fuhr.

»Wie kannst du es wagen?« Er entzog sich Vynsus sanftem Griff und trat einen großen Schritt vor ihm zurück, seine Augen versprühten frostiges Gift. »Hältst du mich für so einfältig? Und wie kommst du dazu, vor meiner Nase mit einer anderen Frau anzubandeln? Du bist mit meiner Schwester verheiratet! Was fällt dir ein, auch nur eine anderes Weib anzusehen? Und zwar direkt vor meiner Nase, du barbarischer Hornochse!«

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