Loe raamatut: «Schau nicht hin, schau nur geradeaus»
Über dieses Buch
Gerlinde ist sechs Jahre alt und lebt in Matschdorf, einem winzigen vorpommerschen Dorf an der Eilang, einem Oder-Zufluss. Die langen warmen Sommertage 1944 sind trotz des Kriegs von Spielen, von Streichen, Pfirsiche-Klauen und dem Vertrauen in eine einigermaßen heile Welt geprägt. Im Herbst darf Gerlinde in die Schule, doch die besucht sie nur zwei Monate.
Heiligabend 1944 flieht sie in der Nacht mit ihrer Mutter Elisabeth und ihren beiden Brüdern heimlich, ohne Wissen der anderen Dorfbewohner, über die vereiste Oder. Vier Monate lang, bis zur Kapitulation Nazi-Deutschlands, flüchten sie mit einem Treck vor der heranrückenden Roten Armee.
Als der Krieg zu Ende ist, hoffen sie auf Frieden, ein Wiedersehen mit den Lieben und einen Neuanfang. Doch der Versuch ihrer Rückkehr in den Oderbruch wird zu einer Reise in Hunger, Verlust und Gewalt.
»Schau nicht hin, schau nur geradeaus« erzählt aus der Perspektive des kleinen Mädchens, wie Kriegsfolgen zu traumatisierenden ›Ur-Erfahrungen‹ werden. Die ›Kriegskinder‹ von damals sind die Eltern der heutigen ›Kriegsenkel‹.
Die Autorin, Jahrgang 1960, ist eine von ihnen. Seit Jahrzehnten hat sie sich gefragt, wieso sie die ›deutsche Schuld‹ trotz der Nicht-Verstrickung der eigenen Familie so stark berührt und beschämt. Aus langen dokumentierten Gesprächen mit der eigenen Mutter hat sie deren Geschichte destilliert, die hautnah nachfühlen lässt, was die Epigenetik heute beweisen kann: dass schwere Traumata sich in unser Erbgut schreiben.
Ein deutsches Schicksal? Auch. Vor allem aber eines, das alle Menschen auf der Welt teilen, die frühe Kriegs-, Gewalt- und Fluchterfahrungen machen mussten. Wie individuelles Erleben der einen Generation die Realität der nächsten prägt, zeigt diese gleichermaßen persönliche wie gesellschaftlich hochaktuelle Erzählung.
Die Autorin
Birgit Kahle ist seit den frühen 1990er Jahren als Journalistin, Autorin und Kommunikationsberaterin tätig. Zahlreiche Publikationen in Print und Hörfunk beschreiben das ›gute Leben‹ ebenso wie das politisch brisante. Von der reinen ›Sachebene‹ hat sie sich erst einmal entfernt: »Schau nicht hin, schau nur geradeaus« ist ihr zweites belletristisches Buch.
Birgit Kahle lebt und arbeitet in Bielefeld und Berlin.
Birgit Kahle
Schau nicht hin,
schau nur geradeaus
Geschichte einer deutschen Flucht 1945
Dokumentarische Erzählung
Mit einem Vorwort von Ingrid Meyer-Legrand
Edition diá
Inhalt
Vorwort
Muscheljahre
Schau nicht hin
Schau nicht her
Schau nur geradeaus
Das neue Leben
Epilog
Nachwort der Autorin
Mein Dank
Leseempfehlungen
Impressum
Aribert, Gerlinde, Elisabeth, Ekkehard
»Verzweiflung ist eine Form von Gewissheit. Der Gewissheit nämlich, dass die Zukunft der Gegenwart sehr ähnlich oder aber unerfreulicher sein wird.«
Rebecca Solnit
Vorwort
Was wäre, wenn wir alle die Geschichte unserer Mütter noch einmal erzählten? Radikal aus ihrer Perspektive? So wie es in dem vorliegenden Buch von Birgit Kahle geschieht: Eine Tochter schreibt die Geschichte ihrer Mutter aus der Perspektive eines fünfjährigen Kindes, das die Mutter zur Zeit ihrer Flucht im Rahmen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs war. Sie schreibt auf, was ihre Mutter ihr heute von damals erzählt, und zeichnet jede Bewegung dieser kurzen Zeitspanne ihres Lebens nach, die dann doch ihr ganzes Leben prägt.
Es macht vor allem eines deutlich: Unsere Mütter hatten ein Leben vor uns Kindern. Das haben wir natürlich immer schon gewusst, aber erklären konnten wir uns bestimmte Verhaltensweisen unserer Mütter dennoch nicht. »Mama hat etwas ganz Schlimmes erlebt«, hieß es so manches Mal zur Entschuldigung ihres befremdlichen Verhaltens in der Familie. Dieses Kind, das wir in dem Buch erleben, dieses so früh verletzte Wesen in unserer Mutter haben wir, die wir mit traumatisierten Müttern aufgewachsen sind, immer schon wahrgenommen. Es war immer schon da, als beständige Sorge und als dringender Wunsch: Wie können wir sie trösten? In diesem Resonanzraum sind wir Kinder der Kriegskinder, wir Kriegsenkelinnen und Kriegsenkel, groß geworden.
Wozu ist es gut, dass wir uns die Geschichte und die Geschichten unserer Mütter ganz genau ansehen und sie uns noch einmal anhören, zu Ende anhören, wie einst Verena Kast gefordert hat: Hört euch einfach einmal die Geschichten von Anfang bis Ende an!
Und tatsächlich, wir hören hier die ganze Geschichte und tauchen tief ein in die vielen grauenvollen Szenen dieser verheerenden Flucht und sehen ihr dabei zu, wie sie dieses Grauen aushält, wie sie ihr Leben trotz alledem gestalten und mit aller Kraft weiterleben will. Und wir atmen auf in Momenten, wo sie wieder aufatmen kann. Deswegen lohnt es sich, unseren Müttern bis zum Ende zuzuhören. Sie haben es überstanden, und wir können sie fragen: Wie habt ihr das geschafft? Woher habt ihr die Kraft genommen, die Zuversicht, die Hoffnung? Sie waren doch noch Kinder!
»Ich fühle, was du fühlst«, scheint Birgit Kahle mit diesem Buch zu sagen und sucht Antworten jenseits von Bewertung und Abwertung. Wer diesen Weg beschreitet, hört auf zu beurteilen und beginnt zu verstehen, wie die Mutter die geworden ist, die sie ist. Und nun ist endlich auch der Blick frei für die Frage nach der eigenen Identität.
Denn unsere Identität schlummert nicht einfach in uns, sondern ist das Ergebnis von Resonanzen, von Schwingungen, die von Generation zu Generation übertragen werden – über geteilte Erfahrungen, heftige Auseinandersetzungen, Hoffnungen, Freuden, Ängste und Erwartungen. Und über die Kraft!
Wie bin ich geworden, wer ich bin, lässt sich aus dieser Perspektive auch als Liebeserklärung an die erste große Liebe unseres Lebens formulieren: Ohne sie, ohne meine Mutter, wäre ich nicht die, die ich heute bin.
Ingrid Meyer-Legrand, im Juni 2020
Muscheljahre
Gerlinde
14. Juli 1944
Papas DKW wird immer kleiner. Er schrumpft, und so recht kann mir niemand erklären, wie das geschieht. Erst fehlte nur ein Vorderrad. Jemand hat an seine Stelle ein paar Ziegelsteine gelegt und den Wagen damit aufgebockt. Ich dachte zuerst, das Rad wird bestimmt irgendwann ersetzt. So ein Dampf-Kraft-Wagen ist schließlich etwas Besonderes, den hat nicht jeder.
Später habe ich geglaubt, Papa wird sich schon darum kümmern, wenn er wiederkommt. Aber bis jetzt kommt Papa nicht. Er schickt Pakete. Aus Frankreich kommen sie, mit der ›Feldpost‹. Sorgfältig verschnürt und mit ganz viel Leckereien darin. Auch Sachen, die ich noch nie vorher gesehen oder gegessen habe. Die Pakete machen ein Gefühl wie mitten im Jahr ›Bescherung‹. Nur ohne Baum. Letzten Herbst waren Esskastanien darin. Ich wollte die erst gar nicht probieren. Aber Mutti hat sie dann für uns im Ofen geröstet. Ich habe wirklich noch nie zuvor so etwas Leckeres gegessen!
Unter Feldpost stelle ich mir etwas Schönes vor: Eine Art Schalter auf der grünen Wiese mit einem Posthorn, wo jeder, der mag, ein Paket oder einen Brief abgeben kann. Papa und seine Kameraden machen das so, aber auch Hasen und Füchse, Igel und Rehe.
Mutti sagt, dass Papa beim Franzosen ist. Das sei ein Glück. Das sehen meine Brüder auch so: Ekkehard, mein ältester Bruder, hat eines Tages ein Riesenpaket bekommen, das war ungelogen größer als er selbst. Na ja, er selbst ist auch nicht soo groß, aber trotzdem. Da waren tatsächlich ein paar Skier drin – direkt aus Frankreich, von einer echten französischen Marke, rot lackiert und mit allen Schikanen. Für Ari kam eine Woche später genauso ein Paket. Mitten im Sommer.
»Elefantös!«, hat Ekkehard gerufen, als er seine ausgepackt hat. Er bringt jetzt immer neue Wörter mit aus seiner Schule in Frankfurtoder, die Mutti fürchterlich findet. Also die Wörter, nicht die Schule.
Für Mutti kam feine Lyoner Spitze in einem Extrapaket, die hat sie jetzt oben an den Ausschnitt ihrer weißen Sonntagsbluse genäht. Aber irgendwie trägt sie die seither nie, auch nicht sonntags. Wahrscheinlich spart sie die jetzt genauso ›für gut‹ auf wie unsere Stube: Da werden eigentlich nur zu Weihnachten mal die Bettlaken von den Möbeln genommen. Was für eine Verschwendung! Eines steht fest: So etwas machen wir in unseren Wohnungen später nicht, das habe ich schon heimlich mit Gerda und Lotti abgemacht.
Für mich hat Papa zum Geburtstag tatsächlich ein Fahrrad geschickt, knallrot ist das und ganz neu! Mit Stützrädern zum Üben, weil ich noch nicht fahren kann. Ari wollte mir natürlich gleich zeigen, wie es geht. Dann hat er sich aber mit dem Rad einfach davongemacht, bevor ich es überhaupt ausprobieren konnte! Kantaper, kantaper, die Straße runter, und weg war er. Das war so unglaublich fies von ihm. Diese Knalltüte macht hier einen auf groß! Mutti hat dann später ein Machtwort gesprochen: Ari hat zur Strafe keine Plinsen als Nachtisch gekriegt, ich dafür sogar eine süße Schnecke extra. So.
Und jetzt übe ich jeden Tag. Bald kann ich ohne Stützräder fahren. In das Körbchen hinten setze ich immer meine Susi. Die hat Papa letztes Jahr zu Weihnachten geschickt. Als der Postbote damals mit dem Paket ankam, hat es ein Geräusch gemacht, das klang wie ›Maamaa‹. Ich fand das lustig, habe aber trotzdem nicht kapiert, was drin war. Denn Ari, Ekkehard und ich, wir alle sagen ›Mutti‹ zu Mutti, nicht ›Mama‹. Und ›Papa‹ zu Papa, nicht ›Vati‹.
Das Wort ›Vati‹ ist in unserer Familie für Muttis Papa reserviert. Der ist im ersten Krieg geblieben. Das heißt, er ist gestorben.
Und Mutti will einfach nicht, dass irgendjemand anders bei uns ›Vati‹ genannt wird.
Das Komische ist nur, dass auch Oma Sobbels immer von ›Vati‹ spricht, wenn sie ihren toten Mann meint. Das klingt jetzt ziemlich kompliziert. Bei uns weiß aber eigentlich jeder, wer gemeint ist, wenn von ›Vati‹ die Rede ist: Opa Sobbels.
»Vati ist fürs Vatiland gefallen«, hat Ari mal halb scherzhaft gesagt – und sich dafür von Mutti ein paar ordentliche Schellen eingefangen. Das verstehe wer will, denn er hatte schließlich recht. Auch wenn das natürlich nicht richtig witzig ist. Erwachsene sind komisch: Sie sitzen nie auf ihren guten Sofas, und wenn jemand mal gradheraus die Wahrheit sagt, dann setzt es saftige Ohrfeigen.
Meine Susi hat Papa mir also im vergangenen Jahr zu Weihnachten geschickt, als Trost für mich, weil er keinen Heimaturlaub bekommen hatte. Alle anderen Geschenke kamen aber vom Weihnachtsmann, das steht fest.
Ich fände es nur viel schöner, wenn Papa endlich wieder hier wäre. Dann könnte ich mit ihm im Auto fahren oder im Ruderboot, und er würde mir etwas vorsingen. Er hat für uns alle ein Lied geschrieben, über die Eilang. Das ist der kleine Fluss, der durch unseren Garten fließt.
›Durch den märkischen Sand so golden‹ heißt es in Papas Lied. Denn der Boden ist hier wirklich sandig und sehr trocken. Wir wissen auch alle nicht, warum unser Dorf Matschdorf heißt. Ich finde das aber gut so, also dass es so trocken ist. Ich mag nämlich keinen Matsch. Und Mutti auch nicht. Wenn ich früher mal mit schmutzigen Händen vom Spielen am Ufer reinkam, hat sie mich immer kleiner ›Modderpeizker‹ geschimpft. Das war zwar nicht böse gemeint, aber allein das Wort ist ja schon fies.
Die Orte hier in der Gegend hatten wohl früher alle mal so komische Namen. Wiesenau, da wo Oma Sobbels wohnt, hieß früher Krebsjauche. Igitt! In der Nähe gibt es dann noch Lieberose und Müllrose.
»Für die Blühenden und die Verblühten«, scherzt Papa gern, und Mutti verdreht dann immer die Augen, weil sie das schon so oft gehört hat.
Am besten von all den Ortsnamen gefällt mir aber Siehdichum. Das klingt, als ob man da gut Verstecken spielen könnte. Ich war aber noch nie da. Papa macht oft Witze darüber, dass die in der Mark Brandenburg ein Händchen für komische Namen haben. Er stammt zwar eigentlich auch von hier, legt aber großen Wert darauf, dass seine Urgroßeltern aus Schweden stammen. Papa hat einen schönen Namen, und deswegen heißen Mutti und meine Brüder und ich auch so: Lilie.
Eine Blume als Nachnamen zu haben, das finde ich richtig gut. Obwohl, Gerlinde Stiefmütterchen würde ich nicht so gern heißen wollen.
Irgendwo weiter weg mündet unsere Eilang dann in die Oder, hat mir Ekkehard erklärt. Dass unser Fluss dann einfach weg ist und zu einem anderen wird, verstehe ich nicht. Es bedrückt mich, dass die Eilang dann einfach nicht mehr da ist.
* * *
Gestern hat wieder jemand Teile von Papas Auto abgebaut. Es steht jetzt vorne nur noch auf vier Ziegelsteinen. Ich finde das ziemlich unerhört.
»DKW steht für ›Das Kleine Wunder‹«, ulkt der alte Wittich gerne. »Deshalb löst er sich wahrscheinlich auch langsam auf! Jaja, der deutsche Kraftwagen. Hart wie Kruppstahl und rumpelig wie ’n Walkürenritt.«
Mutti schmunzelt dann meist, seltsam. Aber mir gefällt das nicht; ich glaube, Wittich ist bloß neidisch.
Es ist nämlich ein ausgesprochen schöner Wagen, mit dicken Polstern aus hellbraunem Leder.
Ich schleiche mich oft in die Garage und setze mich rein. Es riecht so schön, irgendwie aufregend. Ein bisschen staubig auch, aber das macht nichts. Ich sammle immer die toten Fliegen auf und werfe sie aus dem Fenster. Mit Spucke und einem von Papas weißen Taschentüchern wische ich die Fliegenschisse von den Sitzen. Früher habe ich auch die Spiegel damit geputzt, aber die sind nun schon seit Monaten weg. Das macht mich zornig, denn ich finde, Papa hat es verdient, dass er sein Auto wiederbekommt, wenn er es schon so lange beim Franzosen aushalten muss. Hier im Dorf hat sonst kaum jemand ein Auto. Papa aber schon, denn er leitet die Schule. Und er schreibt die Leute auf, wenn sie heiraten oder wenn einer stirbt. Jedenfalls hat er das getan, bis er ins ›Feld‹ musste.
Ich vermisse es auch, dass er sonntags nicht mehr in der Kirche die Orgel spielt. Die alte Trine, die ihn vertritt, kann nicht mal richtig den Takt halten. Da macht das Mitsingen keinen Spaß.
* * *
Eigentlich ist es vielleicht ganz gut so, dass unser Auto nicht mehr fahren kann. Weil ein Auto vor zwei Jahren Lumpi überfahren hat. Lumpi war mein schwarzer Langhaardackel – und so süß. Ausgerechnet in unserem winzigen Matschdorf: Also, da kommt vielleicht alle Jubeljahre mal ein Auto durch! Ausgerechnet hier hat einer meinen Lumpi überfahren. Er war sofort tot. Oh, was haben wir alle geweint. Ekkehard und Ari haben im Garten ein Grab für Lumpi ausgehoben, und Mutti hat ein altes Tischtuch gespendet, in das haben wir Lumpi eingewickelt. Als wir ihn gerade in die Erde legen wollten, da fingen die Kirchenglocken an zu läuten. Wir haben auf dem Rasen gehockt und alle nur geheult. Nur Mutti nicht. Die weint eigentlich nie.
Kaum war eine Woche rum, da hatte Mutti einen neuen Hund für uns besorgt. Bobbi, auch einen Dackel, aber braun und kurzhaarig. Bobbi ist so was von verfressen! Ganz anders als Lumpi, das war ein ganz Lieber, der schmuste immer mit mir.
Bobbi, na ja, der ist so ein ›Hoch und Niedrig‹. Ein richtiger Wildfang. Er streunt nur herum und klaut alles, was ihm gefällt. Großvater Lilie hat vor vier Wochen mal aus Wiesenau seinen Knecht zu uns geschickt, mit einem schönen großen Stück Butter. Was für sich genommen schon ein kleines Wunder war, weil Großvater ein wenig kniepig ist. Kaum hatte der Knecht das Stück für Mutti auf den Küchentisch gelegt, da hatte Bobbi es sich schon geschnappt. Danach hat er gekotzt wie sonst was. Aber die gute Butter war weg.
Mutti sagt, sie steht jetzt in Großvaters Schuld für etwas, das sie eigentlich nie bekommen hat. Aber das darf der nie erfahren, ich musste es schwören.
* * *
Gestern haben wir dem alten Wittich wieder mal einen Streich gespielt. Den hat Ari ausgeheckt. Ekkehard ist ja meistens in seiner ›Obertertia‹, also auf dem Gymnasium in Frankfurtoder. Der alte Wittich ist Verwalter auf dem Schloss, das an unseren Garten grenzt. Mutti sagt, es ist kein Schloss, sondern nur ein Gutshof, aber ich sage immer Schloss. Die Schöneich-Karoleits, denen das Gut oder das Schloss gehört, sind eigentlich nie da. So richtig adlig sind sie auch nicht. Nur einmal, da habe ich den Major gesehen. Der ist mit glänzenden Stiefeln durch das Tor geritten und hat Mutti und mich sehr freundlich gegrüßt.
Mir ist es recht, dass niemand dort richtig wohnt, denn dann können wir besser im Park und am Ufer spielen. Der alte Wittich passt zwar auf das Gut auf und schaut, dass keiner was klaut, aber uns bemerkt er nicht immer. Wir klauen ja auch nichts, wir spielen nur Prinzessin und Prinz. So herum, also nicht Prinz und Prinzessin.
Wenn Wittich an der Eilang angelt, dann hat er oft keine Lust so lange zu warten, bis einer anbeißt. Er legt dann Köder aus: An Schnüren hängen die im Wasser. Später am Tage geht er dann nachschauen, ob was angebissen hat. Die Eilang ist voller Fische, da kann man schon ganz schön was rausholen. Papa hat mal einen Hecht gefangen, der ging ihm ungelogen bis zur Hüfte! Papa ist zwar nicht groß, aber trotzdem. Wir mussten dann vier Tage lang Hecht essen. Mutti hat auch etwas davon geräuchert, damit es länger hält.
Die Blase von dem Fisch hat Papa getrocknet und später in der Stube an die Lampe gehängt.
Als dann ein paar Wochen später der Metzger zu Besuch kam, der ist so ein bisschen ein Hornvieh, hat der gefragt: »Mensch Bernhard, wann habt ihr denn ohne mich geschlachtet?«
»Wieso?«, hat Papa harmlos gefragt. Er kann das gut, er verzieht dann keine Miene, auch wenn alle anderen schon lachen müssen.
»Na ja, das ist doch eine Schweinsblase da oben«, hat der Metzger gemeint. Nee, die ist von einem Fisch, hat Papa geantwortet und sich gefreut, wie der Metzger das erst nicht glauben wollte.
»Das ist doch bloß dein Anglerlatein«, hat er kopfschüttelnd gemeint. Erst als er sich das Ding an der Lampe von Nahem angeschaut hat (und daran gerochen!), da hat er erkannt, dass Papa die Wahrheit sagt. Papa lügt nicht. Er ist ein Ehrenmann. Das sagen alle.
Jedenfalls sind Ari und ich zu der Stelle gefahren, wo Wittich seine Schnüre ausgelegt hat. Wir können nämlich direkt unten im Garten in den kleinen Kahn steigen, den Papa da festgemacht hat. Wir fahren damit immer durch die tief hängenden Weiden. Das ist so schön im Sommer!
Wenn Ari rudert, darf ich mich ins Boot legen und mir durch die Zweige die Sonne ansehen, wie sie dort hindurchscheint. Das ist ein einziges Geglitzer, und wenn ich lange genug hinsehe, wird mir oft ein bisschen komisch, aber schön komisch. Mutti sagt, ich soll das lassen, das ist nicht gut für die Augen, aber ich mache es trotzdem. Gestern mussten wir aber schnell machen, denn Ari hat ein kleines Messer genommen und damit all die Köder von Wittichs Schnüren abgeschnitten. Ich musste in der Zeit achtgeben, dass wir nicht abtreiben. Da durfte ich das erste Mal die Ruder halten, das war ganz schön anstrengend. Aber ich habe es geschafft.
Später haben wir uns an der Biegung hinten im Schlosspark an der Uferböschung auf die Lauer gelegt. Wir haben fast zwei Stunden gewartet. Mir war langweilig, und ich bin eingeschlafen. Ari hat mich dann brüsk in die Seite geknufft und den Finger vor den Mund gehalten, damit ich auch gar still bin.
Unten am Ufer hat der alte Wittich dann eine Schnur nach der anderen rausgezogen und ganz laut geflucht, weil nirgendwo mehr etwas dran war. Irgendwann hat er die Schnüre allesamt eingesammelt und gesagt: »So eine Scheiße, im Dritten Reich beißen noch nicht mal mehr die Fische!«
Wir hätten uns am liebsten totgelacht, aber er durfte uns ja nicht bemerken. So haben wir es dann später gleich Mutti erzählt. Die war erst ärgerlich, dass wir so rumschlawinern, aber hinterher hat sie dann auch lachen müssen. Wir dürfen das aber keinem erzählen, hat sie uns eingeschärft, vor allem nicht das, was Wittich über das Dritte Reich gesagt hat, weil der sonst Ärger kriegt, oder so.
* * *
Heute weckt Mutti Pfirsiche ein. Wir haben ja so viele Pfirsiche im Garten!
»Wie im Land, wo die Zitronen blühen«, das sagt Papa immer.
Das sind vielleicht dicke Dinger! Und dieses Jahr trägt unser Pfirsichbaum, das ist einfach sagenhaft. Ich darf deshalb so viele essen, wie ich möchte. Oder kann.
»Bis du Bauchweh bekommst«, unkt Mutti.
Aber das ist noch nie passiert. Ich kenne mich da schon aus, weil ich letztes Jahr, als es nicht so viele Pfirsiche gab, heimlich auch ganz viele gegessen habe. Also vor allem natürlich die, die von allein heruntergefallen sind. Ach, was sind die lecker! Wenn man sie mittags aufsammelt und in der Hand hat, fühlen sie sich an wie das warme Fell einer jungen Maus.
»Oder wie ein Kindergesichtchen«, hat Papa gemeint.
Und wenn man hineinbeißt, dann läuft einem dieser herrliche, süße Saft über die Hand. Man muss nur aufpassen, dass man sich nicht bekleckert, weil die Flecken so schwer rausgehen. Wenn ich mit Pfirsichflecken reinkomme, kriegt Mutti schlechte Laune. Also esse ich sie unten an der Eilang, vornübergebeugt – und so viele wie möglich. Da kann ich mir gleich die Hände waschen, und alles bleibt schön sauber.
Mutti legt viel Wert auf Reinlichkeit und einen ordentlichen Haushalt. Schlamperei ist ihr ein Gräuel. Das hat sie aus der Hauswirtschaftsschule, wo sie zwei Jahre gelernt hat, noch bevor sie Papa geheiratet hat. Darauf ist sie ziemlich stolz, und Papa ist es auch. Er sagt immer zu den Leuten: »Mein Lieschen war auf der ›Benimmje‹!«
Und dann lacht er und nimmt sie in den Arm, und Mutti verdreht die Augen. Aber ich merke, dass sie das eigentlich gut findet.
Im Herbst komme ich auch in die Schule. Ich weiß zwar, dass ich das nicht denken sollte, aber ich finde es eigentlich in Ordnung, dass ich dann vom Fräulein unterrichtet werde, das Papa als Lehrerin vertritt, seit der im ›Feld‹ ist. Ich habe Papa sehr lieb, aber als Lehrer möchte ich ihn dann doch nicht so gern haben. Er ist nämlich sehr streng mit mir, wenn ich Klavier übe. Bei allen anderen Schülern, die nachmittags bei ihm Klavierstunden nehmen, sitzt er daneben und ist ganz geduldig. Bei mir liest er jedes Mal die Zeitung in seinem Lieblingssessel. Und immer wenn ich mich verspiele, ruft er bloß: »Noch mal!«
Mutti sagt, es ist ein großes Glück, dass Papa in der Schreibstube beim Franzosen gelandet ist. Weil er da mit seiner schönen Handschrift gut am Platze ist. Und natürlich, weil er da nicht so viel kämpfen muss. Wie die anderen Soldaten, die beim Russen sind. So wie Onkel Willi.
Alle finden, das mit der Schreibstube sei ›ein Wunder‹. Denn Papa hatte noch nie Lust auf Krieg. Er wäre lieber zu Hause, um zu angeln, zu komponieren, zu malen oder Orgel zu spielen, und natürlich um seine Schule zu leiten. Wittich hat mal gesagt, dass diejenigen, die am wenigsten Lust auf Krieg hätten, immer die schlechtesten Posten bekämen. Da hat er sich wohl geirrt.
Als wir vor zwei Jahren mal bei Großvater Lilie in Wiesenau waren, habe ich ein Gespräch belauscht, als Papa Fronturlaub hatte. Da hat mein Opa, also der Papa von meinem Papa, gesagt: »Junge, du bist ja immer noch Gefreiter, willst du dich nicht mal langsam bemühen aufzusteigen beim Kommiss?«
Da war dann eine Weile Stille, und dann hat Papa gesagt: »Nee, will ich nicht. Ich will nur wieder am Stück nach Hause zurück.«
* * *
Matschdorf ist ein wirklich schönes Dorf. Der ganze Kreis Weststernberg sei einfach wunderbar, sagt Papa immer, bestimmt auch, weil er so gern in der Natur herumwandert und zeichnet. Ich finde, er hat recht, es ist bestimmt nirgendwo schöner als hier. Papa muss es schließlich wissen, er war mit seinen Kameraden immerhin schon in Dänemark, und jetzt lernt er gerade Frankreich kennen. Na ja, wenn ich groß bin, ziehe ich vielleicht auch nach Frankfurtoder. Dort gibt es nicht so viele Bäume, aber einen Park und ganz viele Geschäfte. Das ist auch schön, aber man kann nicht so gut spielen.
Ekkehard sagt, in so einer Stadt sei einfach mehr los. Aber das findet er wohl nur, weil er jetzt ein ›Halbstarker‹ ist, wie Mutti mir vor ein paar Tagen augenzwinkernd erklärt hat.
Hier bei uns gibt es ja nur die Gaststätte und die Kirche, und am Mittwoch kommt immer der Krämer mit seinem Fuhrwerk. Vor zwei Jahren hatte er noch einen Pritschenlaster, aber den musste er abgeben: kriegswichtig. Manchmal gibt es ein Fest, einmal im Monat den Kirchenkreis, dienstags den Konfirmanden-Unterricht bei Pastors für die älteren Kinder, mittwochs die Ortsgruppe der Frauen. Mutti geht da seit einiger Zeit nicht mehr hin, sie findet das jetzt doof. Ich habe gehört, wie sie Papa bei seinem letzten Fronturlaub erzählt hat, eine der Frauen hätte gesagt, sie wünsche sich ja so sehr ein Kind vom Führer! Das fanden die beiden urkomisch, sie haben ein paar Minuten lang darüber gekichert, und danach ist Mutti nie mehr zu der Ortsgruppe gegangen.
In Frankfurtoder haben wir einige Male Herrn und Frau Schmidt besucht. Herr Schmidt ist ein alter Freund von Papa, aus seiner Zeit, als er selbst auf der Lehrerschule war.
»Im Seminar«, erklärt er immer, oder »auf der Präperande«.
Ich weiß nicht genau, was das ist, so eine Art Oberschule, nehme ich an. Papa hat es da wohl gut gefallen, denn er erzählt gern davon. Die Schüler haben dort damals solche Mützen getragen, in dunkelblau, alle die gleichen Mützen, als Zeichen dafür, dass sie zusammengehören. In der Stube hängt ein Foto von den ›Seminaristen‹; Papa steht darauf hinten links in der letzten Reihe und lacht. Herr Schmidt steht vorne rechts und guckt grimmig. Er ist jetzt Oberschullehrer. Der ist noch ›was Besseres‹ geworden als Papa, das hat Mutti mal zu uns gemeint – jedenfalls wenn man Lehrer miteinander vergleicht. Diese Seminare gibt es heute nicht mehr, sagt Papa, weil der Führer die nicht so gut fand. Es gibt viel, was der nicht gut findet und was Papa gern mag.
Jedenfalls wohnen die Schmidts in Frankfurtoder in einer ganz tollen Wohnung, da sind die Decken bestimmt doppelt so hoch wie bei uns! Hochparterre nennt sich das Stockwerk, obwohl es ja eigentlich die erste Etage ist. Es ist so schön hell da, mit einem glänzenden Parkettfußboden, der aussieht wie abgenagte Fischgräten, also vom Muster her. Die Eingangstür hat zwei Glasscheiben, in die sind Blumengirlanden mit verschnörkelten Blüten geritzt, und einen messingfarbenen Türknauf in Form eines Löwenkopfes gibt es. Und zwei Bäder haben die da, zwei in einer Wohnung! Mit Wasserklosett. Und einer richtigen kleinen Heizung darin! Bei uns gibt es nur eins, also Klos. Da drin ist es immer kalt, außer im Hochsommer natürlich. Und für die Schüler gibt es ein Plumpsklosett ganz hinten, am Ende des Schulhofs.
Immer wenn wir zu den Schmidts gefahren sind, durfte ich mein schönstes Kleid anziehen, und auch Mutti hat sich jedes Mal ganz schick gemacht, mit einem dunkelblauen Hütchen, an dem so eine kleine schillernde Feder steckt. Aribert und Ekkehard sind nicht mitgefahren letztes Mal, weil Ari dollen Schnupfen hatte und Ekkehard da unbedingt in ein Zeltlager bei der Hajott wollte. Ari wollte natürlich auch, also der erst zum Jungvolk. Aber Ekkehard hat nur die Nase gerümpft und gesagt: »Ach was, du Knirps! Was sollen die denn mit dir? Dein Kopf auf die Briefmarke, und die Post geht pleite.«
Gemeinsam mit Mutti nach Frankfurt – ich fand’s gut, da hatte ich endlich mal etwas für mich alleine. Mutti hat das zu einem ›Damennachmittag‹ erklärt, das war richtig großartig! Sonst bin ich ja immer bloß ›die Kleine‹, ›unser Küken‹ oder ›das Mädelein‹.
Ekkehard fand hinterher auch, dass er besser mit uns gefahren wäre. Er hat zwar so einen rot-weißen Wimpel von der Hajott mitgebracht, den könnte er sich jetzt eigentlich an den Tornister machen. ›Flagge zeigen‹, sagt er, so nenne man das. Aber er hat wohl keine rechte Lust dazu, denn jetzt liegt der Wimpel ›für alle Fälle‹ in der Schublade von Papas Schreibtisch. Welche Fälle das sind, hat Papa nicht gesagt. Ich darf den Wimpel aber auch nicht haben für mein Fahrrad, weil ich dafür angeblich – mal wieder – zu klein bin. Was natürlich Humbug ist und noch dazu schrecklich ungerecht. Ich wäre stolz darauf, wenn ich damit durchs Dorf fahren könnte, aber Papa meint, das ist politisch und davon verstünde ich nichts. Als Ari vor zwei Jahren schon mal zu den Pimpfen wollte, zum Jungvolk, hat Papa auch gesagt, das sei politisch und nichts für Kinder, die solle man da heraushalten. Ari hat dann aber noch eine Zeit lang gequengelt, doch nachdem Ekkehard jetzt zurück war von seinem Zeltlager, hat er schließlich Ruhe gegeben. Mir hat er später erzählt, er hätte eh nur so ein Halstuch mit Lederknoten haben wollen, und natürlich das Fahrtenmesser.
Ekkehard hat uns beschrieben, wie sie im Zeltlager zweimal Würmer hätten essen müssen, so als Mutprobe und weil da ja ach so viel Eiweiß drin sein soll. Andauernd durch den Wald hätten sie juchtern müssen und dabei jede Menge Osterhäschen und Liegestütze machen. Eigentlich macht er das sonst ganz gern, vor allem wenn wir zugucken, natürlich. Ekkehard ist nämlich ziemlich sportlich. Trotzdem hat er seither keine Lust mehr auf irgendwas mit der Hajott oder mit dem, was die da ›Knochenschleifen‹ nennen.
Papa hat nur gesagt: »Wem’s schmeckt!« Und hat dabei gelächelt und Ekkehard auf die Schulter geklopft.
Mutti und ich haben dann bei den Schmidts echten Bohnenkaffee getrunken (also ich nicht, für mich gab es kalte Milch, so viel ich wollte) und Frankfurter Kranz gegessen. Mit richtiger Buttercreme und Servietten, die waren so weiß und tüchtig gestärkt, dass man sie am liebsten gar nicht benutzen wollte.