Loe raamatut: «Macht in der Sozialen Arbeit»

Font:

Björn Kraus, Wolfgang Krieger (Hg.)

Macht in der Sozialen Arbeit

Interaktionsverhältnisse zwischen Kontrolle, Partizipation und Freisetzung

(5. überarb. u. erw. Auflage)

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Copyright 2021 by Jacobs-Verlag

Am Prinzengarten 1, 32756 Detmold

ISBN 978-3-89918-824-0

Inhaltsverzeichnis

Zur Einführung Die Reflexion Sozialer Arbeit im Lichte von Theorien zur Macht Björn Kraus/Wolfgang Krieger 5

Macht – noch immer (k)ein Thema Sozialer Arbeit Fabian Kessl 23

TEIL I Interaktionsmacht in der Praxis der Sozialen Arbeit

Strukturen der Macht Konstruktivistische Perspektiven zur Mikrophysiologie der personalisierten Interaktionsmacht in der Sozialen Arbeit Wolfgang Krieger 39

Macht – Hilfe – Kontrolle Relationale Grundlegungen und Erweiterungen eines systemisch-konstruktivistischen Machtmodells Björn Kraus 89

Macht und Soziale Arbeit Eine systemtheoretische Perspektive Hans-Ulrich Dallmann 115

Agency: Handlungs- und Gestaltungsmacht Heiko Löwenstein 135

Macht und Erziehung Klaus Wolf 151

Supervision oder die Entdeckung der Macht der eigenen Wirksamkeit Heike Hör/Klaus Schneider 187

Macht in der Reflexion Sozialer Arbeit Die handlungstheoretische Dimension von Machttheorien Juliane Beate Sagebiel 199

TEIL II Soziale Arbeit und politische Machtstrukturen

Wohlfahrtsstaatlichkeit und Soziale Arbeit in machtressourcentheoretischer Perspektive Benjamin Benz 223

Zur Macht objektiv Kälte verursachender Strukturen in sozialen Berufen Karin Kersting 251

Macht ohne Herrschaft Soziale Arbeit und Michel Foucaults Analytik der Macht Roland Anhorn 275

Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien Michel Foucaults Bedeutung für eine kritische Sozialarbeit Hans-Uwe Rösner 299

Soziale Arbeit zwischen Macht und Ohnmacht System- und ambivalenztheoretische Betrachtungen Heiko Kleve 331

TEIL III Soziale Arbeit als eine Macht gesellschaftlicher Veränderung

Soziale Arbeit Eine Macht für soziale Gerechtigkeit? Wilfried Hosemann 349

Macht und (kritische) Soziale Arbeit Silvia Staub-Bernasconi 365

Soziale Arbeit und Macht Auslotungen mit ungewissem Ausgang Margrit Brückner 391

Hannah Arendt und die soziale Frage Sophia Ermert 407

Machtlos mächtig Soziale Arbeit in Grenzsituationen des Lebens Albert Mühlum 419

Autorinnen und Autoren 439

Zur Einführung Die Reflexion Sozialer Arbeit im Lichte von Theorien zur Macht Björn Kraus/Wolfgang Krieger

Als wir in der Einleitung zur ersten Auflage dieses Bandes im Jahre 2007 noch konstatierten, das das Thema „Macht“ in der Sozialen Arbeit nicht gerade en vogue und es nach den Blütezeiten der Kritischen Theorie eher still um diesen Begriff geworden sei, war nicht abzusehen, dass in den Folgejahren im deutschsprachigen Raum dieses Thema in zahlreichen Tagungen und neuen Veröffentlichungen als Gegenstand des Diskurses der Sozialen Arbeit wiederentdeckt würde.

In welchem Maße sich die Bedeutung dieser Thematik für die Selbstreflexion der Sozialen Arbeit geändert hat, zeigt ein kurzer Blick auf einige einschlägige Tagungen und Neuveröffentlichungen der letzten Jahre. Hervorgehoben werden könnte hier etwa die Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Soziale Arbeit im Jahre ٢٠١٥, die das Verhältnis von Macht, Organisation und Partizipation in Augenschein genommen hat, die Jahrestagung der Sektion Klinische Seelsorge der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie ٢٠١٥, die Macht und Abhängigkeit in Supervision und Ausbildung beleuchtete, die ebenfalls ٢٠١٥ durchgeführte Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Supervision zur Psychodynamik der Macht in Supervision, Coaching und Beratung. Im November 2017 wurde an der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg die Tagung „Technik – Macht – Gewalt. Günther Anders und die Politik/das Politische“ abgehalten. Im Januar 2020 fand in Rostock die interdisziplinäre Tagung „Aufarbeitung. Macht. Transformation“ zur Deutungsmacht und den gesellschaftlichen Folgen von sexualisierter Gewalt statt. Geplant, aber schließlich wegen Covid-19 abgesagt war im April 2020 ebenfalls in Rostock das jährliche Symposium der Gesellschaft für neue Phänomenologie zum Thema „Gewalt und Verletzbarkeit“ und im Mai 2020 an der evangelischen Hochschule Freiburg der Fachtag „Gelingende – Herausfordernde – Machtvolle Beziehungen im Kindes- und Jugendalter“, auch die Jahrestagung der Gilde Soziale Arbeit 2020 in Bielefeld sollte unter dem Titel „Soziale Arbeit und Macht“ stattfinden.

Im vergangenen Jahrzehnt sind ferner einige zu diesem Thema einschlägige Bücher erschienen, so etwa der 2012 herausgegebene Band von Martina Huxoll und Joachim Kotthaus1 „Macht und Zwang in der Kinder- und Jugendhilfe“, die konversationskritische Arbeit von Gloria Schmid2 „Sprache Macht Soziale Arbeit“ von 2014 und 2015 das Autor*innenbuch von Juliane Sagebiel und Sabine Pankofer3 „Soziale Arbeit und Machttheorien: Reflexionen und Handlungsansätze“. Auch wurden Bände herausgegeben, in denen Fragen der Macht mit einer konfliktzentrierten Perspektive erörtert werden, wie etwa der 2015 von Sabine Stoevesand und Dieter Röh herausgegebene Band „Konflikte. theoretische und praktische Herausforderungen für die Soziale Arbeit“4 und der 2018 von Johannes Stehr, Roland Anhorn und Kerstin Rathgeb publizierte Band „Konflikt als Verhältnis – Konflikt als Verhalten – Konflikt als Widerstand: Widersprüche der Gestaltung Sozialer Arbeit zwischen Alltag und Institution”.5 Ebenfalls im Jahre 2018 veröffentlichte Martin Hunold seine Studie „Organisationserziehung und Macht“.6 Auch die seit der ersten Auflage des hier vorliegenden Bandes stetig zunehmende Nachfrage nach dieser Veröffentlichung selbst dokumentiert das wachsende Interesse an der Thematik und führte in sehr kurzer Zeit zu der nun fünften Auflage. Dass es uns zusammen mit dem Verlag und den bisherigen wie auch neu hinzugekommenen Autor*innen gelungen ist, in dieser kurzen Zeit erneut die Auflage nicht nur zu überarbeiten, sondern auch kontinuierlich um neue Beiträge zu erweitern, freut uns sehr. Die teilweise grundlegende Überarbeitung und Erweiterung einiger Beiträge und die Aufnahme zweier neuer Beiträge von Margrit Brückner und Juliane Sagebiel tragen nicht nur neueren Entwicklungen Rechnung, sondern erlauben auch eine tiefere Diskussion von institutionalisierungskritischen, genderkritischen und berufsethischen Aspekten der Macht für die professionelle Praxis der Sozialen Arbeit.

„Macht“ stand in der sozialarbeiterischen Literatur der Siebzigerjahre fast durchweg im Verdacht, als Mittel vernunftwidriger Manipulation zu fungieren, Herrschaftsinteressen zu verschleiern und Bevormundung und Unmündigkeit zu begründen.7 Sie formierte sich ökonomisch, politisch, kulturbildend, kommunikativ, ja rhetorisch als das Instrument sozialer Ungleichheit und ihr Symbol zugleich und stand damit dem zu befreienden Subjekt als der institutionalisierte Widersacher schlechthin gegenüber.

„Macht“ in diesem Verständnis ist ein höchst unsympathischer Begriff. Wir assoziieren ihn mit der Behinderung der freien Persönlichkeit, der Unterdrückung von gesellschaftlichen Gruppen, der rücksichtslosen Durchsetzung partikularer Interessen und sogar mit der politischen Hintertriebenheit, dem zu verantwortenden Unrecht auch noch Legitimation zu verschaffen. Wir assoziieren ihn mit Boshaftigkeit, Arglistigkeit und Eigennützigkeit.

Ein solcher Begriff der Macht suggeriert allzu leicht eine Personifizierung jener Kräfte, denen das Subjekt – wider Willen – unterworfen ist. Die Alltagssprache fasst noch wie selbstverständlich den Begriff der Macht so, als ob sie sich im Besitz von Wenigen befinde, als ob sie ein Gut sei, eine Disposition, ein Kapital, welches durch vorteilhafte Umstände Privilegierten zufalle. Dabei wird übersehen, dass Macht von Menschen gemacht wird, dass sie in sozialen Prozessen unvermeidlich entsteht, wo immer Regeln geschaffen, Kompetenzen verteilt, Abhängigkeiten arrangiert und ausgewählten Rollenträgern ein Anspruch auf bestimmte Rechte und Ressourcen zugesprochen wird. Macht stellt sich überall dort ein, wo Menschen ihr Verhalten aufeinander abstimmen und soziale Ordnungen hervorbringen. Denn soziale Ordnungen schränken die Freiheiten aller ein, indem sie die Nutzung von Freiheit bestimmten Rollen zuteilen und anderen absprechen. Es gibt, so sagte es Popitz, im sozialen Raum daher keine „machtsterilen Verhältnisse“.8

Nicht weniger wird im Alltagsbegriff der Macht übersehen, dass Macht nicht nur auf eine Person oder Institution bezogen ist, sondern eine Relation zwischen mehreren Personen oder Institutionen bezeichnet, eine reziproke soziale Beziehung eigener Art. Macht gibt es auf beiden Seiten, bei den Herrschenden und den Beherrschten; denn sie hätte keinen Grund, wären nicht beide aufeinander angewiesen. Es ist daher sinnvoller, von Machtbalancen zu sprechen, von Mächtigeren und Mindermächtigeren, und im Auge zu behalten, dass faktisch die Relationen zwischen den Betroffenen durch eine Vielzahl von Mitteln aus verschiedenen Machtquellen geprägt sind. Die Verfügbarkeit der Mittel und der Zugang zu Machtquellen sind zudem vielschichtigen Veränderungen unterworfen; Macht flottiert gewissermaßen frei in der Konstituierung von Beziehungen. Sie ist, mit Luhmann gesprochen, ein symbolisches Kommunikationsmedium. Als solches ist sie auch nachgerade falsch beschrieben, wenn ihr Bedingungsfeld nur auf dyadische Beziehungen begrenzt wird.

„Machtsterile Verhältnisse“ – so zeigt diese Kritik des Alltagsbegriffes von Macht – sind auch für die Praxis der Sozialen Arbeit nicht zu vermuten. Zunächst ist es wichtig zur Kenntnis zu nehmen, dass Macht in der Praxis der Sozialen Arbeit ein unvermeidliches Faktum ist, mehr noch, dass balancierte Machtverhältnisse in diesem Feld nur selten anzutreffen sein werden – schon allein deshalb, weil Klient*innen von Professionellen ein Mehr an Kompetenz erwarten. Herriger sieht diese Tatsache als notwendige Voraussetzung helfender Beziehungen überhaupt:

„Die Ungleichverteilung von Macht zwischen beruflichem Helfer und Klient, das systematische Gefälle von Kompetenz und Nicht-Kompetenz, ist ein konstitutives Element einer jeden helfenden Beziehung.“9

Es ist daher zunächst einmal für eine gewinnbringende Befassung mit dem Thema Macht in der Sozialen Arbeit notwendig, dass der Begriff „Macht“ nicht von vornherein „dämonisiert“ und sodann die Existenz von Macht gar aus den Norm(alitäts)vorstellungen von Sozialer Arbeit verbannt wird. Die Betrachtung von Machtphänomenen als „Störungen der Reziprozitätsnorm zwischen Helfer und Klient“10 ist ein Beispiel für die ideologische Ausgrenzung der Machtkategorie aus dem Diskurs der akademischen und praktischen Sozialen Arbeit. In der Regel liegt solchen Sichtweisen ein Verständnis von Macht zugrunde, welches Macht zuallererst als Behinderungsmacht interpretiert, Fragen der Legitimität von Macht von vornherein ausklammert und Macht immer schon ins Unrecht setzt.

Leider ist bezüglich der Begriffe Macht und Herrschaft der Sprachgebrauch in der Sozialen Arbeit zuweilen nicht nur sehr ungenau, sondern auch von Harmonisierungsideologien verbrämt.11 Wenn sich Soziale Arbeit unter dieser Kategorie nicht reflektieren kann, weil etwa das Partizipationsprinzip mit einem missverstandenen Machtverzicht des Helfers in eins gesetzt wird oder der Respekt vor der Kompetenz des Adressat*innen und Nutzer*innen nicht nur die Kompetenzerwartung gegenüber dem Professionellen übersehen, sondern auch die Anforderungen des gesellschaftlichen Auftrags vergessen lässt, dann schwebt sie in der Gefahr, eine zentrale Ausgangsbedingung ihrer institutionellen Realität zu missachten und den Umgang mit dieser zu tabuisieren. Gerade die Dämonisierung der Macht führt dazu, dass sie im konzeptionellen und praktischen Diskurs verschleiert werden muss. Machtkritisch engagierte Positionen müssten es daher eigentlich gerade als ihr Ziel erkennen, die Tauschverhältnisse12 in der Praxis der Sozialen Arbeit unter Machtbedingungen zu untersuchen – auch um detailliert die Legitimität von Macht überprüfen zu können und den Umgang mit Macht Tauschlogiken zu unterwerfen, die im Verlauf eines Hilfeprozesses zunehmend besser balancierte Machtverhältnisse zu erreichen gestatten.

Welche Theorien zur Macht lassen sich für die Soziale Arbeit nutzbar machen? Theorien zur Macht finden sich zahlreich und sie unterscheiden sich erheblich, nicht nur in der Beschreibung von Abhängigkeitsverhältnissen und ihren emergenten Phänomenen, sondern auch fundamental hinsichtlich des Explanans „Macht“. In einigen Ansätzen erscheint Macht als ein menschliches, insbesondere soziales Produkt („Macht wird gemacht.“13), in anderen als ein anthropologisches Faktum, das der „Funktionslust“ entspringt (Bühler14) oder dessen Konterfei die Angst vor dem Fremden ist (Plessner15), in wieder anderen als die Fähigkeit von Menschen zum gemeinschaftlichen Handeln (Arendt) oder als eine hintergründige Kraft, die durch die Körper der Einzelnen hindurch unbemerkt deren Subjektivität konstituiert (Foucaults „Bio-Macht“). Bourdieu fasst in seinem Begriff der „symbolischen Macht“16 die Tatsache, dass Kultur durch Sprache und Habitus (die sozial geformten Körper) die vorhandenen Herrschaftsverhältnisse reproduziert. Die Analyse von „Macht“ hat offensichtlich nicht nur sehr Unterschiedliches zu erklären, sie hat auch sehr verschiedene Gesichter.

Gehen wir zunächst von einem Ansatz aus, der Macht soziologisch als eine „soziale Tatsache“ konstruiert, als ein Erklärungsprinzip für eine bestimmte Wirkdynamik in sozialen Handlungen. „Macht“ dient beispielsweise – so hat es Max Weber17 gesehen – der Erklärung bestimmter miteinander korrespondierender Verhaltensweisen in sozialen Interaktionen, von denen vermutet wird, dass sie einem Gefälle von Chancen der Interessensdurchsetzung entspringen.

„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“18

Mit seinem Hinweis auf mögliches Widerstreben postuliert Weber zwischen den Interaktionspartnern einen Interessenskonflikt. Die Macht des Mächtigen ist also zumindest der Möglichkeit nach dem Willen des von Macht Betroffenen entgegengesetzt.19 Webers Begriff der Macht fokussiert auf die Beziehung zwischen dem Mächtigen und dem Unterworfenen. In ähnlicher Weise beschreibt Norbert Elias Macht als die Differenz der Abhängigkeit zweier Subjekte voneinander („Machtdifferentiale“).

Diese Differenz der Interessen oder der Abhängigkeiten ist in den Theorien der Macht allerdings nicht immer vorausgesetzt worden. Theorien, die Macht als die Summe der Kräfte und Mittel verstehen, die einer Person oder Gruppe zur Verfügung stehen, und den Begriff damit eng an den lateinischen Begriff der „potentia“ anlehnen, oder solche, die die Macht des Menschen über den Menschen aus einer anthropologischen Mächtigkeit gegenüber der Welt ableiten (Nietzsche, Plessner), betonen vor allem die Bewältigungsfunktion der Macht und damit die soziale Wirksamkeit von Machtverhältnissen. Sie fokussieren nicht auf die Beziehung zwischen den Mächtigen und den Unterworfenen, sondern auf den Zweck dieser Beziehung nach außen. Diese Funktion kann durch Solidarisierung von Subjekten oder Gruppen gesteigert werden. Daher erscheint Einvernehmen zwischen Subjekten hier als Konstitutivum „sozialer Macht“, nicht Interessenskonflikte zwischen ihnen. Der Macht der Mächtigen geht eine Ermächtigung durch die Gruppe voraus. Ihre Interessen müssen daher im Einvernehmen mit jenen der Gruppe stehen.20 Ein Beispiel hierfür ist der Ansatz zur „konsensuellen Macht“ von Hannah Arendt, die Macht als die menschliche Fähigkeit bezeichnet, „nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln“21. Wenn es um die Durchsetzung des eigenen Willens gegen Widerstand anderer geht, spricht Arendt hingegen von Gewalt.22 Sie stellt damit einen Gegensatz zwischen den Begriffen „Macht“ und „Gewalt“ her, der sich nicht in der Wahl der Mittel begründet, sondern in der Funktion: Macht ist ein Konstitutivum sozialen Zusammenhalts, insofern eine universelle Grundlage politischen Gemeinwesens, Gewalt hingegen ist als Mittel der Interessensdurchsetzung instrumental und untergräbt den Zusammenhalt bzw. ist eine Folge des verlorenen Zusammenhalts.23 Arendt sieht damit ein Kriterium des Weberschen Machtbegriffes, nämlich das der Interessensdurchsetzung, erst im Begriff der Gewalt beansprucht. Der Machtbegriff Arendts ist insofern also mit jenem von Weber unvereinbar; eher schon scheint der Gewaltbegriff diesen zu ersetzen. Solch unterschiedlicher Begriffsgebrauch macht es nicht eben leicht, Positionen aufeinander zu beziehen und zu vergleichen.

Ein ähnliches Problem stellt sich ein, wenn man den Machtbegriff Webers versucht in neostrukturalistische Machttheorien zu integrieren. Webers Postulat des Interessenskonfliktes und der Durchsetzung des eigenen Interesses gegen den Willen der Mindermächtigen erscheint in diesen Machttheorien regelrecht als oberflächliche Interpretation, als „Personifizierung“ von Mechanismen, die hintergründiger sind. Weder Foucaults Theorie der Gouvernementalität noch Bourdieus Machtanalyse in den „feinen Unterschieden“ noch Judith Butlers „Psyche der Macht“ sehen Machtprozesse durchweg in Konfrontation mit dem mindermächtigen Subjekt. Sie gehen vielmehr davon aus, dass Subjektivität selbst erst durch diese Prozesse hergestellt wird: „Subjektivation“ ist der Prozess der „produktiven Macht“ (Foucault):

„Subjektivation ist also weder einfach Beherrschung noch einfach Erzeugung eines Subjekts, sondern bezeichnet eine gewisse Restriktion, ohne die das Subjekt gar nicht hervorgebracht werden kann, eine Restriktion, durch welche diese Hervorbringung sich erst vollzieht.“24

Die Wirkungen der Macht setzen hier also früher an als in der Konfrontation von Interessen, nämlich bereits in der Entstehung derselben. Auch die Mächtigen selbst sind so gewissermaßen das Opfer der Macht, in deren Namen sie Norm und Abweichung und somit soziale Ungleichheit schaffen.

So unterschiedlich diese drei Ansätze auch argumentieren, so leisten sie doch jeder für sich einen wesentlichen Beitrag zu theoretischen Erfassung einzelner Aspekte der Macht, die sich in einer späteren Ausdifferenzierung von Machtphänomenen wiederfinden. Was bleibt, ist allerdings auch eine grundlegende Differenz über das Wesen der Macht in diesen Ansätzen.

Die in diesem Band vereinten Ansätze sind in ihren erkenntnistheoretischen, wissenschaftstheoretischen und fachdisziplinären Voraussetzungen sehr unterschiedlich orientiert. Der Band stellt u. a. Beiträge aus systemisch konstruktivistischen Perspektiven, Beiträge aus kritisch-theoretischen Perspektiven, aus einer agency-theoretischen und solche aus neostrukturalistischen Perspektiven einander gegenüber. Es war die Absicht der Herausgeber, durch die Pluralität der vorgestellten Erörterungen einen Beitrag zu „guter wissenschaftlicher Praxis“ zu leisten, die es gestattet, unterschiedliche Positionen zunächst zur Kenntnis zu nehmen, bevor diese zu Kontroversen in den Diskurs geworfen werden. Gerade in den Theorien zur Macht gibt es keine Positionen, die nicht höchst voraussetzungsvoll orientiert wären.

Auch unterscheiden sich die Ansätze weniger dadurch, dass sie verschiedene Antworten auf dieselben Fragen geben würden, als vielmehr dadurch, dass sie recht unterschiedliche Fragen zur Machtproblematik formulieren. Die Theorieansätze konkurrieren also nicht notwendigerweise miteinander, sie tragen vielmehr facettenhaft zu einer vielschichtigen Sichtweise des Machtphänomens und seiner Voraussetzungen bei.

Wir haben bei der Konzeption des Bandes eine Dreigliederung zugrunde gelegt, die die unterschiedlichen Themenschwerpunkte und Akzente der Beiträge in systematischer Weise ordnet möchte und zugleich Gelegenheit bietet, von verschiedenen paradigmatischen Standpunkten aus ein Licht auf eine gemeinsame Frage zu werfen. Wir schreiten dabei vom Konkreteren zum Abstrakteren, vom überschaubaren dyadischen Machtverhältnis über die gesellschaftlichen Bedingungen der Macht zur Frage nach der Rolle der Sozialen Arbeit als (Gegen-)Macht in der Gesellschaft.

Der erste Teil des Bandes richtet sich auf die Frage der Macht in Interaktionsverhältnissen des Adressat*innen-Fachkraft-Systems; es geht in diesen Beiträgen um Sichtweisen der „Interaktionsmacht“25. Der zweite Teil beleuchtet die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit, d. h. ihre Arbeitsbedingungen, ihre Professionsrolle und ihr Selbstverständnis unter den gegebenen gesellschaftlichen und politischen Machtstrukturen. Der dritte Teil schließlich gilt der (Selbst-)bestimmung Sozialer Arbeit als Gegenkraft oder als kritisches Innovationspotential gegenüber der gesellschaftlichen Realität; es stellt sich hier die Frage, inwieweit Soziale Arbeit eine gesellschaftliche Macht darstellt.

Einführend geht Fabian Kessl der Frage nach, inwieweit und in welcher Form Macht für die Soziale Arbeit im deutschsprachigen akademischen Diskurs ein Thema ist. Zum einen stellt Kessl einen deutlichen Mangel an expliziter Bearbeitung der Machtthematik in der Sozialen Arbeit in theorie-systematischer Hinsicht und ein umfassendes Forschungsdesiderat fest, zum anderen bemerkt er doch zahlreiche „implizite“ Spuren des Machtdiskurses in Beiträgen, die sich vor allem in diversity-orientierten Analyseansätzen in der Sozialen Arbeit finden. Diese paradoxe Situation zu erklären, erfordert die Diskussion der grundsätzlichen Frage, ob es noch sinnvoll ist, nach Quellen der Macht zu suchen, oder ob man nicht eher mit Sofsky und Paris der Ansicht folgen sollte, dass Macht jener Wirklichkeit schon eingeschrieben ist, die Macht weiterhin hervorbringt, und man sich daher beschreibend der Analyse von Machtfigurationen zuwendet. Letztere Position versteht Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht als vorgängige Strukturen, sondern „als Ausdruck historisch-spezifischer Kontexte“. In die gegebenen „Kräfteverhältnisse als historisch-spezifische Macht- und Herrschaftsverhältnisse“ ist Soziale Arbeit nicht nur hineingestellt, sondern sie sind dieser auch „innerlich“, d. h., sie drücken sich auch in den Interaktionen der Beteiligten und in den professionell-fachlichen Interventionen aus. Kessl bedauert, dass die spärlichen Analysen von Machtverhältnissen und -praktiken in der deutschsprachigen Debatte um die Soziale Arbeit nur selten von solcher Innerlichkeit ausgehen; sie folgen in ihrem Blick vielmehr in der Regel ursprungstheoretischen Prämissen oder ignorieren die Frage nach der fundamentalen Immanenz von Macht in modernen Gesellschaften vollständig. Solche Engführungen können hingegen vermieden werden durch „genealogische Vergewisserungen“ und „Studien, die sich den historisch-spezifischen Kräfteverhältnissen in bestimmten Zusammenhängen Sozialer Arbeit analytisch widmen“. Ansetzen könnten solche Studien etwa an Mollenhauers materialistischen Gegenwartsanalysen, wie Kessl aufzeigt. Dem Mollenhauerschen Verständnis von Sozialer Arbeit als Bildungsveranstaltung im Sinne einer Instanz der gesellschaftlichen Selbstkritik entsprechend stünden solche Studien im Status einer kritisch forschenden Reflexion von Sozialer Arbeit, durch welche das eingangs bemängelte theorie-systematische Defizit allmählich behoben werden könnte.

Den Anfang innerhalb der konstruktivistisch orientierten Beiträge bildet der Versuch Wolfgang Kriegers, der häufig abweisenden Haltung gegenüber dem Gebrauch der Machtmetapher bei konstruktivistischen Philosophen und Therapeuten entgegenzutreten und mit der Unterscheidung von „Physischer Macht“ und „Provokationsmacht“ zwei Machtverständnisse zu entwerfen, die auch unter konstruktivistischen Prämissen haltbar sind.

Nach einer begrifflichen Analyse zu Macht, Herrschaft und Gewalt wird zunächst eine Systematik entwickelt, um verschiedene Formen von Macht im Bereich menschlicher Interaktionen zu unterscheiden. Krieger diskutiert die Grenzen des Postulates der „freiwilligen Selbstunterwerfung“, zeigt am Beispiel der Machtdefinition Max Webers die Problematik verworrener Beobachterperspektiven in der Verfassung des Machtbegriffes auf und stellt einen Ansatz vor, in welchem die Konsequenzen der „Rede von Macht“ beleuchtet werden. Das Denken im „Als-ob-Modell der Macht“ bildet die Grundlage zum Aufweis einer „Mikrophysiologie“ der Interaktionsmacht in der Sozialen Arbeit, die nun die Beobachterperspektiven auseinander hält und die Verwendung des Konstruktes nach den „Manifestationsstufen“ der Macht differenziert. Die eingangs entwickelte Systematik der Machtformen wird sodann wieder aufgegriffen, um sie nun für einen Überblick über die Machtmittel in der Sozialen Arbeit zu nutzen und ihre Bedeutung im Rahmen der „Normalisierungsmacht“ Sozialer Arbeit als Dilemma von Hilfe und Kontrolle darzustellen. Abschließend präsentiert Krieger diverse Machtphänomene in den „Spielkonstrukten der Verhandlungs- und Tauschprozesse“ der Sozialen Arbeit, indem er konstruktivistische und tauschtheoretische Perspektiven zusammenführt und den praktischen Umgang mit Macht unter dem Leitprinzip eines machtbalancierten Interaktionsverhältnisses kritisch diskutiert.

Eine Korrektur zu Gunsten einer differenzierten Befassung mit dem Thema unter konstruktivistischen Prämissen vorzunehmen, ist auch das Anliegen des folgenden Beitrags von Björn Kraus. Seine Intention ist es, die dem Konstruktivismus häufig angelastete „Befangenheit in der Subjektperspektive“ zu überwinden und einen Relationalen Konstruktivismus zu entfalten, der es gestattet, die Möglichkeit von Macht als Beeinflussungsvermögen in menschlichen Interaktionsverhältnissen zu begründen.

Ausgehend von Max Webers Machtdefinition entwickelt Kraus ein Machtmodell, das den Begriff der Macht selber differenziert und damit die Frage nach der Möglichkeit von Macht mit einen „Sowohl-als-auch“ beantwortet. „Destruktive Macht“ basiert auf der Reduktion von Möglichkeiten, so dass die Willensdurchsetzung unabhängig vom Eigensinn des Gegenübers gelingt, hingegen gilt „instruktive Macht“ als eine soziale Konstruktion, die am Eigensinn des Gegenübers scheitern kann. Dabei wird die Kategorie Macht nicht als ein ontologisches, sondern als ein soziales Phänomen gefasst und die Beobachterabhängigkeit beider Machtkategorien herausgearbeitet

Mit Blick auf fachliche Verantwortung wird deutlich, dass auch das soziale Konstrukt „instruktive Macht“ insofern ernst genommen werden muss, als durch die Zuschreibung von Macht Subjekte bereit sind, sich dem Willen eines Anderen zu unterwerfen. Die „Instruktion“ gelingt nicht, weil das Denken und Wollen des Mindermächtigen bestimmt werden kann, sondern weil der Glaube an die Macht des Anderen sich selbst erfüllt. Diesem Doppelaspekt trägt Kraus nachfolgend in seiner Analyse der „Kernfunktionen“ Sozialer Arbeit – Hilfe und Kontrolle – Rechnung, indem er letztere in „instruktive“ und „destruktive Kontrolle“ scheidet und die Anwendung ihrer Machtmittel an einem Beispiel illustriert. Kraus zeigt abschließend auf, wie die Modellierung „gelingenderen Lebens“ selbst zu einem Gegenstand „instruktiver Kontrolle“ geraten kann. Nichtsdestoweniger kommen Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagog*innen nicht umhin, sich hier an Normen zu orientieren und ihr Wissen um mehr Optionen in die Waagschale zu werfen.

Hans-Ulrich Dallmann geht die Frage der Macht in helfenden Beziehungen aus der Sicht der Luhmannschen Systemtheorie an. Macht stellt für Luhmann ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium dar, welches – funktional äquivalent zur Moral – Konditionierung und Motivation mit einander verknüpft. Für die Soziale Arbeit ist zum Ersten höchst bedeutsam, dass sie an Recht gebunden ist, und insofern Recht als „Zweitcodierung“ der Macht fungiert, sind der Sozialen Arbeit Regeln vorgegeben, die zugleich Technisierung der Macht bedeuten. Zum Zweiten ist Soziale Arbeit dem Kommunikationsmedium Politik unterworfen, welches durch strukturelle Koppelung an das Recht der Macht Legitimität und damit Kontinuität verschafft. Machtförmige Kommunikation wird daher in der Sozialen Arbeit dadurch wahrscheinlicher, dass sie auf den Grundlagen des Rechts zu operieren hat, dass sie an das Subsystem der Politik strukturell gekoppelt ist, und schließlich, dass ihre Leistungen durch Ressourcen finanziert werden müssen, die andernorts erwirtschaftet und damit auch freigegeben werden. In dem Maße, wie sich Soziale Arbeit in Machtverhältnissen vorfindet, schleicht sich machtförmige Kommunikation in ihre Praxis ein.

Dallmann stellt in Fortführung seiner systemtheoretischen Erörterung vier typische Formen der Macht vor, die Monika Bobbert in ihrer Interaktionsanalyse mit Patient*innen in der Pflege entwickelt hat und die unschwer auf Interaktionsverhältnisse in der Sozialen Arbeit zu übertragen sind. Da Macht aber zu begrenzt beschrieben wäre, würde man sie nur in den Machtformen in Interaktionsverhältnissen erkennen wollen, erweitert Dallmann seine Perspektive um die Sichtweise der Foucaultschen Machttheorie, die ja gerade Macht jenseits konkreter Interaktionen thematisiert. Er greift aus den anschaulichen Beschreibungen in „Überwachen und Strafen“ einige Beispiele heraus, die in den Formen der Kontrolle und Disziplinierung auch in der Sozialen Arbeit ihren Platz haben.