Loe raamatut: «Das Meer»
IBERISCHES PANORAMA
Die Publikation wurde gefördert durch das Übersetzungsprogramm des Instituts Ramon Llull
Blai Bonet
DAS MEER
Roman
Aus dem Katalanischen
von Frank Henseleit
Mit einem Nachwort
von Xavier Pla
DAS MEER
1 | MANUEL TUR |
2 | ANDREU RAMALLO |
3 | SHWESTER FRANCISCA LUNA |
4 | MANUEL TUR |
5 | GABRIEL CALDENTEY |
6 | ANDREU RAMALLO |
7 | MANUEL TUR |
8 | ANDREU RAMALLO |
9 | MANUEL TUR |
10 | ANDREU RAMALLO |
11 | GABRIEL CALDENTEY |
12 | ANDREU RAMALLO |
13 | MANUEL TUR |
14 | ANDREU RAMALLO |
15 | ANDREU RAMALLO |
16 | MANUEL TUR |
17 | ANDREU RAMALLO |
18 | MANUEL TUR |
19 | ANDREU RAMALLO |
20 | MANUEL TUR |
21 | ANDREU RAMALLO |
22 | ANDREU RAMALLO |
23 | MANUEL TUR |
24 | HWESTER FRANCISCA LUNA |
25 | ANDREU RAMALLO |
26 | ANDREU RAMALLO |
27 | MANUEL TUR |
28 | GABRIEL CALDENTEY |
29 | MANUEL TUR |
30 | HWESTER FRANCISCA LUNA |
31 | MANUEL TUR |
32 | GABRIEL CALDENTEY |
Nachgetragenes Kapitel | SCHWESTER FRANCISCA LUNA |
Nachwort | Xavier Pla – Blai Bonet und die Kinder des Bürgerkriegs |
Der Mensch ist wie das Meer:
Er dringt ein und wird durchdrungen, er denkt selbstständig und ist von seinem ätherischen Leben beeinflusst. Mit dem Menschen erhellt Gott die Schöpfung wie der Mond die Erde.
Blai Bonet
1 | MANUEL TUR |
Inmitten von Pinien- und Steineichenwäldern die flimmernde Landstraße, gesäumt von Olivenhainen und grauen Felsen zwischen grünen und schattigen Flecken. Das Olivgrün der Eichen, ein stumpfes, stilles Grün trockenen Laubs wie das Kaki der Uniformen der Soldaten. Neben dem Eichenwald ein langer, schmaler Sonnenstreifen, der farbige Kleckse über die Baumkronen tupft. Auf der anderen Seite, am Hang ein Wald, schwarz, ein einziger ungeteilter Schatten, davor ein Weg. Die Eichen, ein sparsames monochromes Grün, das wie eine Prozession den Berg hinabklettert und vor dem Grau des dicht zusammengerückten Ortes haltmacht, aus dem – ein weißer Fleck im Zentrum – die Kathedrale übergroß herausragt.
Die Landschaft, eben, rein, süßlich, bedächtig daliegend. Längliche, tiefschwarze Schatten einer Baumart, die ich nicht kenne, queren hier und dort die Äcker. Die Szenerie, sanft und wogend, wie das Meer.
Im Wechsel mit drückend heißer Luft verfinstern mal graue, mal weiße Wolken die Landschaft und das Blattwerk der Eichen. Im Westen mal diesiger Himmel, mal das Zartblau einer geöffneten Schwertmuschel am umspülten Strand. Dahinter tiefbleierner Nebel, wie aufgewirbelte Asche, wie Glasstaub, wie ätzende Flechte, wie rauer Sand, wie verkokelte Felsen.
Vor der Brüstung der Veranda – eine Galerie – wiegen grüne und bläulichgraue Schilfhalme ihre Ähren in anmutiger, unnützer Freiheit. Der Fensterrahmen, ein wie gemaltes Wogen der Schilfhalme, mit vorbeiziehenden Wolken über schwarzen, dichten, bergab prozessierenden Eichenwäldern.
Eine Hand liegt auf der Stirn, ich spüre, wie der übermäßige Schweiß an den Fingern klebt. Ich betrachte die glänzende, feuchte Hand. Dicke, sich sammelnde Tropfen, die auf die roten Ziegel der Fensterbank platschen.
„Adéu!“
Andreu Ramallo. Mit seinen ausgelaugten Gesichtszügen, der hervorstehenden Unterlippe und den tiefdunklen Augenhöhlen grüßt er, die Hand hebend.
„Manuel Tur.“
„Schwester.“
„Ein Brief.“
„Danke.“
„Ein Brief von zu Hause.“
Schwester Francisca Luna tritt bleich und scheu auf die Galerie hinaus, wo sie die Briefe verteilt, die Namen aufruft. Nervös und eilig, wie man Telegramme aufreißt, öffne ich den Umschlag. Das Papier raschelt.
5. März 1942
Lieber Bruder,
Wir haben deine beiden Briefe erhalten und du musst entschuldigen, dass wir dir nicht früher geantwortet haben. Es ist nicht so, dass wir nicht an dich denken, aber die Zeit rennt, der kleine Julian war krank, ein ständiges Hin und Her, weil er immerzu weint. Du wirst schon verstanden haben, dass dich Mutter diesen Donnerstag nicht im Sanatorium besuchen kann, weil sie mit Mateo Clar auf dem Feld arbeiten geht und man sie für die letzte Woche nicht bezahlt hat und die Fahrt zum Sanatorium fünfzig Peseten kostet. Sie sagt, du sollst dich nicht grämen, weil sie kommen wird, sobald sie kann. Wir wären gerne am Sonntag gekommen, weil wir es dir versprochen hatten, aber wir sind wegen des lieben Geldes zu Hause geblieben. Mittags aßen wir Mehl-Kroketten und Spinat und abends eine Orange und Pepe stritt sich mit Mutter, weil im Recreativo El Puente de Vaterló gezeigt wurde und er hinwollte und wir kein Geld hatten und seine Freunde kamen und fragten, warum er nicht mitkomme, und er nicht antwortete und sie dann abzogen.
Die neuen Stühle haben wir immer noch nicht, weil es nicht geht. Sie sollen 10 Duros kosten, das Stück, und das schaffen wir nicht, weil, du weißt schon, seit sie Vater im Krieg getötet haben, stecken wir in der Misere. Wenn sie wegen des Stroms kommen, beginnt Mutter zu weinen, weil sie nicht bezahlen kann und aussprechen muss, dass sie kein bisschen Geld besitzt, und der Einnehmer schreit sie dann an und Mutter bekommt dann du weißt schon was.
Gestern zerbrach der Verlobte von Magdalena noch einen Stuhl, als er sich draufsetzte, und wir schämten uns, sie sind so was von kaputt, sie halten nichts mehr aus.
Pepe nimmt jetzt Tricalcin und ist noch blasser und bockiger, weil ihm das Maisbrot nicht schmeckt, er wächst trotzdem und Don Onofre sagt, wenn er ins Sanatorium kommt, wird es ihm besser gehen, weil das Landleben sehr gut dafür ist.
Mama sagt, falls dir Brot übrig ist, dass du es nicht fortwirfst, sondern aufbewahrst und sie es nach Hause mitnimmt, auch wenn es trocken ist, sie legt es in Wasser und es wird weich und sie steckt es in den Ofen und es ist dann essbar.
Ich schreibe nicht weiter, weil Juanito schreit und im Bett liegt, er möchte nur, dass jemand vorbeikommt. Er beginnt schon alleine zu laufen und sagt Papa und Mama und ist schon ein Männlein, das schönste Kind der Welt. Wer sagte das nochmal?
Deine Mutter und Geschwister umarmen dich.
Apolonia Tur
Regungslos liege ich da, mit dem Papier in der Hand, und betrachte meine durch das transparente Leinen durchscheinenden Beine. Das helle Licht, das durch die geöffneten Fenster auf den Stoff fällt, lässt mich an den Kalk denken, auf den man die Toten legt, damit sie nicht aufquellen. Ich weiß nicht, warum mich das helle Licht an Kalk denken lässt. Eine seltsame Vorstellung. Dass wir alle hier halluziniert, entfleischt sind, als lägen wir alle auf Kalk und redeten und dächten und liebten ohne Unterschied, als ein einziger Mensch, der als ewig Todgeweihter teuflisches Zeug redet. Im Sanatorium zieht das Leben dahin, als rauchten wir Opium, ich am begierigsten, weil mich die brüchigen Stühle meiner Mutter nicht einschlafen lassen.
Es regnet heftig. Der Vorhang aus Regen – sein Geruch über der trockenen Erde – verdeckt das breite Feld und peitscht die Maulbeerbäume bei der Promenade. Das Schilf ist hinter dem Regen nicht mehr zu sehen. Im Spiegel über dem Waschbecken der zurückgeworfene Regen und die weißen Säulen der Veranda. Wie an jenem Abend, als Andreu Ramallo laut redend eine Sünde erfand und ich mir die Zunge blutig biss, um ihn nicht zu hören, der, nur weil er meinte, allein zu sein, mit schmutzigen Worten sündigte.
Jordi Mercader betritt mein Zimmer – sein Gesicht ist breit, hell, frei –, mit einer militärischen Geste stellt er sich stramm hin.
„Zu Ihren Diensten, Hauptmann!“
Jordis Augen strahlen gutherzig.
„Zweiter Offizier des Zerstörers Alhucemas zu Ihren Diensten.“
Jordi Mercader legt sich aufs Bett – wenn der kein Riese ist!
Meine Stimme:
„Aha, das Zweite …“
„Gefielen dir die Geheimnisse Kolumbiens, sag?“
„Ja …“
„Zugabe?“
„Okay. Zugabe.“
„Das zweite schmerzhafte Geheimnis offenbarte sich, als man Bonitico vierzig Peitschenhiebe verpasste und ihn von Kaschemme zu Kaschemme trug, als wäre er ein elender Pichler.“
2 | ANDREU RAMALLO |
Gestern, so um elf Uhr nachts, war ich zum ersten Mal im Leben Zeuge eines Todeskampfes. Ich rede von Justo Pastor, diesem klein gewachsenen, beschwerten Jungen aus Albacete mit seinem gelben Teint, den schwarzen Augen, aus deren violetter Tiefe die Ahnung, zu sterben, hervorschien.
Morgens ging ich in den Behandlungssaal. Die Stationsschwester unseres Pavillons spritzte mir Triom. Sie fand keine Vene und setzte mehrmals an. Ich spürte, wie sie mehrfach versuchte, die Nadel einzuführen. Sie schaute mich an, mit jenem zarten und ruhigen Ausdruck, den Frauen haben, wenn sie einem Neuzehnjährigen Schmerzen zufügen. Ich beobachtete die Zehnzentimeterkanüle, in der sich die Flüssigkeit rot färbte, weil ein Tropfen Blut eingesaugt wurde.
Nachdem mir die Schwester das Triom injiziert hatte, verließ sie den Raum, ich lief schnell zum Tisch, auf dem die Karteikarten lagen. Zittrig und mit aufgerissenen Augen blätterte ich: Antoni Gamundí, Jordi Planells, Manuel Tur, Jaume Galindo, Pedro Márquez, Andreu Ramallo: Blutsenkung, 85. Blutdruck, 8. Hämatiten, 2.500.500. Leukozyten, 1.200.000. Analyse des Auswurfs, drei rote Kreuze.
Mit Händen in den Taschen, melodielos pfeifend, wie ich das immer tue, wenn ich nervös bin, ging ich zur 5 rein. Das war Jordi Pastors Zimmer, es strömte diesen strengen, hier alltäglichen Geruch aus, den ich zuvor nie gekannt hatte, den Geruch des Todes, vermutlich.
Justo Pastor hatte auch drei rote Kreuze, eine zwecklose Monaldi, beidseitiger Lungenausfall mit Dauerhusten, der schon nicht mehr auf das Diosan ansprach.
„Wie geht’s, Justo?“
„Du siehst doch, ich halte den Jungen am Leben.“
„Du spielst mit dem Leben, pass auf!“
„Ja …“
„Was macht der Husten?“
„Schlimm. Diese Nacht bin ich zerplatzt.“
Er legte sich die Hand auf die Brust:
„Da wächst was.“
„Mist.“
„Ja, Mist. Sag mal, wie alt bist du?“
„Neunzehn. Und du?“
„Siebzehn. Ich habe noch nicht gehört, wie dein zweiter Nachname ist.“
„Meiner, Díez. Und deiner?“
„Alcàntara.“
„Seit einem Jahr bist du hier …“
„Das Problem ist …“
„Sprich es aus, welches Problem?“
„Noch ein kleiner Anfall und …“
„Denke nicht daran, hörst du.“
„Und der macht’s dann. Das ist die Wahrheit.“
„Lass es. Willst du es etwa?“
„Dann merkt man, dass man stirbt.“
„Lass das! Oder willst du es etwa?“
„In meinem Dorf fesselten sie einem schwindsüchtigen Irren die Hände.“
„Hör jetzt auf damit, klar!“
„Hast du Haare auf der Brust?“
„Einige.“
„Bei mir kommen sie auch.“
„Das müssen wir feiern.“
„Ich habe solche Ereignisse immer gefeiert. Das erste Mal, als es mir passierte, da war ich zwölf. Ich rannte zum Eiswagen. Um mir ein Eis zu kaufen. Zu zwei Peseten. Um das zu feiern. Du wirst das noch verstehen. Um es zu feiern.“
Justos Herz klopfte. Auf seinem olivgrünen Gesicht zeigte sich ein kreisrunder roter Fleck. Mit den glänzenden und harten Augen eines Tiers am Nachmittag schaute er mich an. Dann setzte ich mich zu ihm auf das Bett. Mit seiner heiseren Stimme sprach er weiter. Nur er. Als wolle er beichten, er, der nie im Bett beichten wollte und es im Salon tat, in einem Sessel sitzend, er auf der einen Seite der Jalousie und Pater Gabriel auf der anderen.
„Ramallo, ich werde verrückt, wenn ich weiter hier lebe. Manchmal gehe ich ins Bad und stehe lange nackt da, um mich im Spiegel anzuschauen, aber in Schuhen, als sagte ich Adéu zu mir, zu mir, hörst du. Du kannst dir nicht vorstellen, was es für mich bedeutet, mich im Spiegel zu sehen, in Schuhen. Ich glaube, ich muss sehr krank sein, wenn ich mich von außen so selbstverliebt anschaue. Als ich jünger war, ging ich mit einem Mädchen in einen Hühnerstall, sie war neun Jahre alt und hieß Magdalena. Eine steinerne Bank stand im Verschlag, dort, wo die Hühner ihre Eier legten. Ich hob das Mädchen auf die Bank. Auf ihren Rock legte ich eine große Margerite, eine von jenen wilden, die in den Opuntien wachsen. Du wirst mir nicht glauben. Aber ich sah dieses Bild mit verliebten Augen an. Und sie sprach meinen Namen aus. Ohne ein Lächeln. Und mir blieb nichts mehr als die Qual eines Jungen, der begreift, dass er nie wieder so unbesorgt wie früher spielen wird.“
Nachts weckte mich ein heftiges Läuten. Ein unaufhörliches Husten drang zu meinen Ohren. Ich sprang aus dem Bett, lief über den Flur, zog mir die Hosen auf dem Weg an. Ich schaute auf die automatische Anzeige. Es war die 5. Drinnen schien Licht. Ich öffnete die Tür. Bevor ich Justo sah, entdeckte ich sein Blut auf den Fliesen.
„Die Schwester kommt sofort, Justo. Bleib ruhig, Justo!“
Ich schaute von der Tür in den Flur, der fröstelnd in seinem grellgrauen Neonlicht dalag. Schwester Ester eilte durch die Stille der Galerie herbei.
„Justo hat blutigen Auswurf. Sehr stark.“
Ich trat wieder in die 5 ein. Blut schwappte aus Justo Pastors Spuckschüssel.
„Sei nicht nervös, Justo.“
Plötzlich griff Justo nach der Decke und dem Laken. Er schleuderte sie über den Spiegel am Waschbecken. Er trug keine Unterhose. Er stieß einen Schrei hervor – aus den Ohren und den Augen strömte Blut. Etwas davon traf mein Gesicht. Sein Kopf fiel zur Seite.
Agustí Alcàntara, seine Frau (Carmen Onaindia) und Jordi Agustí kamen herein. Sie wischten das Blut auf. Armer Justo! Sie wickelten ihn in eine Decke. Sie legten ihn auf die Rollbare, die für die Todkranken bestimmt war, wenn sie ihren ersten schwindsüchtigen Tag hatten. Die Plötzlichkeit und die Routine dieses Spektakels, unvergesslich, der lange Flur mit den Heizkörpern, die Begonie, das grelle Licht der Neonlampen und ich – in der Mitte dieses Flurs stehend, der Bare hinterher schauend, die sich leise entfernte. Und die übermenschliche Qual, als ich ihn nicht mehr sah und noch die Räder hörte, solche großen Reifen wie von Fahrrädern, sie waren schlecht gefettet («jetzt fährt er durch den Flur am Speisesaal, jetzt am Aushang mit dem Menü von morgen vorbei, hinaus, bis zur Leichenhalle, die neben den Beeten mit den Ranunkeln liegt»).
Am nächsten Tag ging ich in den Salon, um meiner Mutter einen Brief zu schreiben. Ein Bücherregal war auf den Schreibtisch montiert. Die Büglerinnen legten die Wäsche der Todkranken in die Regalböden, um sie später von dort einzusammeln. Solange ich mit dem Brief beschäftigt war, saß ich vor einem braunen, ausgeblichenen und viel zu gestärkten Hemd mit den Initialen J.P.A.
Während ich mich vom Tisch erhob, glitt ich mit einer Hand in das Hemd – Wie mag es Justo gehen? – und hielt es eine Weile fest.
„Hast du schon Haare auf der Brust?“
„Einige.“
„Ich auch.“
3 | SCHWESTER FRANCISCA LUNA |
Der Plätter des Bügeleisens auf dem quadratischen Tisch glänzt. Mein elektrisches Bügeleisen ist in die Jahre gekommen. Das Kabel ist ausgefranst. Es müsste ersetzt werden. Der Verwalter muss sich um all diese Dinge kümmern, wie zum Beispiel um die Heizungskessel.
Der Bezirksdirektor der Sanitat wird niemals an all das denken. Einmal im Monat kommt er hergefahren, in seinem Cadillac. Nicht einmal jeden Monat. Wenn der Bezirksdirektor kommt, zeigen sie ihm die Beete mit den Zinnien, mit den Rosen, die seltsam klingende Namen haben, den neuen Apparat für die Sektion von Adhäsionen. Alles, was einen schönen Schein hat. Alles, was weder an Schmerz noch an Blut erinnert.
Wenn sich der Bezirksdirektor ankündigt, schmeckt die Milch für die Kranken nach wirklicher Milch. Ist der Bezirksdirektor nicht angekündigt, wird die Milch für die Kranken und die für die unteren Angestellten – für Julià Puigserver, für Jordi Agustí und für Agustí Alcàntara – im selben Kessel abgekocht, in dem nachts die Sardinen frittiert werden. Die Milch, die für sie bestimmt ist, hat mehr Fisch- als Direktorengeschmack.
Alle Überkleider, die wir zu Gesicht bekommen, sind weiß, löchrig und verschlissen. Den ganzen Tag lang weiße Kleidung, wie jene, die Schwester Teresa Crous und ich auf dem Tisch vor uns haben. Seit einer Stunde beugen wir uns über den Tisch, eine Hand am Bügeleisen, die andere an der Wäsche, und reden kein Wort. Seit einer Stunde beugen wir uns über den Tisch. Nach einer Stunde des Schweigens sage ich:
„Seit einem Jahr ist Andreu Ramallo hier. In diesem ganzen Jahr hat er nicht mehr als zwei Hemden getragen. Die zwei Hemden von diesem Andreu Ramallo sind ein Elend. Seine Familie kommt ihn nicht besuchen. Anfangs besuchte ihn Don Eugeni Morell, der Geschäftsmann, und fuhr mit ihm in den Pinienwald. Später schloss sich Andreu Ramallo an den Besuchstagen im Klosett ein, weil er den Geschäftsmann aus seinem Dorf nicht mehr sehen wollte. Don Eugeni kam nicht mehr. Andreu Ramallo ist ein Verlassener, ein Junge, den es schmerzt, ein Gesicht wie ein Messer zu haben.“
Die Uhr – ticktack, ticktack – zieht die Stille im Bügelzimmer in die Länge. Ohne den Blick zu heben, stippt Teresa Crous die Finger in den Teller mit Wasser, der in der Mitte des Tisches steht. Sie befeuchtet die Wäsche. Ohne den Blick zu heben. Das Bügeleisen gleitet über die Ärmel des Hemdes und über der Wäsche stößt ein weißer Dampf empor, abrupt, wie das Schnauben der Pferde, im Winter, wenn der Tag anbricht.
Das Schweigen erzeugt einen fahlen Geschmack im Mund, als kaute ich hartes Brot. Ich sage:
„Die Tage vergehen und keine von uns bemerkt die Zeit. Zwei Jahre sind wir schon hier. Wir sind am selben Tag angekommen, mit demselben Zug. Ein Zug voll von singenden Soldaten.“
Die Wasserschale ist gelb. Mit ein paar schwungvollen grünen Pinselstrichen. Die Glasur der Schale ist gerissen.
„Teresa, du hattest die Hände auf den Knien gefaltet. Und hattest den Blick gesenkt, ich sah, wie sich deine Lippen bewegten, leise, wie die Lippen der Priester, wenn sie die Monstranz vor sich hertragen, bei den Dorfprozessionen.“
In einem steinernen Topf in der Ecke öffnet sich eine wohlriechende Malvenblüte.
„Als schautest du in dich hinein, als hättest du zuvor in dein Herz gesehen, hörte ich dich sagen: «Der Gedanke, dass das Zimmer, in dem ich leben werde, eine Zelle ist, lässt mich erschaudern.» Die Soldaten sangen Märsche und Kriegslieder, mit heiserer Stimme vom vielen Wein. Nach einigen Kriegsliedern hast du gesagt: «Für uns ist die Auferstehung des Fleisches eine entschiedene Sache, etwas Baldiges. Wir sind bloß Werkzeuge des Gebets. Das Leben unseres Fleisches da draußen ist jenen gewidmet, die nicht beten können. Unsere Buße ist nichts anderes, als mit dem Leib zu beten.» Danach hast du gelächelt. Als schämtest du dich, so voll des Mutes zu sein.“
Das Licht dringt gedämpft durch die geschlossene Fensterklappe und umschmeichelt die Wände, wo die Reinlichkeit wie leuchtender Kalk pulsiert.
„In den ersten Tagen gingen wir abends, nachdem die Arbeit im Krankenpavillon beendet war zurück in unseren Trakt, wie wir es heute tun werden. Du erinnerst dich an solche Dinge. Still schlüpften wir aus den Schürzen und weißen Roben, als ein Chor nahmen wir in unserem Herzen wieder die Natürlichkeit des Gebets an. Du sagtest: «Siehst du, nicht das Beten gibt Kraft, es ist die Kraft selbst.» Später, als wir das Abendessen beendet hatten und uns ausruhten, begannst du die Unterhaltung, mit solch warmer Stimme, so einzigartig, wie sie eine von uns immer nach dem Gebet hat. Du sagtest: «Wir müssen im Gebet vor Gott zur völligen Vergessenheit unserer selbst gelangen. Ich würde behaupten, dass diese Vergessenheit die perfekte Demut ist.»“
Teresa Crous hat schmale Lippen. Ihr Gesicht ist starr und gleicht einem gelben Stein. In ihrem schweigsamen Innern weint sie bitterlich.
„Die Oberin sprach zu mir, in ihrer Stimme, die von Alter und Verständnis zeugt, in jener bescheidenen Gewissheit, die Frauen besitzen, die vom Land kommen: «Sie müssen lange einkehren, Schwester Teresa, ich sage lange, weil ich täglich meine, denn für uns, die wir in ein Regelwerk eingeschlossen sind, ist die Beherrschung wichtiger als das Auflodern. Wir sind nicht hierhergekommen, um etwas zu tun, wir sind hergekommen, um geformt zu werden. So wie der Krug vom Töpfer geformt wird. Perfekt zu sein ist für uns nahezu unerreichbar. Die abgeschlossenen Klöster, die sich der Aufgabe verschrieben haben, die Einsamkeit des Menschen in der Einsamkeit einer Zelle zu besiegen, folgen einem ganz einfachen Weg der Perfektion: Das eigene Ich zu zerstören und über das Gebet in das Herz und die Arterien des mystischen Körpers der Kirche zu konvertieren. Nach dieser Pflicht kommt auf uns eine neue Aufgabe zu, unsere einzige Aufgabe: Im Namen Christi zu dienen. Aber niemals werden wir in seinem Namen Speisen und Getränke vollkommen genug austeilen, wenn wir nicht zuvor jene tiefe Demut angenommen haben, einfache Werkzeuge zu sein, die Speisen und Getränke austeilen. Wenn ihr nach dieser extremen Demut trachtet, werdet ihr niemals schwanken, schwanken werden lediglich eure Taten.» Du warst sprachlos, ohne menschliche Regung, in dich gekehrt, wie du immer bist, wenn du sagst, dass du das Holz für die Gemeinde zerkleinern willst und man dich des Gehorsams Willen zum Altar schickt, um die Lilien zu tauschen.“
Die Uhr – ticktack, ticktack – zerstört die Stille, diese umfassende Stille, die ich gerne beendet hätte mit der unendlichen Zärtlichkeit, mit der ich das Hemd von Justo Pasto faltete, der starb, als sich seine Kleidung im Bügelzimmer befand.