Loe raamatut: «Ruhend»
Blake Pierce
Blake Pierce ist die Autorin der RILEY PAIGE Bestseller Krimiserie, die bisher zwölf Bände (weitere Bände folgen) umfasst. Blake Pierce ist ebenso die Autorin der MACKENZIE WHITE Krimiserie, bestehend aus acht Bänden; der AVERY BLACK Krimiserie, aus sechs Bänden bestehend; der KERI LOCKE Krimiserie, aus fünf Bänden bestehend; ebenso die neue Serie DAS MAKING of RILEY PAIGE, die mit Band #1 BEOBACHTET beginnt.
Blake Pierce ist eine begeisterte Leserin und schon ihr ganzes Leben lang ein Fan des Krimi- und Thriller-Genres. Blake freut sich von Ihnen zu hören, also besuchen Sie www.blakepierceauthor.com und bleiben Sie in Kontakt!
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PROLOG
Gareth Ogden stand am Strand und schaute hinaus auf den Golf von Mexiko. Gerade war Ebbe und der Golf war still – die Wasser ruhig und die Wellen niedrig. Er konnte einige Möwen im immer dunkler werdenden Himmel erkennen und hörte, wie ihre müden Schreie über die Wellen hallten.
Er zog an seiner Zigarette und lächelte bitter während er dachte…
Die Möwen klingen beinahe so, als würden auch sie dieses Wetter hassen.
Er war sich nicht sicher, wieso er überhaupt aufgebrochen war, um hierher zu kommen. Früher hatte er die Geräusche und Gerüche des Strandes am Abend genossen. Vielleicht war es sein Alter oder schlicht dieses schwüle Wetter, welches es schwer machte, überhaupt irgendetwas zu genießen. Die Sommer wurden immer heißer. Selbst nachdem, so wie jetzt, die Sonne untergegangen war, konnte die Meeresbriese ihm keine erleichternde Abkühlung verschaffen, und die Luftfeuchtigkeit war erstickend.
Er rauchte seine Zigarette zu Ende und trat sie mit dem Fuß in den Sand. Dann wandte er sich vom Wasser ab, um sich auf den Weg zurück zu seinem Haus zu machen – einem verwitterten Gebäude dessen Fenster einen Blick auf die alte Straße und den leeren Strand boten.
Während er durch den Sand stapfte, dachte Gareth an die Reparaturen, die der letzte Hurrikan vor ein paar Jahren notwendig gemacht hatte. Die große Veranda vor dem Haus musste komplett erneuert werden sowie Teile der Wandbekleidung und einige Dachziegel. Tatsächlich jedoch hatte er großes Glück gehabt, und die Struktur des Gebäudes selbst hatte keine ernsthaften Schäden davongetragen. Amos Crites, dem die Nachbarhäuser auf beiden Seiten von Gareths Haus gehörten, hatte beinahe alles von Grund auf wiederaufbauen müssen.
Dieser gottverdammte Sturm, dachte er sich und schlug nach einigen Moskitos.
Die Immobilienwerte waren seither stark gefallen. Er träumte davon, das Haus zu verkaufen und Rushville zu verlassen, jedoch würde niemand genug dafür zahlen wollen.
Gareth hatte in dieser Stadt sein gesamtes Leben verbracht, und er hatte wirklich nicht das Gefühl, dass sie es ihm leicht gemacht hatte. Seiner Meinung nach ging es mit Rushville schon eine ganze Weile bergab – spätestens seitdem sie angefangen hatten, die Autobahn nebenan zu bauen. Er konnte sich noch an die Zeit davor erinnern, als Rushville ein kleines, aber blühendes Städtchen mit viel Sommertourismus gewesen war. Doch diese Tage waren längst vorbei.
Gareth schlüpfte durch ein Loch im hölzernen Strandzaun und lief hinunter zur Straße. Als er fühlte, wie die Hitze durch die Sohlen seiner Schuhe drang, schaute er zu seinem Haus hinauf. In den Fenstern des ersten Stocks brannte einladendes Licht…
Fast so, als würde dort jemand leben.
„Leben“ schien nicht gerade das passende Wort für Gareths eigene einsame Existenz zu sein. Und die Gedanken an fröhlichere Tage – als seine Frau Kay noch am Leben gewesen war und sie beide ihre Tochter Cathy großzogen – stimmten ihn nur noch trauriger.
Als er den Weg zu seinem Haus entlangging, erspähte Gareth etwas durch die Gittertür – einen Schatten, der sich im Inneren des Hauses bewegte.
Wer konnte das sein? fragte er sich.
Er war nicht überrascht, dass sich ein Besucher selbst hineingelassen hatte. Die Eingangstür stand sperrangelweit offen, und die Gittertür war nicht abgeschlossen. Gareths Freunde konnten schließlich immer kommen und gehen wie es ihnen beliebte.
„Es ist ein freies Land“, pflegte er ihnen zu sagen. „Wird jedenfalls behauptet.“
Als er die lange, schiefe Treppe zur Veranda emporstieg, dachte Gareth sich, dass es sich bei seinem Besuch um Amos Crites handeln könnte. Vielleicht war Amos vom anderen Ende der Stadt, wo er lebte, hierher gekommen, um nach seinen Strandhäusern zu schauen. Gareth wusste, dass keines der beiden Häuser für den August, einem in dieser Umgebung bekanntermaßen sehr heißen und schwülen Monat, vermietet worden war.
Ja, ich wette, er ist es, dachte Gareth sich, als er über die Veranda ging.
Amos kam des Öfteren vorbei, um sich über alles Mögliche zu beschweren, und Gareth stimmte mit seiner eigenen Unzufriedenheit gerne in seine Tirade mit ein. Er überlegte, ob er und Amos in dieser Hinsicht einen schlechten Einfluss aufeinander hatten…
Aber hey, wozu hat man Freunde?
Gareth blieb vor der Eingangstür stehen und schüttelte den Sand aus seinen Sandalen.
„Hey, Amos“, rief er. „Nimm dir ein Bier aus dem Kühlschrank.“
Er erwartete, dass ihm Amos mit einem „bereits passiert“ antworten würde.
Doch es folgte keine Antwort. Gareth vermutete, dass Amos auf der Suche nach einem Bier bereits hinten in der Küche war. Oder vielleicht war er einfach noch schlechter gelaunt als sonst. Das war für Gareth auch in Ordnung…
Gleich und Gleich gesellt sich gern, wie man so schön sagt.
Gareth öffnete die Gittertür und ging hinein.
„Hey, Amos, wie geht’s?“, rief er.
Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine blitzschnelle Bewegung. Er drehte sich um und erblickte eine schattenhafte Form, die im Licht der Wohnzimmerlampe eine Silhouette an die Wand warf.
Wer auch immer es war, sprang Gareth so schnell an, dass dieser keine Zeit hatte, einen Laut von sich zu geben.
Die Figur hob einen Arm, und Gareth sah in ihrer Hand Stahl aufblitzen. Etwas unsagbar Hartes rammte seinen Kopf, und es fühlte sich so an, als würde eine Explosion durch sein Gehirn gehen.
Dann wurde es still.
KAPITEL EINS
Das Morgenlicht spiegelte sich in den Wellen als Samantha Kuehling das Polizeiauto über den sandigen Strandweg steuerte.
Neben ihr auf dem Beifahrersitz saß ihr Partner Dominic Wolfe…
„Ich glaube es erst, wenn ich es mit eigenen Augen gesehen habe.“
Sam antwortete nicht.
Weder sie noch Dominic wussten bislang, was genau dieses „es“ wirklich war.
Was „es“ auch immer genau sein mochte, sie war schon jetzt überzeugt, dass „es“ überaus ernst zu nehmen war.
Sie kannte den vierzehnjährigen Wyatt Hitt schon sein gesamtes Leben. Er konnte manchmal frech sein, wie jeder Junge in diesem Alter, doch er war kein Lügner. Und er hatte beinahe hysterisch geklungen, als er vorhin auf der Polizeistation angerufen hatte. Was er sagte, hatte nicht viel Sinn ergeben, doch er hatte eine Sache absolut klar gemacht…
Irgendetwas war mit Gareth Ogden passiert.
Irgendetwas Schlimmes.
Mehr wusste Sam nicht. Und auch Dominic nicht.
Als sie das Auto vor Gareths Haus geparkt hatte, sah sie, dass Wyatt auf der untersten Stufe der Treppe saß, die zur Veranda führte. Neben ihm lag ein Jutebeutel voll unausgetragener Zeitungen.
Als Sam und Dominic aus dem Auto gestiegen waren und zu ihm hinübergingen, schaute der flachsblonde Junge sie nicht einmal an. Er starrte immer nur geradeaus. Wyatts Gesicht war noch blasser als sonst, und er zitterte, obwohl es ein heißer Morgen war.
Es ist der Schock, begriff Sam.
Dominic sprach ihn an: „Erzähl uns, was passiert ist.“
Wyatt setzte sich auf und schaute Dominic mit leeren Augen an. Dann begann er zu stammeln. Er befand sich im Stimmbruch, was die Heiserkeit und den Schrecken in seiner Stimme noch verschlimmerte…
„Er – er ist dort drin, im Haus. Mr. Ogden, meine ich.“
Dann starrte er wieder auf das Wasser des Golfs.
Sam und Dominic schauten einander an.
An Dominics besorgtem Gesichtsausdruck erkannte sie, dass er den Jungen ernst nahm.
Beim Gedanken an das, was ihnen wahrscheinlich gleich bevorstand, lief Sam ein Schauer über den Rücken, und sie dachte…
Ich habe das untrügliche Gefühl, dass es gleich ziemlich unangenehm wird.
Sie und Dominic stiegen die Treppe hinauf und überquerten die Veranda. Als sie durch die Gittertür spähten, sahen sie Gareth Ogden.
Dominic wich entsetzt einige Schritte von der Tür zurück.
„Mein Gott!“, stieß er aus.
Ogden lag rücklings auf dem Boden, Augen und Mund waren weit aufgerissen. Auf seiner blutüberströmten Stirn klaffte eine offene Wunde.
Dominic drehte sich blitzartig um und schrie Wyatt die Treppen hinunter an…
„Was zur Hölle ist passiert? Was hast Du getan?“
Selbst ein wenig darüber erstaunt, dass sie Dominics Panik nicht teilte, berührte Sam ruhig seinen Arm und raunte ihm zu: „Er hat gar nichts getan, Dom. Er ist nur ein Kind. Er ist nur der Zeitungsträger.“
Dominic schüttelte ihre Hand ab und stürmte die Treppen hinunter. Er riss den armen Wyatt hoch.
„Sag schon!“, schrie Dominic. „Was hast Du getan? Wieso?“
Sam rannte die Treppe hinab ihm nach. Sie griff den hysterischen Cop bei den Armen und zerrte ihn gewaltsam auf den Rasen.
„Lass ihn in Ruhe, Dom“, sagte Sam. „Lass mich das machen, ok?“
Dominics Miene war jetzt genauso blass wie die Wyatts. Auch er zitterte nun.
Er nickte stumm. Sam ging zu Wyatt hinüber und half ihm, sich wieder aufzusetzen.
Sie hockte sich vor ihn und legte ihm ihre Hand auf die Schulter.
Sie sagte: „Es wird alles wieder gut, Wyatt. Hol einfach ein paar Mal tief Luft.“
Dem armen Wyatt gelang es nicht, ihren Anweisungen zu folgen. Stattdessen schien er gleichzeitig zu hyperventilieren und zu schluchzen.
Er schaffte es dennoch, einige Worte herauszupressen: „Ich – ich wollte ihm nur die Zeitung bringen und dann habe ihn dort gefunden.“
Sam kniff die Augen zusammen und versuchte zu verstehen, was er sagte.
„Wieso bist du bis zur Veranda hinaufgestiegen?“, fragte sie. „Konntest du die Zeitung nicht einfach von hier aus hochwerfen?“
Wyatt zuckte mit den Schultern und sagte: „Er wird immer – wurde immer wütend, wenn ich das tat. Er meinte immer, das Geräusch würde ihn aufwecken. Er sagte mir, ich solle auf die Veranda kommen und die Zeitung zwischen die Gitter- und die Eingangstür stecken. Sonst würde sie weggeweht, sagte er. Also bin ich immer da hochgestiegen, und heute wollte ich gerade die Gittertür öffnen, da sah ich – “
Wyatt schluchzte und stöhnte bei der Erinnerung an das Gesehene. Dann fügte er hinzu…
„Dann habe ich euch von meinem Handy aus angerufen.“
Sam klopfte ihm sanft auf die Schulter.
„Es wird alles gut“, sagte sie. „Du hast alles richtig gemacht, indem du die Polizei gerufen hast. Warte jetzt hier.“
Wyatt warf einen Blick auf seine Tasche. „Aber diese Zeitungen – ich muss sie heute unbedingt noch austragen.“
Armer Junge, dachte Sam.
Er war offensichtlich schrecklich durcheinander. Außerdem machte sich anscheinend eine Art fälschliches Schuldgefühl in ihm breit. Sam nahm an, dass es eine natürliche Reaktion in solch einer Situation war.
„Du musst gar nichts machen“, sagte sie. „Niemand wird irgendetwas sagen. Alles wird gut. Wie gesagt, wartest du jetzt einfach hier.“
Sie erhob sich und schaute sich nach Dominic um, der immer noch stumm und wie erstarrt im Vorgarten stand.
Sam wurde nun ein wenig wütend.
Hat er vergessen, dass er ein Cop ist?
Sie rief ihm zu: „Dom, komm schon. Wir müssen da rein und uns das genauer ansehen.“
Doch Dom rührte sich nicht. Er stand da, als hätte er seinen Gehörsinn eingebüßt und konnte nicht hören, dass sie mit ihm sprach.
Sie fuhr ihn in einem schärferen Ton an: „Dominic, komm mit verdammt!“
Dominic nickte stumm und trottete die Treppe hinauf über die Veranda ins Haus hinein ihr nach.
Gareth Ogden lag mit weit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem Boden. Er trug Shorts und ein T-Shirt. Die Wunde auf seiner Stirn war merkwürdig präzise und symmetrisch. Sam kniete sich zu ihm hinab, um sie sich genauer anzusehen.
Immer noch über ihr stehend stammelte Dominic: „F-Fass nichts an.“
Sam hätte ihn am liebsten gefragt, ob er sie für blöd hielt.
Welcher Cop wusste nicht, wie vorsichtig man an so einem Tatort sein musste?
Doch als sie sich zu Dominic umwandte, sah sie, dass er immer noch blass war und zitterte.
Was, wenn er ohnmächtig wird? dachte sie.
Sie zeigte auf einen Sessel in der Nähe und sagte: „Setz dich mal, Dom.“
Dominic tat stumm, wie ihm gesagt wurde.
Sam fragte sich, ob er jemals zuvor eine Leiche gesehen hatte.
Ihre eigene Erfahrung beschränkte sich auf die Beerdigungen ihrer Großeltern. Natürlich war das hier etwas ganz anderes. Doch trotzdem fühlte sich Sam merkwürdig ruhig, als sei sie Herr der Lage – fast so, als hätte sie sich schon eine ganze Weile lang auf eine derartige Situation vorbereitet.
Dominic teilte dieses Gefühl offenbar nicht.
Sie schaute sich Ogdens Wunde genauer an. Sie ähnelte ein wenig dem riesigen Krater auf der Landstraße in der Nähe von Rushville von vor einem Jahr – eine komische, klaffende Öffnung, die dort eigentlich nicht hingehörte.
Noch merkwürdiger war, dass die Haut um die Wunde herum unversehrt geblieben war – vollkommen unbeschädigt sah sie so aus, als hätte sie sich nur so weit gedehnt, wie das Objekt, das sich in Ogdens Kopf gebohrt hatte, Platz gebraucht hatte.
Sam begriff sofort, um welches Objekt es sich dabei gehandelt haben musste.
Sie rief Dominic zu: „Jemand muss mit einem Hammer auf ihn eingeschlagen haben.“
Dominic, dem es offenbar wieder besser ging, erhob sich aus dem Sessel und kniete sich neben Sam, um die Leiche genauer betrachten zu können.
„Woher weißt du, dass es ein Hammer war?“, fragte er.
Obwohl Sam sehr wohl wusste, dass es wie ein perverser Witz klingen musste, antwortete sie…
„Ich kenn’ mich aus mit Werkzeug.“
Es stimmte. Als sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie von ihrem Vater mehr über die richtige Handhabung verschiedener Werkzeuge erfahren, als die meisten Jungs der Stadt in ihrem gesamten Leben. Und die Einkerbung von Ogdens Wunde hatte exakt dieselbe Form, wie das runde Ende eines ganz normalen Hammers.
Die Wunde war zu groß um beispielsweise von einem Kugelhammer herzurühren.
Außerdem musste es ein größerer Hammer gewesen sein. Nur so konnte ein einziger Schlag so tödlich sein wie in diesem Fall.
Ein Klauenhammer oder ein Reißhammer, dachte sie. Etwas anderes kommt nicht in Frage.
Sie sagte zu Dominic: „Ich frage mich, wie der Mörder hier reingekommen ist.“
„Oh, das kann ich dir sagen“, erwiderte Dominic. „Ogden hat sich nicht einmal bemüht, daran zu denken, seine Tür abzuschließen. Selbst dann nicht, wenn er das Haus verlassen hat. Er ließ sie manchmal sogar nachts sperrangelweit offen stehen. Du weißt doch wie die Leute, die in der Strandstraße leben, drauf sind – sie sind dumm und gutgläubig.“
Sam fand es traurig, die Worte „dumm“ und „gutgläubig“ auf diese Weise im selben Satz zu hören.
Wieso sollten die Leute in einer Stadt wie Rushville ihre Häuser auch zusperren?
Seit Jahren hatte es keine Gewaltverbrechen gegeben.
Tja, so gutgläubig werden sie nun wohl nicht mehr sein, dachte sie sich.
Sam sagte: „Die Frage ist jetzt, wer es war.“
Dominic zuckte mit den Schultern und sagte: „Wer auch immer es war, Ogden sieht auf jeden Fall so aus, als wäre er mächtig überrascht gewesen.“
Sam stimmte ihm schweigend zu, denn der Gesichtsausdruck der Leiche ließ keinen anderen Schluss zu.
Dominic fuhr fort: „Es muss jemand vollkommen fremdes gewesen sein, niemand aus der Stadt. Ich meine, Ogden war gemein, aber niemand in der Stadt hasste ihn so sehr. Außerdem hat niemand hier Mumm genug, einen solchen Mord zu begehen. Es war wahrscheinlich jemand auf der Durchreise. Wir werden viel Glück brauchen, den zu erwischen.“
Dieser Gedanke bereitete Sam Bauchschmerzen.
Sie konnten nicht zulassen, dass in Rushville so etwas einfach passierte.
Das konnten sie einfach nicht.
Außerdem hatte sie das starke Gefühl, dass Dominic Unrecht hatte.
Der Mörder war kein bloßer Durchreisender.
Ogden war von jemandem umgebracht worden, der hier in ihrer Mitte lebte.
Außerdem wusste Sam, dass es nicht das erste Mal war, dass so etwas hier in Rushville geschah.
Aber sie wusste auch, dass jetzt nicht die richtige Zeit war, um Vermutungen anzustellen.
Sie sagte zu Dominic: „Du rufst Chief Crane an. Ich rufe den Bezirksgerichtsmediziner an.“
Dominic nickte und zog sein Handy hervor.
Bevor sie nach ihrem eigenen Handy griff, wischte Sam sich den Schweiß von der Stirn.
Es war schon jetzt ein brütend heißer Tag…
Und er würde noch sehr viel heißer werden.
KAPITEL ZWEI
Riley Paige sog die kühle Meeresluft tief ein.
Sie saß draußen auf der hohen Terrasse eines Häuschens am Meer wo sie, ihr Freund Blaine und ihre drei Teenage-Töchter bereits eine Woche verbracht hatten. In der Ferne konnte sie weitere Urlauber erkennen, die sich auf dem weiten sandigen Strand und im kühlen Wasser des Meeres vergnügten. Riley konnte April, Jilly und Crystal im seichten Wasser spielen sehen. Es gab zwar eine Strandwache mit Rettungsschwimmern vor Ort, aber trotzdem war Riley froh, dass sie einen guten Blick auf die Mädchen hatte.
Blaine hatte es sich auf einer Strandliege neben ihr bequem gemacht.
Er sagte: „Na, bist du froh, dass du meine Einladung angenommen und hierher gefahren bist?“
Riley drückte seine Hand und sagte: „Heilfroh, ich könnte mich glatt daran gewöhnen.“
„Das will ich doch schwer hoffen“, entgegnete Blaine und drückte ebenfalls ihre Hand. „Wann war das letzte Mal, dass du so einen Urlaub gemacht hast?“
Die Frage ließ Riley einen Moment lang stutzen.
„Ich habe wirklich keine Ahnung“, sagte sie. „Das muss Jahre her sein.“
„Dann haben wir ja einiges nachzuholen“, sagte Blaine.
Riley lächelte und dachte…
Ja, noch eine ganze weitere Woche genauer gesagt.
Sie hatten soweit allesamt eine tolle Zeit hier gehabt. Ein wohlhabender Freund von Blaine hatte ihm angeboten, sein Strandhaus in Sandbridge Beach zwei Augustwochen lang zu nutzen. Als Blaine sie eingeladen hatte mitzukommen, hatte Riley eingesehen, dass sie es Jilly und April schuldete mehr Zeit mit ihnen fernab der Arbeit zu verbringen.
Nun dachte sie allerdings…
Ich habe es auch mir selbst geschuldet.
Vielleicht, wenn sie diesen Sommer genug Übung bekäme, konnte sie sich sogar daran gewöhnen, sich ab und zu etwas zu gönnen.
Als sie hier angekommen waren, war Riley überrascht gewesen, wie elegant das Haus war. Es war ein schöner Bau, auf Pfählen gebaut, und von der großzügigen Terrasse aus hatte man einen herrlichen Blick auf den Strand. Es gab sogar einen Außenpool hinten im Garten.
Sie waren am Tag von Aprils sechzehntem Geburtstag hier angekommen. Riley und die Mädchen hatten den Tag mit einer Shoppingtour und dem Besuch des Aquariums im nur wenige Kilometer entfernten Virginia Beach verbracht. Seither hatten sie diesen Ort nicht mehr verlassen, und die Mädchen schienen alles andere als gelangweilt zu sein.
Blaine ließ Rileys Hand sanft fallen und stand von seiner Liege auf.
Riley brummte: „Hey, wo willst du denn hin?“
„Abendessen kochen“, sagte Blaine. Dann fügte er mit einem frechen Grinsen hinzu: „Es sei denn, du würdest lieber auswärts essen.“
Riley lachte über den kleinen Witz. Blaine besaß ein hochklassiges Restaurant in Fredericksburg, und er selbst war ein Meisterkoch. Seitdem sie hier angekommen waren, hatte es keinen Abend gegeben, an dem er nicht für sie ein vorzügliches Gericht aus Meeresfrüchten gezaubert hatte.
„Das kommt nicht in Frage“, antwortete Riley. „Nun marsch in die Küche und mach dich an die Arbeit.“
„Ok, Boss“, erwiderte Blaine.
Er gab ihr einen flüchtigen Kuss und ging ins Haus. Riley schaute den Mädchen noch einige Zeit beim Herumtoben in den seichten Wellen zu. Doch dann wurde Riley von einer inneren Unruhe gepackt, sodass sie überlegte, ob sie sich nicht zu Blaine gesellen sollte, um ihm mit dem Abendessen zu helfen.
Erwartungsgemäß würde der sie wieder wegschicken und ihr sagen, dass sie das Kochen besser ihm überlassen solle.
Stattdessen angelte Riley also nach dem Krimi, den sie während ihrer Zeit hier zu lesen begonnen hatte. Ihr fehlte zwar die Konzentration, die verstrickte Handlung komplett zu verstehen, doch bereitete ihr das Lesen trotzdem viel Freude.
Kurze Zeit später zuckte sie zusammen und musste feststellen, dass sie kurz eingenickt war und das Buch dabei hatte fallen lassen – wie lange hatte sie nur geschlafen?
Nicht dass das wichtig gewesen wäre.
Der Nachmittag neigte sich sanft dem Abend zu, und die Wellen wölbten sich weiter in die Höhe. Das Wasser sah ein wenig bedrohlicher aus, nun da die rastlose Flut immer tiefer in den Strand drang.
Obwohl es eine Strandwache gab, machte Riley sich Sorgen. Gerade wollte sie schon aufstehen und den Mädchen anzeigen, dass es Zeit war, aus dem Wasser zu kommen. Doch da erkannte sie, dass die Mädchen schon selbst zu diesem Schluss gekommen waren. Sie saßen bereits am Strand und bauten eine Sandburg.
Riley war erleichtert, dass ihre Töchter eine so vernünftige Entscheidung getroffen hatten. Der anbrechende Abend zeigte Riley, dass Menschen nicht zu jeder Tageszeit an das Meer gehörten. Einige Meeresbewohner waren zu grausamer Gewalt fähig – Gewalt, die mindestens genauso barbarisch war wie die der menschlichen Monster, die Riley als FBI-Agentin jagte und gegen die sie kämpfte.
Riley zuckte zusammen als ihr diejenigen Monster einfielen, vor denen sie bereits ihre eigene Familie hatte beschützen müssen. Sie hatten List besessen. Und so wusste sie auch genau, dass es besser war, sich gar nicht erst mit den Monstern der Meerestiefen anzulegen.
Ihren letzten Fall hat Riley vor einem Monat abgeschlossen – eine Serie schrecklicher Messermorde an wohlhabenden, mächtigen Männern, die in eleganten Häusern in Georgia gelebt hatten. Seither war ihr Job überraschend und ungewohnt ruhig gewesen – fast schon langweilig.
Sie hatte Unterlagen sortiert und Akten auf den neusten Stand gebracht, Sitzungen besucht und andere Agenten in ihren Fällen beraten. Sie hatte es außerdem genossen, ein paar Vorlesungen vor Studenten an der FBI Akademie zu halten. Als erfahrene und beinahe schon gefeierte Agentin war Riley eine beliebte Dozentin, jedenfalls wenn sie Zeit hatte, Vorlesungen zu halten.
Die jungen, hoffnungsvollen Gesichter im Vorlesungssaal zu sehen, erinnerte sie an den früheren Idealismus ihrer eigenen Studententage an der Akademie. Damals war sie noch voller Hoffnung gewesen, die Welt einmal von Bösewichten befreien zu können. Sie war nun sehr viel weniger hoffnungsvoll, doch sie tat immer noch ihr Bestes.
Was sollte ich auch sonst tun? fragte sie sich.
Es war die einzige Arbeit, die sie kannte, und sie wusste, dass sie ihre Arbeit gut machte.
Sie hörte Blaines Stimme aus dem Inneren des Hauses rufen…
„Riley, Abendessen ist fertig. Ruf die Kinder rein.“
Riley stand auf und rief so laut sie konnte „Abendessen!“.
Die Mädchen ließen von der Sandburg ab, die mittlerweile recht kunstvoll und detailreich in den Himmel ragte, und liefen in Richtung des Hauses. Sie rannten unter der Terrasse, auf der Riley saß, hindurch gen Hinterhof, um sich neben dem Außenpool noch schnell abzuduschen.
Bevor sie selbst hineinging, blieb Riley noch kurz am Geländer der Terrasse stehen. Sie konnte sehen, dass die Sandburg der Mädchen bereits von der herannahenden Flut umspült wurde. Riley wurde ein klein wenig traurig. Doch dann ermahnte sie sich, dass das für Schlösser aus Sand nun einmal ganz normal war.
Als sie ein Kind gewesen war, hatte sie nur wenig Zeit am Strand verbracht. Ihre Kindheit hatte einfach anders ausgesehen. Doch während sie ihren Mädchen beim Spielen im Sand zugesehen hatte, war ihr auch bewusst geworden, dass das Wissen um die zeitliche Begrenztheit ihrer flüchtigen Bauwerke Teil ihrer Spielfreude war.
Eine gesunde Lektion des Lebens, dachte Riley.
Sie verweilte noch einige Momente und schaute zu, wie das Schloss langsam im Wasser verschwand. Als sie hörte, wie die drei Mädchen die Treppen hinaufgestürmt kamen, drehte sie sich um und lief über die Terrasse und um das Haus herum ihnen entgegen.
Eines der Mädchen war Crystal, Blaines sechzehnjährige Tochter, die Aprils beste Freundin war. Die dritte im Bunde war die vierzehnjährige Jilly, die Riley erst vor kurzem adoptiert hatte.
Als sich die drei kreischenden und kichernden Mädchen auf den Weg in ihr Schlafzimmer machten um sich dort vor dem Abendessen umzuziehen, bemerkte Riley einen kleinen Kratzer an Jillys Oberschenkel.
Sie hielt sie sanft fest und fragte: „Wie ist das passiert?“
Jilly warf einen Blick auf den Kratzer und sagte: „Weiß nicht. War wahrscheinlich unvorsichtig. Hab mich an einer Dorne oder so verletzt.“
Riley ging in die Hocke um den Kratzer genauer anzusehen. Er war überhaupt nicht schlimm und Schorf hatte sich bereits zu bilden begonnen. Trotzdem kam es Riley irgendwie seltsam vor. Sie konnte sich daran erinnern, dass Jilly am Tag ihrer Ankunft einen ähnlichen Kratzer an ihrem Arm gehabt hatte. Jilly hatte gesagt, dass Aprils Katze, Marbles, sie gekratzt hätte. April hatte das jedoch vehement abgestritten.
Jilly entzog sich der Umklammerung – als würde sie versuchen, weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen, dachte Riley.
„Es ist nichts Mom, ok?“
Riley sagte: „Es gibt einen Erste Hilfe Koffer im Bad. Desinfizier die Wunde bevor du zum Abendessen kommst.“
„Ok, werde ich machen“, sagte Jilly.
Riley schaute ihr nach, als sie April und Crystal ins Schlafzimmer nachrannte.
Nichts, worüber man sich Sorgen machen sollte, sagte Riley sich.
Aber es fiel ihr schwer, sich keine Sorgen zu machen. Jilly lebte erst seit Januar bei ihnen. Während eines Falls in Arizona hatte Riley Jilly unter schrecklichen Umständen kennengelernt und gerettet. Nach einigen persönlichen und juristischen Kämpfen hatte Riley Jilly letzten Monat endlich adoptieren dürfen. Und Jilly schien sehr glücklich mit ihrer neuen Familie zu sein.
Und außerdem…
Es ist bloß ein kleiner Kratzer – nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.
Riley ging in die Küche um Blaine dabei zu helfen, den Tisch zu decken und das Abendessen zu servieren. Die Mädchen gesellten sich schon bald zu ihnen, und so setzten sie sich an den Tisch – es gab köstliche Flunderfilets in Tartar Sauce. Alle waren glücklich und lachten. Als Blaine das Abendessen schließlich mit einem Käsekuchen zu seinem kulinarischen Höhepunkt führte, hatte sich längst ein warmes, wohliges Gefühl in Rileys Bauch breitgemacht.
Wir sind wie eine Familie, dachte sie.
Oder vielleicht war das nicht ganz richtig. Vielleicht, nur vielleicht…
Wir sind wirklich eine Familie.
Es war so lange her, dass Riley sich so gefühlt hatte.
Während sie ihr Dessert aufaß, dachte Riley erneut…
Ich könnte mich wirklich daran gewöhnen.
*
Nach dem Abendessen machten sich die Mädchen auf, vor dem Zubettgehen in ihrem Schlafzimmer noch ein paar Brettspiele zu spielen. Riley gesellte sich mit einem Glas Wein zu Blaine auf die Terrasse. Sie beobachtete, wie es um sie herum langsam Nacht wurde. Beide schwiegen eine lange Weile.
Riley genoß dieses Schweigen, und sie spürte, dass auch Blaine das tat.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, mit ihrem Ex-Mann Ryan viele dieser einfachen, angenehm ruhigen Momente geteilt zu haben. Sie hatten eigentlich immer entweder geredet oder einander absichtlich angeschwiegen. Und wenn sie nicht miteinander gesprochen hatten, hatten sie einfach in ihren eigenen Welten gelebt.
Doch Blaine fühlte sich gerade sehr wie ein Teil von Rileys Welt an…
Und was für eine schöne Welt das war.
Der Mond schien hell und als die Nacht dunkler wurde, kamen die Sterne heraus – die Kraft ihres Glanzes so fernab der Stadt war kaum zu fassen. Das Licht des Mondes und der Sterne spiegelte sich in den dunklen Wellen des Golfs. Weit in der Ferne verschwamm der Horizont bis er endgültig verschwunden war, und es schien, dass Meer und Himmel eins waren.