Loe raamatut: «Tötet», lehekülg 2

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KAPITEL ZWEI

Julian Banfield hatte das Gefühl, aus einem furchtbaren Traum aufzuwachen.

Oder überhaupt nicht aufzuwachen, dachte er.

Er war noch immer benommen und kaum bei Bewusstsein. Außerdem hatte er unglaubliche Kopfschmerzen.

Er öffnete die Augen – oder zumindest glaubte er das – und fand sich von völliger Dunkelheit umhüllt. Als er versuchte, sich zu bewegen, begriff er, dass er es nicht konnte. Er wusste, dass diese Art von Immobilisierung ein typisches Symptom seiner sporadischen Albträume war – vermutlich verursacht durch die einengenden Decken, unter denen er lag.

Aber das hier fühlt sich anders an, realisierte er.

Obwohl seine Gliedmaßen außer Fecht gesetzt waren, lag er nicht.

Atme, wies Julian sich selbst an, wie er es schon oft seinen Patienten erklärt hatte. Langsam atmen, ein und aus.

Aber seine Stimmung sank, als ihm die Wirklichkeit der Situation dämmerte. Er saß gefesselt in absoluter Dunkelheit. Selbst nach mehreren tiefen Atemzügen schaffte er es nicht, sich zu beruhigen.

Denk nach, meinte er zu sich selbst. Was ist das letzte, an das du dich erinnerst?

Dann kam alles zurück. Er hatte im Arbeitszimmer nach Sheila gesucht, als jemand ihn von hinten gepackt und dazu gezwungen hatte, durch einen Stofffetzen zu atmen, der mit einer süßen, dicklichen Flüssigkeit durchtränkt worden war.

Chloroform, erinnerte er sich und seine Gedanken rutschten wild in Richtung einer Panikattacke.

Dann hörte Julian eine leise und sanfte Stimme in der Dunkelheit.

„Hallo Dr. Banfield.“

„Wer ist da?“, keuchte Julian.

„Sie erkennen meine Stimme nicht?“, sagte die Stimme. „Nun, ich nehme an, das ist nicht allzu überraschend. Es ist lange her. Ich war noch viel jünger und meine Stimme ganz anders.“

Plötzlich erstrahlte ein Licht und Julian war kurz wie geblendet.

„So“, sagte die Stimme. „Ist das besser?“

Julian kniff die Augen zusammen, um sich an das Licht zu gewöhnen. Ein Gesicht erschien vor ihm – ein lächelnder Mann mit einem langen, schmalen Gesicht.

„Sicherlich erkennen Sie mich jetzt“, sagte er.

Julian starrte ihn lediglich an. Er glaubte, dass die Form des Kinns ihm vage bekannt vorkam, konnte es aber nicht einordnen. Er erkannte ihn nicht und um die Wahrheit zu sagen, war ihm das in dem Moment auch egal. Er begann, die Situation zu verstehen – und es sah sehr, sehr schlecht aus.

Er und der fremde Mann befanden sich in Julians Weinkeller, umgeben von Regalen mit hunderten von Weinflaschen. Julian war irgendwie an einen der schweren und eleganten Holzstühle gebunden worden, die Teil des Weinkellerdekors waren.

Ein Fremder saß auf einem anderen Stuhl, starrte ihn an und lächelte noch immer.

Er hielt ein Glas in der einen und eine frisch geöffnete Flasche Wein in der anderen Hand.

Er schenkte sich ein und sagte dann: „Ich hoffe, es stört Sie nicht – ich habe mir die Freiheit genommen, eine Flasche Le Vieux Donjon Châteauneuf-du-Pape von vor ein paar Jahren zu öffnen. Ich nehme an, das war ziemlich dreist von mir. Vielleicht haben Sie den Tropfen ja für einen besonderen Moment aufbewahrt. Ich habe gehört, der Vintage soll sehr angenehm reifen.“

Er hielt das Glas vors Licht und betrachtete den Wein mit Kennermiene.

Er sagte: „Ich war versucht, einen 1987 Opus One zu öffnen, aber das wäre natürlich absolut unangemessen gewesen. Außerdem macht mich dieser Vintage sehr neugierig.“

Der Fremde nahm einen Schluck und bewegte die Flüssigkeit im Mund herum.

„Er wird seinem Ruf definitiv gerecht“, sagte er. „Spuren von zerstoßener Wacholderbeere, Brombeere, Rosine, gerösteten Maronen. Ein mutiger, reicher Geschmack. Ich bin zwar kein Experte, aber ich würde sagen, dass das eine gute Investition war.“

Julian fühlte sich noch immer konfus und verwirrt.

Nicht schreien, warnte er sich selbst. Niemand würde ihn hören können und es würden den Mann nur aufhetzen. Stattdessen sollte er vermutlich seine Fähigkeiten als Therapeut nutzen. Vor allem war es wichtig, ruhig zu bleiben – oder zumindest, ruhig zu erscheinen.

„Nun“, sagte er. „Jetzt, wo wir hier sind, möchten Sie mir vielleicht ein bisschen über sich selbst erzählen.“

Der Fremde kicherte. „Was würden Sie gerne wissen, Doktor?“, fragte er.

„Sicherlich möchten Sie mir etwas darüber erzählen, warum … ähm, was uns in diese besondere Situation gebracht hat“, antwortete Julian.

Der Fremde machte ein kratzendes Geräusch, was nicht wirklich als Lachen zu interpretieren war. „Ich fürchte, dass ist eine eher lange und komplizierte Geschichte“, sagte er. Dann stand er plötzlich auf und warf das delikate Weinglas gegen die Wand, wo es zerbrach. Die Weinflasche stellte er auf einen kleinen, dekorativen Tisch.

Julian begriff, dass seine professionellen Taktiken ihm hier nicht weiterhelfen würden. Also versuchte er sich an einer anderen Herangehensweise.

„Meine Frau wird bald zu Hause sein“, platzte er heraus.

Der Fremde klang unbeeindruckt.

„Wird sie das? Nun, dann sollten wir wohl zum Geschäftlichen kommen.“

„Wer zum Teufel sind Sie?“, forderte Julian.

Ein verletzter Blick überrollte das Gesicht des Fremden.

„Ach du meine Güte. Ich hatte gehofft, mittlerweile erkannt worden zu sein. Nun, da habe ich wohl zu viel erwartet. Aber ich bin mir sicher, dass Sie mich bald erkennen werden. Ich kenne eine todsichere Methode, Ihr Gehirn zu stimulieren.“

Wieder glaubte Julian, etwas Vertrautes am Kinn des Mannes wahrzunehmen. Aber er erkannte ihn definitiv nicht. Die einzige Wirklichkeit, auf die er sich konzentrieren konnte, war die Tatsache, dass er Gefangener in seinem eignen Weinkeller war – einem Mann ausgeliefert, der ziemlich verrückt zu sein schien.

Er wusste nur nicht, wie er an dem Stuhl festgemacht worden war, aber es fühlte sich mehr als unangenehm an. Etwas Enges drückte gegen seine Brust, was das Atmen erschwerte. Nun begriff er auch, dass seine Füße nackt, kalt und feucht waren.

Er sah zu Boden. Obwohl seine Knie zusammengebunden waren, konnte er einen seiner großen Silberteller auf dem Boden sehen. Als er seine Füße ein wenig bewegte, merkte er, in seichtem Wasser zu stehen.

„Ja“, kommentierte der Fremde. „Ich habe einen Silberteller aus Ihrem reizenden Geschirrschrank mitgebracht. Perfekt für die bevorstehende Tätigkeit. Darin befindet sich etwa ein halber Zentimeter Wasser und sowohl Wasser als auch Silber sind exzellente Leiter.“

Exzellente Leiter, fragte sich Julian.

Seine Augen wanderten durch den Raum und versuchten, so viel wie möglich von den Geschehnissen um ihn herum aufzunehmen. Er konnte sehen, dass der Fremde ein Paar Stiefel mit Gummisohlen zu tragen schien.

Dann begann er, ein Paar dicker Gummihandschuhe anzuziehen.

Was um Himmels Willen …? Wieder warnte sich Julian davor, zu schreien.

Der Fremde verschwand für einen Moment aus Julians Blickfeld. Nach einem Klappern aus der Richtung des Stromverteilerkastens des Kellers, kam der Fremde mit einem Stück hochleistungsfähigem Isolierkabel zurück. Das Kabel war abgetrennt worden und die Drähte darin freigelegt.

Julian fühlte, wie sein Körper begann, die schreckliche Angst zu begreifen.

Der Fremde kam auf Julian zu und sah ihm in die Augen.

„Sind Sie sicher, dass Sie mich nicht erkennen, Dr. Banfield?“, fragte er mit diesem unvergänglichen Lächeln.

Julian starrte in das Gesicht des Fremden, wieder stach ihm die Form seines Kinns ins Auge. Er dachte angestrengt nach und versuchte, das Gesicht einzuordnen, während ein Schwall von Gedanken durch seinen Kopf raste.

Elektrizität … Elektroden … Stromleiter …

Dann begriff er es plötzlich. Obwohl er keinen Namen parat hatte, war das Gesicht selbst nach so vielen Jahren noch unverkennbar.

„Ja!“, murmelte er überrascht. „Ja, ich weiß, wer Sie sind!“

„Oh, gut!“, meinte der Fremde. „Ich wusste, ich könnte Ihre Erinnerung anregen.“

Julians Herz klopfte schmerzhaft.

„Meine Frau wird bald zu Hause sein“, sagte er erneut.

„Ja, da bin ich mir sicher“, meinte der Fremde. „Und wie überrascht sie sein wird!“

Der Fremde ließ die nackten Drähte vorsichtig auf den Silberteller fallen. Julian schrie, als sein Bewusstsein in einem Blitz aus glühendem Weiß explodierte.

KAPITEL DREI

Riley klammerte sich an dem schnurlosen Telefon in ihrer Hand fest, während sie in der kleinen Kellerwohnung auf und ab ging, die sie sich mit ihrem Verlobten, Ryan Paige, teilte. Sie versuchte, Agent Crivaro anzurufen.

Und wieder einmal nahm er den Anruf nicht entgegen. Sein Telefon klingelte und klingelte und klingelte.

Ich erreiche nicht einmal seinen Anrufbeantworter, dachte sie.

Ryan sagte: „Kommst du immer noch nicht durch?"

Sie hatte nicht realisiert, dass Ryan ihr Tun beachtet hatte. Er saß am Küchentisch und las Fallmaterialien durch, die er von Parsons & Rittenhouse nach Hause gebracht hatte, der Anwaltskanzlei, wo er als Einsteiger-Anwalt arbeitete.

„Nein“, sagte Riley. „Ich habe das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Vielleicht sollte ich zurück nach Quantico fahren und …“

Ryan unterbrach sie sanft. „Riley, nein. Was würde das bringen?“

Riley seufzte. Ryan hatte recht – natürlich. Nach der Verhandlung und Crivaros Verschwinden hatte sie das FBI-Fahrzeug zurück nach Quantico gebracht und gehofft, ihn im Hauptrevier der Verhaltensanalyseeinheit zu finden. Aber er war nicht dort gewesen. Der federführende Special Agent Erik Lehl war bereits nach Hause gegangen, was vermutlich keinen Unterschied machte. Wenn Crivaro nicht dort aufgetaucht war, würde Riley nicht diejenige sein wollen, die Lehl erzählen musste, dass ihr Partner unentschuldigt fehlte.

„Wie oft hast du schon versucht, Crivaro anzurufen?“, fragte Ryan.

„Ich weiß es nicht“, meinte Riley.

Ryan kicherte mitfühlend.

„Erinnerst du dich an Einsteins Definition von Wahnsinn?“, fragte er.

Riley zuckte mit den Schultern. „Ja – wenn man immer wieder dieselbe Handlung ausführt, aber verschiedene Resultate erwartet.“

Sie ließ sich auf die Couch im Wohnzimmerbereich fallen, wo sie zuvor auf und ab gegangen war.

„Vielleicht verliere ich ja auch irgendwie den Verstand“, sagte sie.

Ryan stand vom Tisch auf, ging zum Küchenschrank und holte eine Flasche Bourbon sowie zwei Gläser heraus.

„Ich würde dich nur ungern in eine Anstalt einweisen lassen“, sagte er. „Vielleicht brauchst du was Hartes, um deine Vernunft wiederherzustellen.“

Riley lachte schicksalserschlagen.

„Kann nicht schaden“, meinte sie.

Ryan schenkte ein, setzte sich dann neben Riley auf die Couch und legte seinen Arm um ihre Schulter.

„Willst du darüber sprechen?“, fragte er.

Riley seufzte. Sie hatten schon viel über den Prozess gesprochen, seitdem sie nach Hause gekommen war und auch beim Abendessen war es ihr einziges Thema gewesen. Ryan wusste, wie sehr sie der Ausgang verärgert hatte. Und natürlich hatten sie auch über Crivaros mysteriöses Verschwinden gesprochen.

„Ich weiß nicht, was es da noch zu sagen gibt“, sagte sie und legte ihren Kopf an Ryans Schulter.

„Vielleicht fällt mir etwas ein“, meinte Ryan. „Vielleicht könntest du ein paar Fragen beantworten.“

Riley kuschelte sich enger an ihn. „Ja, das können wir versuchen.“

Ryan nahm einen Schluck Bourbon und sagte dann: „Warum genau machst du dir Sorgen um Agent Crivaro?“

„Weil er gegangen ist, ohne mir Bescheid zu geben“, sagte sie.

„Denkst du, er befindet sich in einer gefährlichen Situation?“

Riley schnaubte. „Agent Crivaro? Ich glaube nicht. Er ist zäh, der kann schon auf sich aufpassen.“

„Machst du dir Sorgen, dass er sauer auf dich ist?“, fragte Ryan.

Riley kniff überrascht die Augen zusammen. Es war tatsächlich eine richtig gute Frage. Sie hob ihren Kopf von Ryans Schulter und nahm einen Schluck Bourbon. Es fühlte sich tröstend an.

„Ich … kann mir nicht vorstellen, warum“, meinte sie.

„Also, was denkst du, was mit ihm los ist?“, fragte Ryan.

Sie erinnerte sich an seinen wütenden Gesichtsausdruck, als er den Gerichtssaal eilig verlassen hatte.

„Er ist sauer auf sich selbst“, sagte Riley. „Er hat das Gefühl, versagt zu haben.“

„Riley, ich weiß nicht, warum ihr beide so unglücklich mit dem Ausgang seid. Dreißig Jahre ist eine lange Zeit. Und Mullins wird fünfzehn Jahre warten müssen, um überhaupt die Möglichkeit auf Bewährung zu bekommen. Das klingt ziemlich zäh.“

Riley dachte wieder an ihre Konfrontation mit den wütenden Eltern der beiden Opfer.

Sie erinnerte sich an das Versprechen, das sie ihnen gemacht hatte.

Ich werde nicht zulassen, dass er vorzeitig oder auf Bewährung entlassen wird.“

Jetzt konnte sie nicht anders, als sich zu fragen – wäre sie wirklich in der Lage, dieses Versprechen zu halten?

„Wir wollten mehr“, sagte Riley. „Die Familien der Opfer erwarteten mehr. Aber …“

Ihre Stimme versagte.

„Aber was?“, fragte Ryan.

Ryan stupste ihn zärtlich an.

„Du benimmst dich wie eine Art Psychiater“, sagte sie.

„Nein, das tue ich nicht“, sagte Ryan. „Ich benehme mich wie ein Anwalt.“

„Oh, dann befinde ich mich also gerade im Kreuzverhör?“, sagte Riley.

„Genau.“

„Dann muss ich Beschwerde einlegen“, meinte sie. „Das sind ziemlich suggestive Fragestellungen.

„Sag es dem Richter“, sagte Ryan.

„Welchem Richter?“, fragte Riley.

Sie lachten beide und kuschelten sich enger aneinander.

Dann fragte Ryan mit vorsichtigerer Stimme: „Was ist mit dir, Riley? Bist du glücklich?“

Riley fühlte eine Welle der Wärme durch ihren Körper schwappen.

„Oh ja“, sagte sie.

„Nicht nur mit dem Job, meine ich“, erwiderte Ryan.

„Ich weiß“, sagte Riley. „Ich bin wirklich glücklich – mit allem.“

Und das meinte sie mit ganzem Herzen.

Sie und Ryan hatten am Anfang ihrer Beziehung ein paar schwere Zeiten durchgemacht und es hatte Momente gegeben, in denen keiner von beiden geglaubt hatte, dass ihre Beziehung das aushalten könnte. Ryans neuer Job hatte ihn unter extremen Druck gesetzt und Rileys Fälle waren zeitweise ziemlich wild gewesen. Sie hatte viel zu viel Zeit von ihm getrennt verbracht.

Aber Ryan hatte sich nun in seiner Position eingelebt – und das in einer Anwaltskanzlei, die ihm jede Menge Aufstiegsmöglichkeiten bot. Und Rileys Fallbelastung war extrem geschrumpft. Sie und Crivaro hatten schon seit über sechs Wochen keinen Fall mehr bearbeitet, nachdem sie den Serienmörder in Kentucky und Tennessee zu Fall gebracht hatten, der es auf Jungfrauen abgezielt hatte.

Seitdem hatten beide hauptsächlich Recherchearbeiten im Quantico-Büro betrieben und Informationen gesammelt, die Jake den anderen Agenten im Einsatz übermittelte. Riley hatte die Arbeit zeitweise langweilig gefunden. Aber sie musste zugeben, dass es eine Erleichterung war, nicht allzu weit von Zuhause weg zu sein und sich nicht ständig in Gefahr zu begeben.

Das war auch für Ryan eine Erleichterung gewesen. Letztendlich schien er sich an die Idee zu gewöhnen, mit einer Agentin der Verhaltensanalyseeinheit zusammen zu sein. Zumindest versuchte er nicht mehr, sie davon zu überzeugen, zu kündigen. Und sie hatten schon seit Wochen nicht mehr gestritten.

Riley hoffte, ihre Arbeit womöglich in diesem langsameren, angenehmeren und weniger lebensbedrohlichen Tempo fortführen zu können. Sie war sich sicher, dass es zwischen ihr und Ryan immer besser werden würde, je mehr sie zu Hause war.

Und in Zeiten wie diesen schätzte sie es, wie rücksichtsvoll und fürsorglich Ryan sein konnte.

Und attraktiv, dachte sie, während sie ihn ansah.

Dann fragte er: „Willst du weiterreden?“

„Mm-mm“, meinte Riley.

„Was willst du dann tun?“

Riley drehte sein Gesicht zu ihrem und küsste ihn.

„Ich will ins Bett gehen“, sagte sie.

*

Als Riley am nächsten Morgen nach Quantico fuhr, war der Tag so hell und klar wie ihre Laune. Ihre Nacht mit Ryan war leidenschaftlich und perfekt gewesen. Und nun waren sie beide auf dem Weg zu ihren Jobs, die ihnen wirklich wichtig waren.

Könnte das Leben besser sein, fragte sie sich.

Jetzt, wo sie darüber nachdachte, könnte es das vielleicht tatsächlich. Und das würde es auch. Irgendwann bald würden sie und Ryan heiraten und, wenn sie beide bereit waren, eine Familie gründen.

Was Agent Crivaro anging, war Riley sich sicher, dass er sich heute besser fühlte.

Seine Laune gestern war sicherlich nur flüchtig, dachte sie.

Als sie auf ihren Parkplatz der Verhaltensanalyseeinheit fuhr, machte ihr Herz einen Sprung, als sie Crivaro in der Nähe seines Wagens stehen sah, wo er wie so oft auf ihre Ankunft wartete.

Alles ist wieder normal!

Sie parkte ihren Wagen und sprang heraus.

Nicht umarmen, befahl sie sich selbst. Das würde er nicht wollen.

Aber ihre Laune verschlechterte sich, als sie auf ihn zuging. Seine Arme waren verschränkt und er starrte auf den Asphalt, als hätte er ihre Ankunft gar nicht bemerkt.

Definitiv nicht in der Stimmung für Umarmungen, realisierte sie.

Was auch immer er ihr gleich sagen würde – sie war sich sicher, dass es ihr nicht gefallen würde.

KAPITEL VIER

Als Riley auf Crivaro zuging, sah er nicht einmal auf. An seinen Wagen gelehnt und mit dem Blick nach unten sagte er: „Es tut mir leid, was gestern passiert ist. Ich war ein Arschloch.“

Riley wollte ihm versichern, dass er kein Arschloch war. Aber irgendwie brachte sie die Worte nicht über die Lippen.

Ich glaube, ich bin sauer auf ihn, realisierte sie.

Diese Möglichkeit war ihr erst jetzt in den Sinn gekommen.

Sie lehnte sich neben ihn an den Wagen.

„Warum haben Sie sich so aus dem Staub gemacht?“, fragte sie.

Crivaro zuckte müde mit den Schultern.

„Es war nicht meine Absicht, dich im Stich zu lassen“, sagte er. „Zumindest glaube ich das nichts. Es war vielmehr …“

Seine Stimme versagte für einen Moment.

Dann sprach er mit gewürgter Stimme weiter. „Ich konnte den Eltern nicht gegenüberstehen. Ich konnte es einfach nicht. Nicht, nachdem wir sie so enttäuscht hatten. Ich hatte das Gefühl, einfach weg zu müssen.“

Riley war überrascht. Sie hatte angenommen, dass sie es war, mit der er nicht hatte reden wollen. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, kam ihr diese Annahme unglaublich ich-bezogen vor.

„Hast du mit ihnen gesprochen?“, fragte er Riley.

Riley nickte.

„Wie lief es?“

Riley atmete scharf ein.

„Ungefähr so wie erwartet“, sagte sie.

„So schlimm?“

Riley nickte. „Sie waren wütend auf die Entscheidung des Richters. Und ja, sie waren auch wütend auf uns.“

„Ich kann es ihnen nicht verübeln“, sagte Crivaro. „Was hast du ihnen gesagt?“

„Dass es mir leidtut und …“

Riley zögerte kurz. Plötzlich kam es ihr schwierig vor, das zu wiederholen, was sie den Eltern gesagt hatte.

Schließlich sagte sie: „Ich habe versprochen … sicherzugehen, dass Mullins erst wieder freikommt, wenn er seine volle Zeit abgesessen hat. Ich habe versprochen, nicht zuzulassen, dass er vorzeitig oder auf Bewährung freikommt.“

Crivaro nickte.

Riley unterdrückte ein Seufzen. „Ich hoffe, ich habe kein Versprechen gemacht, das ich nicht halten kann.“

Riley hoffte, dass er etwas Ermutigendes sagen würde, aber er blieb still.

„Also, was ist los?“, fragte sie ein bisschen ungeduldig.

„Ich wollte es dir selbst sagen“, antwortete Crivaro, seine Stimme emotionsvoll. „Ich wollte nicht, dass du es von jemand anderem erfährst.“

Riley bekam ein ungutes Gefühl. Sie stand schweigend da, bis er weitersprach.

„Ich habe gekündigt“, erklärte Crivaro ihr.

„Das können Sie nicht“, platzte Riley heraus.

„Zu spät“, sagte er.

Sie suchte nach Worten. „Sie sagten, dass Sie bleiben würden, wenn ich mich der Einheit anschloss …“

„Für eine Weile, bis du angekommen bist“, beendete er ihren Satz. „Das ist fast ein Jahr her, Riley. Ich habe dir schon damals gesagt, dass ich das Alter erreicht habe, in Rente zu gehen.“

„Können Sie nicht noch warten …?“

„Nein, es ist schon endgültig. Ich komme gerade aus Erik Lehls Büro, habe meine Marke und meine Waffe abgeben und die offizielle Kündigung unterschrieben.“

„Warum?“, rief Riley mit scharfer Stimme.

Crivaro stöhnte leise.

„Du weißt genau, warum. Kannst du aufrichtig behaupten, dass ich in letzter Zeit in Bestform war? Ich werde nie wieder der Agent sein, der ich einmal war. Ich habe mein Verfallsdatum überschritten. Um überhaupt so lange im Job zu bleiben, waren besonderen Verlängerungen nötig gewesen.“

Sie schwiegen und standen beide mehrere Momente lang einfach da ohne einander anzusehen.

Schließlich sprach Crivaro weiter. „Nach der Urteilsverkündung ist mir vieles klar geworden. Es war eine Sache, Mullins nicht härter bestrafen zu können. Aber ich konnte mich nicht dazu bringen, mit den Eltern zu reden. Dieses Gefühl hatte ich zuvor noch nie, habe diesen Teil des Jobs noch nie ausgelassen. In dem Moment wusste ich, dass es vorbei war. Wie kann ich weiter böse Jungs bekämpfen, wenn ich nicht mal ihre Opfer ansehen kann? Deshalb habe ich mich aus dem Staub gemacht.“

„Ich werde mit Lehl sprechen“, murmelte Riley.

Sobald sie diese Worte ausgesprochen hatte, fragte sie sich, was sie wirklich damit meinte. Würde sie tatsächlich zum federführenden Special Agent Erik Lehl gehen und ihn darum bitten, Crivaros Kündigung zu ignorieren? Glaubte sie, damit Erfolg haben zu können?

„Ich denke, das solltest du tun“, meinte Crivaro. „Lehl will sogar selbst mir dir sprechen. Er hat mich gebeten, dich als erstes zu ihm zu schicken. Es klang so, als hätte er eventuell einen Fall für dich.“

Riley öffnete den Mund, brachte aber keine Worte heraus.

Wie konnte sie ihre Gefühle in Worte fassen?

Schließlich sagte sie stotternd: „Agent Crivaro, ich … ich denke nicht, dass ich bereit bin.“

„Du hast recht“, sagte Crivaro. „Du bist nicht bereit.“

Riley betrachtete ihren Partner überrascht.

„Hör zu, niemand ist bereit, wenn sie zum ersten Mal auf sich selbst gestellt sind. Aber du musst dich dazu bringen. Du bist die talentierteste Agentin, mit der ich jemals zusammengearbeitet habe. Deine Instinkte sind so gut wie meine und das heißt eine Menge. Niemand kann so gut in den Kopf eines Täters vordringen wie wir beide. Und du entwickelst das Können, um diese rohen Fähigkeiten zusammen zu fügen. Aber ich halte dich auf. Du verlässt dich zu sehr auf mich. Du musst lernen, dir selbst zu vertrauen. Ich hätte nie gedacht, das über einen Partner zu sagen, aber …“

Er kicherte leise.

„Du machst es dir mit mir zu bequem.“

Riley konnte nicht anders, als ebenfalls zu lachen.

„Sie machen Witze, oder?“, sagte sie.

„Ich weiß, es klingt verrückt, aber das ist die Wahrheit“, meinte Crivaro. „Ich weiß nicht, was du als nächstes brauchst, aber ich bin es nicht. Vielleicht musst du ein paar Fälle allein bestreiten. Gott weiß, dass ich das oft genug musste. Oder vielleicht brauchst du einen Partner, der absolut nicht umgänglich ist.“

Riley schüttelte den Kopf. „Das hatte ich doch schon mit Ihnen.“

„Vielleicht zu Beginn, aber dann nicht mehr. Du bist der einzige Partner, den ich je hatte, der mich ausstehen konnte. Ich bin ein launenhafter, alter Mistkerl – und du weißt es.“

Riley lächelte dünn.

Dem kann ich mich nicht widersetzen, dachte sie.

Dann schwiegen sie wieder.

Riley ertappte sich dabei, über die Fälle nachzudenken, an denen sie gemeinsam gearbeitet hatten – vor allem den in Arizona, als sie und Crivaro Undercover als Vater und Tochter ermittelt hatten. Es hatte sich überhaupt nicht wie eine Show angefühlt, zumindest nicht für Riley.

Und jetzt fragte sie sich – sollte sie ihm sagen, dass er ihr mehr ein Vater war, als ihr biologischer Vater es je auf die Reihe gekriegt hatte?

Nein, sonst fange ich an zu weinen, dachte sie. Und das würde ihn wirklich anpissen.

Stattdessen sagte sie: „Was werden Sie mit sich anstellen?“

Crivaro lachte wieder.

„Es heißt Rente, Riley. Was tut man als Rentner? Vielleicht fange ich an, Bridge zu spielen – wenn ich einen Partner finden kann, was vermutlich eher unwahrscheinlich ist. Oder vielleicht mache ich eine Kreuzfahrt durch die Karibik. Fange an Golf zu spielen. Trete einem Theaterverein bei. Oder einer Quilt-Gruppe.“

Riley lachte wieder, als sie sich vorstellte, wie Crivaro mit einem Haufen Frauen in seinem Alter Quilts nähte.

„Sie geben mir keine ernste Antwort“, sagte sie.

„Nein und vielleicht habe ich es satt, ernst sein zu müssen. Und vielleicht mag ich die Vorstellung, keine Ahnung zu haben, was ich mit dem Rest meines Lebens anstellen soll. Was auch immer es sein wird – es wird ein Abenteuer werden.“

Riley hörte einen Hauch von Unsicherheit, als er das Wort ‚Abenteuer‘ aussprach.

Er ist sich nicht sicher, dachte sie.

Er versucht, sich selbst davon zu überzeugen.

Aber stand es ihr zu, zu versuchen, seine Entscheidung zu kippen?

Crivaro sah auf die Uhr und zeigte dann auf das Gebäude.

„Du musst da rein“, meinte er. „Du willst Lehl nicht warten lassen.“

Dann legte er eine tröstende Hand auf Rileys Schulter.

„Ich melde mich, Kiddo“, sagte er. „Wahrscheinlich häufiger, als dir lieb ist.“

„Das bezweifle ich, Agent Crivaro“, sagte Riley.

Crivaro wedelte einen Finger durch die Luft.

„Hey, ich bin jetzt Rentner, schon vergessen? Kein ‚Agent Crivaro‘-Zeug mehr. Es ist Zeit, dass du anfängst, mich Jake zu nennen.“

Riley fühlte einen Knoten in ihrem Hals.

„Okay … Jake“, sagte sie fast flüsternd.

Als er seine Wagentür öffnete, wies er sie erneut an: „Und jetzt geh da rein, an die Arbeit.“

Als Riley begann, davonzulaufen, drehte sie sich erneut um, als sie seine Stimme hörte.

„Hey, das Versprechen, das du gestern im Gerichtssaal gemacht hast … das war genau das Richtige. Und ich wünschte, ich hätte es gesagt. Ich weiß, dass du dir deshalb Sorgen machst, aber du wirst dieses Versprechen einhalten. Das weiß ich. Und – wenn ich lange genug lebe – werde ich alles tun, um dir dabei zu helfen.“

Crivaro startete seinen Wagen und verließ den Parkplatz.

Riley sah ihm zu, wie er davonfuhr, noch immer entschlossen, nicht zu weinen.

Dann ging sie auf das Gebäude der Verhaltensanalyseeinheit zu, um mit Lehl zu sprechen.

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