Ein Bier, ein Wein, ein Mord

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Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Ein Bier, ein Wein, ein Mord
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Susanne Mischke

und Bodo Dringenberg

(Hg.)

Ein Bier, ein Wein,

ein Mord

7 hannoversche Kneipenkrimis


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Umschlaggestaltung: Stefan Hilden, www.hildendesign.de

Bildmotiv: © HildenDesign

Satz: thielenverlagsbuero, Hannover

ISBN 9783866741980

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

1. Auflage 2013 E-Book Zeilenwert GmbH

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹//dnb.d-nb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort der Herausgeber Ein Bier, ein Wein, ein Mord!

Christian Oehlschläger Gaststätte: Kalabusch (Südstadt) Tatort Kalabusch

Susanne Mischke Gaststätte: Oscar’s (Bar am Opernplatz) Die Abrechnung oder Vier Barleichen und ein Stromausfall

Egbert Osterwald Gaststätte: Sale & Pepe (Alt-Ricklingen) Ein Mord für 20 Euro

Cornelia Kuhnert Gaststätte: Teestübchen (Ballhofplatz) Irrtum und Wahrheit

Bodo Dringenberg Gaststätte: Kaiser (Nordstadt) Kaisers Messer

Karola Hagemann Gaststätte: Fiasko (Linden-Nord) Fiasko

Richard Birkefeld Gaststätte: Plümecke (Oststadt) »… du kommst, siehst und gehst vorüber.«

Die Autoren

Weitere Kriminalromane

Ein Bier, ein Wein, ein Mord!

»Lache, saufe, liebe, trabe,

Notabene bis zum Grabe«

Carl Michael Bellmann

Auf hannoversche Lokale haben sich literarisch bisher nur wenige Schriftsteller konzentriert. So etwa der Arzt und Dichter Gottfried Benn, der 1937 sein Prosastück »Weinhaus Wolf« (einstmals in der Innenstadt) mit einer fast kriminellen Bemerkung über Hannover einleitete: »Schlechtes Klima, keine Landschaft, flach alles, riesig öde.« Und wenn er seinen Text mehrdeutig schließt: »Schweige und gehe dahin«, so ist das zwar schwerblütig ins Jenseits gerichtet, aber noch lange kein Krimi. Adam Seide schrieb 1979 in seinem »ABC der Lähmungen« subjektiv-präzise Porträts der Stammgäste. Nur, »[d]aß sich hier etwas ereigne, kann man nun wirklich nicht sagen«, heißt es nüchtern in einem Zwischentext Seides. Weiter kann man kaum von einem Krimi entfernt sein.

»Schnaps, das war sein letztes Wort« ginge übrigens nicht nur wegen des Titels am Thema von »Ein Bier, ein Wein, ein Mord« vorbei – die letalen Folgen des Alkohols interessieren hier nicht. Außerdem kann auch der schwer angesagte Latte Macchiato Gäste ins Jenseits befördern, wie in einer der Storys bewiesen wird. Und entgegen sehr dröger Meinungen ist die Kneipe kein Ort zur Förderung der Trunksucht. Das berüchtigte »Vorglühen« und »Komasaufen« junger Menschen wird gewöhnlich außerhalb von Gaststätten zelebriert, und Einsamkeit, kneipenarme Gebiete und mittelständische Wohnsiedlungen sind bessere Nährböden für exzessiven, verzweifelten und ruinösen Alkoholmissbrauch.

Kneipen, oder feiner: Gaststätten, sind zunächst einmal sehr lebendige Institutionen, in denen öffentlich getrunken und kommuniziert wird. Früher brachte man mit dem Lied »Der schönste Platz ist immer an der Theke« ein fast rein männliches Biotop auf den Punkt. In den von uns ausgewählten Lokalen wird dagegen geschlechtlich wie sozial gemischt getrunken, geplaudert und mitunter kriminell gehandelt. Bars, Kneipen, Gasthäuser und Restaurants waren ja immer schon Orte krimineller Vorgänge, sowohl in der Realität als auch in der Belletristik. Bereits der mittelalterliche Ratskeller – die Stadt Hannover hatte das Privileg des Weinhandels inne – war Schauplatz alkoholbefeuerter Aufzeichnungen, Gespräche und Schandtaten gewesen.

Sieben ausgewählte Lokale Hannovers als Schauplatz oder Hintergrund verbrecherischer Handlungen zu versammeln, das allerdings ist ein Novum. Da unser Krimi-Stammtisch sieben Schreibende stark ist, lag die Anzahl der zu kriminalisierenden Lokale so nahe wie uns die Bierdeckel. Den Verfassern von »Ein Bier, ein Wein, ein Mord« kamen neben wiederholten genussvollen Recherchen besonders zwei Umstände entgegen: Zum einen bewirkt öffentlicher Alkoholgenuss, dass man sich sogar in Gesellschaft von Schriftstellern wohl fühlen kann. Zum anderen erleichtert Trinken in Kneipen den Kontakt mit Leuten, die noch nie ein Buch gelesen haben.

So verschieden in »Ein Bier, ein Wein, ein Mord« die Tatorte sind, so unterschiedlich gestalten die Autorinnen und Autoren auch ihre »Fälle«:

Egbert Osterwald lässt einen vom Leben gebeutelten Ricklinger monologisieren, dem ein Lokal samt Pizza gewissermaßen das Salz & Pfeffer seines ­kleinen Glücks ist. Rache dagegen schmeckt ja eher süß …

Im Teestübchen in Hannovers Altstadt kann man durchaus »einen im Tee haben«, werden doch dort außer heißen Blätterwässern auch gehaltvolle Kaltgetränke goutiert. Darüber hinaus fungiert das Teestübchen für Cornelia Kuhnert als Knotenpunkt verschiedener Erzählungen von einem realen Fall, den sie aus mehreren Sichtweisen entfaltet.

In der Südstadtkneipe Kalabusch lässt Christian Oehlschläger zwei Handlungsstränge aufeinanderprallen und dadurch einen trügerischen Glücksmoment aufleuchten. Nebenbei beweist der Autor, dass es in Hannover auch ohne notorische Blondine einen wirklich spannenden Tatort geben kann.

Lindens Fiasko ist ein geschichts- und geschichtenträchtiger Ort seit der Zeit, als dort ein freundliches Kneipenkollektiv ein alternatives und linksradikales Publikum bewirtete. Besitzer und Publikum sind heute andere, geblieben ist die Freundlichkeit, neu hinzu gekommen die schmackhafte türkische Küche. Wie Kriminalität aus finanzieller wie psychischer Not geboren wird, entwickelt Karola Hagemann aus einer atmosphärisch dichten Täterperspektive.

Eingefleischte Gäste von Plümecke versus Kaiser streiten seit Jahren darum, in welchem der beiden Lokale die beste Currywurst zubereitet wird. Mit welchen tödlichen Schicksalen diese beiden Gastwirtschaften in Berührung gekommen sind, entwickeln zwei unserer Autoren. Für das Lokal in der Oststadt-List eröffnet Richard Birkefeld die geschichtliche Dimension des Stammpublikums im Plümecke, das auch von politischen Brüchen und anderen schwerwiegenden Ereignissen unbeirrt bleibt.

Eine nur scheinbar klar motivierte Tat im akademischen Plagiatoren-Milieu, in und bei der Nordstädter Gaststätte Kaiser, lässt Bodo Dringenberg in einer Tresensituation gesprächsweise zu Tage kommen.

So etwas Frugales wie die oben erwähnte Currywurst würde die Bar Oscar’s natürlich nicht anbieten, zumal die Zeitschrift Playboy sie auf Platz zwei eines bundesdeutschen Bar-Tests gesetzt hat. Unpassendes kann an einem solchen Ort die entspannte Stimmung ruinieren. Susanne Mischkes Protagonist nutzt günstige Umstände, sich solcher Störungen im Oscar’s gründlich zu entledigen.

Apropos – falls Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in einer dieser sieben Kneipen Gast oder Wirt sind und weitere Hinter- und Abgründe erfahren möchten, so laden Sie uns einfach auf ein Bier oder einen Wein ein. Das Weitere wird sich finden …

Die Herausgeber

Christian Oehlschläger

Gaststätte: Kalabusch (Südstadt)

Tatort Kalabusch

Nur mit Mühe drang der Schein der Straßenlaternen bis hinab auf den Asphalt. Dichter, eklig nasskalter Novembernebel hatte sich zwischen den Häuserzeilen und Alleen der Südstadt breit gemacht. Den ganzen Tag über hatte es wie aus Kübeln gegossen. Die Sallstraße lag verlassen. Fahrbahn, Bürgersteig und parkende Autos waren tropfnass, die Linden, Kastanien und Gleditschien kahl, ihre Blätter längst zu Brei gefahren.

Es war Sonntagabend. Ideales Tatort-Wetter.

Die Kirchturmuhr der Nazarethkirche schlug achtmal. Hannes musste sich sputen, wenn er noch einen guten Platz im Kalabusch ergattern wollte. Die letzten beiden Male war er auch schon zu spät gekommen und hatte mit einem Platz auf der Treppe vorlieb nehmen müssen.

Hannes begann zu laufen. Nicht nur, weil er spät dran war, sondern auch, weil er fror. Er trug lediglich eine Jeansjacke. Als ewiger Student konnte er sich eine warme Winterjacke nicht leisten; sie stand jedoch ganz oben auf seiner Wunschliste.

Mit dem Beginn des Wetterberichts der Tagesschau betrat er die Gaststube. Die Vorhersage für die nächsten Tage verhieß nichts Gutes.

 

Das Kalabusch war gut besucht. Wie immer, wenn Tatort im Fernsehen lief. Das gemeinsame sonntägliche Krimigucken und das Gewinnspiel, bei dem es galt, den Mörder zu raten, zogen viele Amateurermittler an.

Hannes hatte Glück. Er fand einen freien Stuhl mit guter Sicht auf die große Leinwand vor dem Fenster. Direkt neben dem Klavier mit dem Hannover 96 Banner darüber. Die anderen waren schon da: Hermann, Jörg, Dagmar, Olaf und wie sie alle hießen. Er kannte sie nicht persönlich, sondern nur aus dem Internet. Die Gewinner des Ratespiels wurden auf der Homepage des Kalabuschs veröffentlicht. Nur die Vornamen, versteht sich. Aus Datenschutzgründen.

»Wie immer?«, übertönte die Bedienung die Erkennungsmelodie des Krimiklassikers.

Hannes nickte: »Hefeweizen, ja.«

Ein Tatort aus Münster war mal wieder an der Reihe. Mit Axel Prahl und Jan Josef Liefers. Es war Hannes’ Lieblings-Tatort. Nicht nur ihm gefielen die verbalen Scharmützel zwischen dem Forensik-Professor Karl-Friedrich Boerne und seiner kleinwüchsigen Assistentin Silke Haller, alias Alberich. Wenn sich die beiden anpflaumten, wurde im Kalabusch gegrölt, geklatscht und getrommelt, dass sich die Tische bogen.

Beim Auffinden der Ermordeten – es handelte sich um eine übel zugerichtete Leiche einer Prostituierten in einem Sexmobil am Waldesrand – nahm Hannes einen kräftigen Schluck aus seinem Bierglas.

Das Knattern des Geländemotorrads, das in rasanter Fahrt am Kalabusch in die Stolzestraße einbog, hörten weder er noch die anderen Kneipenbesucher.

*

Sie warteten im Schatten einer herbstkahlen Kastanie. Bei laufendem Motor und mit heruntergeklappten Visieren. Das Nummernschild des Motorrads war derart verschmutzt, dass es nicht zu entziffern war. Auch der Dreck an den Stollenreifen, den Schutzblechen und dem Motorblock deutete darauf hin, dass die Maschine kürzlich im Gelände unterwegs gewesen war. Die Person am Lenker hatte mindestens eine Größe von 1,90 Metern und breite Schultern, der Sozius dagegen war deutlich kleiner und von schlanker, graziler Statur.

Die Aral-Tankstelle Ecke Marienstraße/Am Südbahnhof hatte einen einzigen Kunden. Einen Mercedes SL-Fahrer, der trotz der lausigen Kälte nur mit einem T-Shirt bekleidet war. Der Mann ließ sich Zeit beim Tanken, überprüfte noch den Luftdruck seiner Reifen, kontrollierte den Ölstand und das Wasser für die Scheibenwaschanlage. Nachdem er endlich fertig und der Wagen Richtung Pferdeturmkreuzung davongebraust war, setzte sich das Motorrad langsam in Bewegung.

Die Enduro-Motocross-Maschine stoppte direkt vor der Tankstellentür. Ohne den Motor auszuschalten und ohne den Seitenständer herunterzuklappen, ließ der Fahrer seinen Sozius absteigen. Nachdem dieser den Lenker und somit die Balance für das Zweirad übernommen hatte, stieg auch der Fahrer ab.

Er schaute noch einmal in die Runde. Sie waren die einzigen Kunden, der Verkehr auf der Marienstraße war spärlich. Sie nickten sich zu.

Den Sicherheitshinweis an der Tür – ›Bitte nehmen Sie den Helm ab, wenn Sie den Shop betreten‹ – ignorierend, marschierte der Fahrer zügig in den Verkaufsraum. Nicht nur den Helm behielt er auf dem Kopf, sondern auch das Visier heruntergeklappt. Im Gehen zückte er eine Pistole und trat an die Kasse.

»Geld her!«, rief eine männliche Stimme, die durch den Helm dumpf klang. »Aber dalli, sonst …« Er fuchtelte mit der Pistole und warf der Kassiererin einen Rucksack zu. »Da rein!«, befahl er. »Schnell, schnell!«

»Okay, okay«, erwiderte die Tankstellenangestellte, eine Mittvierzigerin mit gepiercter Unterlippe. Instinktiv hatte sie beide Arme gehoben, die sie langsam wieder senkte. »Immer mit der Ruhe.«

Es war ihr dritter Überfall in zwei Jahren, sie wusste, was zu tun war. Während sie begann, die Geldscheine aus der Kasse in den Rucksack zu stopfen, betätigte sie nebenbei heimlich den Notrufknopf.

»Nun beeilen Sie sich schon«, rief der Gangster. »Hopp, hopp!« Nervös tippelte er von einem Bein aufs andere. Die Kassiererin ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Stoisch fuhr sie fort, die Einnahmen der letzten zwei Stunden im Rucksack unterzubringen.

*

Im Kalabusch herrschte eine gewisse Spannung. Das lag nicht allein am Münsteraner Tatort, der mal wieder außergewöhnlich kurzweilig und witzig war. Es galt, den Täter der Prostituierten zu tippen. Das musste bis 21:00 Uhr erledigt sein. Nur so konnte man am Gewinnspiel teilnehmen und seine Chance auf einen 10 %igen Rabatt des abendlichen Verzehrs wahren. Außerdem konnte man Punkte für die Saison-Rangliste ergattern, die regelmäßig im Internet veröffentlicht wurde und einen zusätzlichen Preis versprach.

Hannes hatte schon öfter richtig getippt und war in der letzten Saison auf Platz drei der Gesamtwertung gelandet. In diesem Jahr lag er bereits auf Platz zwei. Wenn er so weiter machte, war er ein heißer Anwärter auf das Siegerpodest und das als Preis ausgedungene Krimi-Buch-Paket.

Die Zettel für das Mörderraten-Gewinnspiel waren von der Bedienung längst verteilt worden. Doch Hannes hatte bisher lediglich seinen Namen und die Mail-Adresse notiert. Es war 20:58 Uhr. Zwei Minuten Zeit hatte er noch. Seine Taktik war es, stets bis wenige Sekunden vor Ablauf der Frist zu warten, um dann erst den vermeintlichen Täter zu notieren. Oft hatte sich genau in diesen wenigen Sekunden ein neuer Wissensstand ergeben, der ihm das Raten leichter machte.

Auf der Leinwand schlich gerade der Zuhälter der ermordeten Prostituierten durch einen mondbeschienenen Eichenwald. Er wurde von einem Mann mit Fernglas beobachtet, der am Fuße einer Hochsitzleiter stand. Der heimliche Beobachter trug einen Forsthut, eine langen Lodenmantel und eine Büchse über der Schulter. Zu seinen Füßen kauerte ein kurzläufiger Schweißhund.

Hannes entschied sich für den Jagdaufseher.

*

Ein Streifenwagen mit eingeschaltetem Martinshorn und Blaulicht näherte sich auf der Marienstraße aus Richtung Pferdeturm.

»Die Bullen!«, kam es unter dem Helm hervor. Eine tiefe, jedoch unverkennbar weibliche Stimme versuchte das Tuckern des im Leerlauf laufenden Motorrads zu übertönen. Im Inneren der Tankstelle tat sich nichts. Hektisch betätigte die Sozia die Hupe am Lenker.

Ihr Kumpan fuhr herum, er hatte verstanden. Mit einem raschen Griff über den Tresen riss er der Kassiererin den Rucksack aus der Hand und spurtete nach draußen. Dort übernahm sie den Rucksack und überließ ihm im Gegenzug den Lenker. In Windeseile – jeder Handgriff wirkte wie einstudiert – bestiegen sie nacheinander die Maschine und rasten los. Zurück in Richtung Stolzestraße

Ohne auf den Gegenverkehr zu achten, nahm in diesem Moment der Streifenwagen mit quietschenden Reifen die Tankstelleneinfahrt. Das davonbrausende Motorrad zunächst ignorierend, stoppten die Polizisten unmittelbar vor der Schiebetür, die sich gerade öffnete. Die Kassiererin trat heraus und fuchtelte wild mit den Armen.

Der Streifenwagen nahm erst die Verfolgung auf, nachdem sich die beiden Polizisten überzeugt hatten, dass die Kassiererin keiner Ersten Hilfe bedurfte und wohlauf war. Dadurch gewannen die Flüchtenden wertvolle Sekunden. Ihr Vorsprung war mehr als komfortabel.

Nichtsdestotrotz rasten sie mit höllischer Geschwindigkeit durch die enge Häuserschlucht der Stolze­straße in Richtung Südstadt. Die Frau auf dem Rücksitz schaute sich mehrmals um, konnte jedoch keinen Streifenwagen entdecken. Beruhigend klopfte sie ihrem Vordermann auf die Schulter.

Kurz bevor sie am Kalabusch in die Sallstraße einbogen, passierte es. Eine Katze huschte von links nach rechts über die Fahrbahn. Waren es nun der Schreck, die nasse Fahrbahn oder rutschiges Laub – vielleicht auch alles zusammen – jedenfalls kamen sie durch das plötzliche Bremsmanöver heftig ins Rutschen. Der Fahrer verlor die Kontrolle über sein Motorrad. Trotz deutlich reduzierter Geschwindigkeit kippte die Maschine zur Seite und schlidderte unter ein parkendes Auto.

Zum Glück für das Räuberpaar verlief der Sturz glimpflich. Sie waren sofort wieder auf den Beinen und kümmerten sich um das Motorrad. Die Maschine lief zwar noch, hatte sich jedoch unter der Auspuffanlage des parkenden Autos verkeilt. Trotz größter Anstrengung bekamen sie das Motorrad nicht hervorgezogen.

»Verdammte Scheißkarre!«, fluchte der Mann und trat nach dem Hinterrad.

»Lass es!« Die Frau keuchte. »Wir müssen zu Fuß weiter.«

Im Hintergrund war ein Martinshorn zu hören, dessen Lautstärke rasch zunahm.

Sie ließen vom Motorrad ab und hetzten über die Straße. Geduckt, hinter den parkenden Autos Schutz suchend, liefen sie weiter. In dem Moment, als sie den Nebeneingang vom Kalabusch passierten – den durch den Garten –, kam der Streifenwagen um die Ecke gebogen.

*

Beim Tatort hatte es soeben eine zweite Leiche gegeben. Der Zuhälter war von einer Motorsäge zerstückelt worden. Einige Zuschauer stöhnten auf. Hannes vermutete, dass es jene waren, die auf den Getöteten als Mörder gesetzt hatten. Die waren jetzt außen vor. Er lehnte sich zufrieden zurück und bestellte ein weiteres Weizen. Er war noch im Rennen.

Der Krach auf der Straße direkt vor dem Kalabusch kümmerte niemanden. Als Innenstadtbewohner war man den Lärm von Martinshorn und Feuerwehrsirenen gewohnt.

Dem Pärchen, das gerade die Wirtsstube durch den Seiteneingang betrat, schenkte ebenfalls kaum jemand Beachtung. Hannes war einer der wenigen, der sie bemerkte. Sie waren jung, vielleicht zwanzig, zweiundzwanzig, trugen schwarze Motorradkleidung und ihre Integralhelme unterm Arm. Die Frau hielt zudem einen Rucksack mit der rechten Hand fest umklammert. An einem lausig kalten Novemberabend sind Biker schon ungewöhnlich, befand Hannes, der ein Faible für Motorräder hatte.

Der Mann setzte sich neben ihn auf einen freien Stuhl, während die Frau Richtung Toilette verschwand. Den Helm schob sein neuer Nachbar unter den Stuhl; danach zog er seine Lederjacke aus. Immer wieder wandte er den Kopf zur Tür. So, als ob er noch jemanden erwartete.

Während er weiter dem Tatort zuschaute, registrierte Hannes aus den Augenwinkeln, dass an der Stirn des Motorradfahrers schweißnasse Haarsträhnen klebten. Auffallend war auch, dass die Lederhose des Mannes am rechten Oberschenkel und an der Wade frische Dreckspuren aufwies.

Professor Karl-Friedrich Boerne machte seiner kleinwüchsigen, aber nicht auf den Mund gefallenen Assistentin Alberich gerade wieder einmal grundlos Vorhaltungen – das Publikum im Kalabusch lauschte andächtig –, als zwei Polizisten in Uniform die Gaststätte betraten. Der eine hielt eine Stabtaschenlampe in der Hand, der andere ein knatterndes Funkgerät.

»Ihr seid im falschen Film«, rief ihnen jemand zu. Gelächter war die Folge, einer buhte, »Pssst!«, raunte ein anderer. Der Wirt trat zu den beiden Ordnungshütern und erkundigte sich nach dem Grund ihres Auftauchens.

Derweil war Hannes aufgefallen, dass sich alle Welt nach den Polizisten umgedreht hatte – bis auf eine Ausnahme: sein neuer Nachbar. Dieser starrte wie hypnotisiert auf die TV-Leinwand vor sich und rührte sich nicht.

»Hey, Sie da!«, rief da einer der Polizisten.

Im gleichen Moment bekam Hannes einen Schlag gegen die Schulter und flog vom Stuhl. Der Motorradfahrer war unvermittelt aufgesprungen, hatte ihn und einen weiteren Gast gerammt und war auch schon zur Tür hinaus.

Die beiden Polizisten stürmten hinterher, die Gäste im Kalabusch johlten.

»Na, alles okay?«, fragte der Wirt, nachdem Hannes sich wieder aufgerappelt und auf seinem Stuhl niedergelassen hatte.

»Ja, ja!« Hannes winkte ab. »Ist nichts weiter. – Um was ging’s denn?«

»Tankstellenüberfall«, flüsterte der Wirt. »In der Marienstraße …«

»Pssst!«, zischte jemand. Der Tatort ging in seine finale Phase.

*

Da entdeckte Hannes die Frau. Die Motorradjacke hatte sie abgelegt, auch den Rucksack trug sie nicht mehr bei sich. Ihre zuvor mit einem Schlauchtuch gebändigten rotblonden Haare trug sie nun offen. Sie hatte herrliche Locken. Mit sorgenvoller Miene schaute sie sich in der Gaststätte um.

Hannes’ Herzschlag beschleunigte sich. Nicht wegen der ausnehmend hübschen und feinen Gesichtszüge der jungen Frau. Ihn interessierte vielmehr, wo der Rucksack geblieben war. Und was darin wohl stecken mochte.

Hauptkommissar Frank Thiel begann gerade mit seinem Schlussplädoyer, als sich Hannes erhob, dabei den Unmut seiner Hinterleute hervorrief und – wie von einer fremden Macht getrieben – die Treppe hinauf in Richtung Toiletten verschwand.

 

Wegen des Finales des Tatorts waren die Klos verwaist. Ohne lange zu fackeln, betrat Hannes die Damentoilette und begann mit der Suche. Das Versteck für Motorradjacke und Rucksack hatte er schnell ausgemacht. Unter dem Waschtisch befand sich ein Hohlraum, der schwer einzusehen war. Hier lag das Gesuchte. Sekunden später wühlten seine Hände in Geldscheinen. Ein irrsinniges Glücksgefühl machte sich in ihm breit.

Plötzlich stand die Frau mit der roten Lockenmähne hinter ihm. Er hatte die Tür gar nicht gehört.

»Gib her!«, sagte sie mit fester Stimme. Ihre Augen funkelten böse. »Das gehört mir.«

Hannes lachte auf. Sie war gut einen Kopf kleiner als er und recht zierlich. »Jetzt nicht mehr«, zischte er. »Sei froh, wenn ich dich nicht verpfeife.«

Kurzerhand schob sie ihr Sweatshirt hoch und zog eine Pistole aus dem Hosenbund. Die Mündung hielt sie Hannes vor die Brust.

»Du mieser Scheißer!«, fauchte sie. »Gib her! Sofort.«

»Okay … okay«, stammelte er. »Machen … machen wir doch halbe/halbe.«

»Her damit!« Sie machte einen Schritt nach vorn und entriss ihm den Rucksack. Automatisch nahm er die Hände hoch.

»Is’ ja schon gut …«, jammerte er.

»Die Hose runter!« Sie fuchtelte bedrohlich mit der Pistole.

»Die Hose?«

»Ja, die Hose. Los schnell!«

Hannes öffnete Gürtelschnalle und Hosenbund seiner Jeans. »Wozu das Ganze?«

»Runter damit!« Sichtlich nervös drehte sie sich zur Tür um. »Nun mach schon.«

Widerwillig schob Hannes seine Hose bis auf die Knöchel. »Ach so, verstehe«, ließ er verlauten. »Du hast Schiss, dass ich dir folge.«

»Schnauze! Die Unterhose auch!«

»Was …? Nein …!«

»Doch!« Sie senkte die Pistole in Richtung seiner Genitalien.

Voller Panik riss Hannes seine Boxershorts in die Kniekehle. Er schämte sich mächtig und wurde sogar ein wenig rot. Im Gesicht, versteht sich.

»Das war noch nicht alles.« Mit dem Lauf der Pistole deutete sie auf das Toilettenpapier neben ihm an der Wand. »Und jetzt stopf dir Papier in den Mund. Los, schnell!«

»Och, nee …!«

Die Mündung der Pistole deutete auf seine schweißnasse Stirn. »Keine Widerrede!«

Sein Widerstand war gebrochen. Gehorsam riss er ein paar Papierblätter von der Rolle und stopfte sie eins nach dem anderen in seinen Mund.

»Mehr!«, forderte sie. »Viel mehr. Und dreh dich um!«

Hannes gehorchte erneut. Nachdem er sich der Fliesenwand zugewandt und noch weitere Blatt Papier zwischen die Lippen geschoben hatte, spürte er plötzlich einen Luftzug im Nacken. Aus der Gaststube schwappte Lärm in die Damentoilette, Lärm und Musik, die das Ende des Tatorts verkündeten.

Vorsichtig wandte er den Kopf. Die Frau war verschwunden. Dafür stand der Wirt in der Tür. Dessen Gesichtsausdruck sprach Bände.

*

»Mensch Hannes!«, rief der Wirt. »Was ist denn hier los?«

Hannes zog hastig seine Boxershorts hoch und fummelte sich das Toilettenpapier aus dem Mund. Dabei fing er an zu husten.

»Ich … ich wollte …«, prustete er, während er die Reste vom Papier ausspuckte. »Da … da war …« Es lag nicht allein an den klebrigen Zelluloseresten in seinem Mund, dass er keinen vernünftigen Satz herausbekam. Er wusste einfach nicht, was er sagen sollte.

»Komm endlich aus dem Damenklo«, schimpfte der Wirt. Im Laufe der Jahre hatte er schon so manche Kuriosität im Kalabusch erlebt, aber so etwas wie den blankgezogenen Hannes im Damenklo war ihm noch nie untergekommen. »Mensch, wenn dich hier einer sieht.«

»Ich erklär’s dir später«, nuschelte Hannes in seinen Schnauzbart, während er seine Jeans zuknöpfte. »Du wirst es nicht glauben …«

Der Wirt packte ihn kurzerhand am Arm. »Los komm jetzt! Du hast richtig getippt. Als Einziger.«

»Getippt …?«

»Ja, beim Tatort, du Depp.« Der Wirt schob Hannes in die Gaststube. »Der Mörder war der Jagdaufseher.«

»Na, wenigstens etwas.«

In der Gaststube empfing ihn Applaus; hochgehaltene Biergläser reckten sich ihm entgegen. Hannes blinzelte irritiert in die Runde der Gratulanten. Eine junge hübsche Frau mit rotblonden Locken und einem Rucksack war nicht unter ihnen.

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