Von Varna nach Whitby
Begonnen den 18. Juli. Die seltsamen Dinge, sie sich ereigneten, zwingen mich, von jetzt ab bis zur Landung genaue Notizen zu machen.
Am 6. Juli beendigten wir die Einnahme der Ladung, Silbersand und Kisten mit Erde. Mittags setzten wir Segel. Ostwind, frisch. Die Besatzung bestand aus fünf Mann, zwei Maaten, einem Koch und mir selbst (Kapitän).
Am 11. Juli in der Morgendämmerung Einfahrt in den Bosporus. Revision durch türkische Zollbeamte. Bakschisch. Alles in Ordnung. 4 Uhr nachmittags Weiterfahrt.
12. Juli. Dardanellen. Noch mehr Zollbeamte und das Flaggschiff der Bewachungsflotte. Wieder Bakschisch. Revision von oben bis unten, aber rasch erledigt. Wir wollen bald fort. Bei Dunkelheit in den Archipel eingelaufen.
Am 13. Juli. Kap Matapan1 passiert. Mannschaft über irgendetwas ungehalten; scheinen erbittert, wollen aber nicht sprechen.
Am 14. Juli. Mannschaft scheint ängstlich. Alles kräftige Kerle, die schon früher mit mir gefahren waren. Der Maat konnte nicht herausbringen, was los war; sie sagten, es sei etwas, und bekreuzigten sich. Der Maat verlor mit einem von ihnen die Geduld und schlug ihn. Erwartete heftigen Tumult, aber alles war ruhig.
Am 15. Juli. Früh meldete der Maat, dass einer der Leute, Namens Petrowski, fehle. Konnte es mir nicht erklären. Nahm Backbordwache acht Glas letzte Nacht; wurde durch Abramoff abgelöst, ging aber nicht zu Bett. Mannschaft noch niedergeschlagener. Alle sagten, sie erwarteten etwas Besonderes, wollten aber nicht mehr sagen, als dass etwas an Bord sei. Der Maat wurde sehr heftig mit ihnen, befürchtete eine Meuterei.
Am 17. Juli. Gestern kam einer der Leute, Olgarem, zu mir in die Kajüte und vertraute mir völlig verstört an, dass er meine, es befinde sich ein fremder Mann an Bord. Er erzählte mir, dass er als Wachhabender sich hinter dem Deckhäuschen vor einer Regenböe geschützt, aufgestellt und einen großen hageren Mann gesehen habe, der keinem von der ganzen Besatzung glich. Er kam die Mannschaftsstiege herauf, ging auf Deck gegen den Bug zu und verschwand. Er folgte ihm vorsichtig, doch als er an den Bug kam, fand er niemand und die Luken waren alle geschlossen. Er war vor abergläubischer Furcht fast wahnsinnig; ich bin in Sorge, es könnte eine Panik entstehen. Um dies zu verhindern, werde ich heute das ganze Schiff von vorne bis hinten sorgfältig durchsuchen lassen.
Später am Tage nahm ich mir sämtliche Leute zusammen und sagte ihnen, dass ich, weil sie glaubten, es sei etwas Fremdes an Bord, das ganze Schiff bis ins Kleinste Winkelchen durchsuchen lassen wolle. Der erste Maat war ärgerlich und sagte, das wäre Unsinn; solch dummen Ideen nachzugeben, heiße die Mannschaft demoralisieren; er meinte, er wolle sich verpflichten, mit einem Hebebaum ihnen ihre Angst auszutreiben. Ich beauftragte ihn mit der Führung des Ruders, während die Übrigen, weit vorgebeugt, mit Lampen in den Händen zu suchen begannen. Kein Winkel blieb undurchforscht. Es waren nur die großen Holzkisten, nirgends aber ein versteckter Winkel, wo sich ein Mensch hätte verborgen halten können. Die Leute atmeten ordentlich auf, als die Suche vorüber war, und gingen mit neuem Mut an ihre Arbeit. Der erste Maat grollte, sagte aber nichts.
22. Juli. – Schlechtes Wetter die letzten drei Tage und alle Leute fleißig in den Segeln –, keine Zeit, um sich der Angst hinzugeben. Die Leute scheinen ihre Furcht vergessen zu haben. Der Maat ist wieder beruhigt und alles im besten Geleise. Ich lobte die Mannschaft für ihr gutes Verhalten bei dem schlechten Wetter. Passierten Gibraltar und dann durch die Straße hinaus in die offene See. Alles in Ordnung.
24. Juli. – Es liegt ein Fluch auf dem Schiff. Schon ein Mann weniger, nun Einfahrt in den Golf von Biskaya bei furchtbarem Unwetter, und schließlich heute Nacht wieder ein Mann verloren – verschwunden. Wie der erste, kam er von Wache ab und ward nicht mehr gesehen. Die Leute, in voller Furcht und Panik, sandten eine Bittschrift, zu zweien die Wachen beziehen zu dürfen, da sie allein sich fürchteten. Der Maat wütend. Ich befürchte, es gibt irgend einen Skandal, denn entweder er oder die Mannschaft verüben eine Gewalttat.
28. Juli. – Vier Tage in der Hölle; herumgeworfen in einer Art Malstrom2 und der Wind ein Sturm. Kein Schlaf für uns. Die Leute alle erschöpft, weiß kaum, wie ich Wachen noch geben soll, da keiner bereit ist, eine solche zu beziehen. Der zweite Maat erbot sich freiwillig, zu steuern und zu wachen, um die Leute ein paar Stunden Ruhe genießen zu lassen. Der Wind lässt nach; die See ist zwar noch aufgeregt, aber man fühlt, dass sie stiller wird; das Schiff läuft ruhiger.
29. Juli. – Wieder eine Tragödie. Ich hatte die Nacht über Einzelwachen aufgestellt, da die Mannschaft zu müde war, sie zu verdoppeln. Als die Morgenwache an Deck kam, fand sie niemand außer dem Steuermann. Sie stieß einen Schrei aus und alles rannte an Bord. Alles durchsucht, nichts gefunden. Sind nun ohne zweiten Maat, und die Mannschaft in voller Panik. Der Maat und ich kamen überein, von nun an bewaffnet zu gehen und auf alle Anzeichen zu achten.
30. Juli. – Letzte Nacht. Wir freuen uns, in der Nähe Englands zu sein. Schönes Wetter; alle Segel gesetzt. Zog mich völlig erschöpft zurück; fiel in tiefen Schlaf. Wurde aufgeweckt durch den Maaten, der mir meldete, dass sowohl Wach- wie Steuermann fehlten. Nur ich, der Maat und zwei Mann sind noch zur Bedienung des Schiffes übrig.
1. August. – Zwei Tage Nebel, keine Segel gesichtet. Hatte gehofft, im englischen Kanal ein Notsignal abgeben oder irgendwo anlaufen zu können. Kann die Segel nicht reffen, muss also vor dem Wind laufen. Ich hätte ja nicht die Leute, um sie wieder setzen zu können. Ich habe das Gefühl, als trieben wir einem grässlichen Unglück entgegen. Der Maat ist nun mehr entmutigt als die anderen. Die Leute sind über die Furcht hinaus; arbeiten wacker und geduldig und sind auf das Schlimmste gefasst. Sie sind Russen, er Rumäne.
2. August, Mitternacht. – Hatte einige Minuten geschlafen; erwachte durch einen Schrei direkt vor meiner Türe. Ich konnte vor Nebel nichts sehen. Rannte an Deck und stieß dort mit dem Maat zusammen. Er sagte mir, dass er auf den Schrei sofort herbeigelaufen sei, dass er aber keine Spur von dem Wachhabenden gefunden habe. Wieder einer dahin! Gott helfe uns! Der Maat behauptete, wir hätten die Enge von Dover schon passiert; er habe durch eine Lücke im Nebel das North Foreland erkannt, als eben der Schrei des Mannes ertönte. Wenn es wirklich so ist, befinden wir uns in der Nordsee; nur Gott kann uns in dem Nebel geleiten, der mit uns zu gehen scheint; aber Gott hat uns verlassen.
3. August. – Mitternachts ging ich, um den Mann am Steuer abzulösen, als ich aber dorthin kam, fand ich niemand vor. Der Wind war gleichmäßiger, und da wir mit ihm segelten, ging das Schiff sehr ruhig. Ich durfte das Steuer nicht unbedient lassen und rief deshalb nach dem Maat. Nach einigen Augenblicken kam er in seinen Flanellkleidern an Bord gerannt. Er sah wild und verstört aus, und ich fürchte, dass sein Verstand Schaden gelitten hat. Er trat dicht an mich heran und wisperte mir voll Entsetzen ins Ohr, als habe er Angst, die Luft könne es vernehmen: »Es ist hier; nun weiß ich es. Auf Wache letzte Nacht sah ich es, so groß wie einen Menschen, mager und totenbleich. Es stand am Bug und sah hinaus. Ich schlich mich hinter das Gespenst und stach mit meinem Messer nach ihm; aber das Messer ging durch, wie durch Luft.« Wie er so sprach, nahm er sein Messer und fuchtelte wild damit herum. Dann fuhr er fort: »Aber es ist hier und ich werde es finden. Es ist im Schiffsraum, vielleicht in einer der Kisten. Ich will sie aufmachen, eine nach der anderen, und nachsehen. Sie bedienen einstweilen das Steuer.« Und mit einem warnenden Blick, den Finger an den Lippen, ging er hinunter. Indessen hatte sich ein stoßweiser Wind erhoben und ich durfte das Ruder nicht verlassen. Ich sah ihn wieder an Deck kommen, mit einer Werkzeugkiste und einer Laterne, und dann die vordere Stiege hinuntersteigen. Er ist toll, verrückt, vollkommen wahnsinnig, und ein Versuch, ihn aufzuhalten, wäre jedenfalls umsonst. Den großen Kisten kann er nichts anhaben; sie sind als »Erde« deklariert, und sie etwas herumzustoßen, ist das unschädlichste Ding der Welt. So stehe ich hier, achte auf das Steuer und schreibe meine Notizen. Ich kann nichts tun als auf Gott vertrauen und warten, bis der Nebel sich aufklärt. Dann, wenn ich mit dem herrschenden Winde keinen Hafen anlaufen kann, werde ich die Segeltaue kappen, still liegen und um Hilfe signalisieren.
Nun ist bald alles vorbei. Gerade wiegte ich mich in der Hoffnung, dass der Maat etwas beruhigter wiederkommen werde – ich hörte ihn unten im Schiffsraum klopfen, diese Arbeit ist gut für ihn –, da kam die Luke herauf plötzlich ein furchtbarer Schrei, der mir das Blut gerinnen machte, und dann rannte er an Deck, wie aus der Kanone geschossen – ein rasender Tobsüchtiger, mit rollenden Augen und verzerrtem Antlitz. »Retten Sie mich! Retten Sie ich!«, schrie er und starrte um sich in das Nebelgrau. Sein Entsetzen verwandelte sich in Hoffnungslosigkeit, und mit tonloser Stimme sagte er: »Es wäre besser, Kapitän, Sie kämen mit mir, ehe es zu spät ist. Er ist da, ich weiß nun das Geheimnis. Die See wird mich vor ihm retten und ich bin von allem befreit.« Ehe ich ein Wort erwidern oder auf ihn zutreten konnte, um ihn zu halten, war er auf die Reling gesprungen und warf sich kurz entschlossen in die See. Ich glaube, ich kenne nun auch sein Geheimnis. Er war der Wahnsinnige, der die Leute, einen nach dem anderen, verschwinden machte und ihnen nun gefolgt ist. Gott helfe mir! Wie soll ich all das verantworten, all diese Gräuel, wenn ich in den Hafen komme? Wenn ich in den Hafen komme! Wird das wohl noch der Fall sein?
4. August. – Immer noch Nebel, den der Sonnenaufgang nicht durchdringt. Ich weiß, dass jetzt gerade die Sonne aufgeht, denn ich bin Seemann, erkennen kann ich es nicht. Ich durfte nicht hinuntergehen, durfte das Steuer nicht verlassen; so stand ich hier die ganze Nacht, und in der Finsternis sah ich Ihn – Es! Gott verzeihe mir die große Sünde, aber der Maat tat recht daran, über Bord zu gehen. Es ist besser als Mann zu sterben; als Seemann den Tod in den blauen Fluten zu suchen, kann einem nicht verübelt werden. Aber ich bin Kapitän und darf mein Schiff nicht verlassen. Ich will den Feind, das Ungeheuer, bekämpfen, denn ich werde meine Hände an das Ruder binden, wenn meine Kräfte zu schwinden beginnen, und etwas darum winden, das Er – Es nicht berühren kann. Und dann möge guter Wind kommen oder schlimmer, ich habe meine Seele und meine Ehre als Kapitän gerettet. Ich werde schwächer und die Nacht bricht herein. Wenn ich Ihn wieder von Angesicht zu Angesicht sehe, werde ich wohl keine Zeit mehr haben, zu handeln… Wenn wir schiffbrüchig werden, mag man diese Flasche finden, und die, welche sie finden, werden verstehen; wenn nicht…, gut, dann sollen alle Menschen wissen, dass ich meiner Pflicht getreu geblieben bin. Gott und die heilige Jungfrau und alle Heiligen, helft einer armen, irrenden Seele, die versucht hat, ihre Schuldigkeit zu tun…
Ohne Zweifel entspricht die Darlegung den Tatsachen. Jedenfalls ist es unmöglich, irgend ein weiteres Beweismaterial beizubringen, und ob der Mann die Mordtaten selbst begangen hat oder nicht, darüber kann kein lebender Mund mehr etwas aussagen. Die Leute hier sind allgemein der Ansicht, dass der Kapitän einfach ein Held war und dass ihm ein ehrenvolles Begräbnis zuteilwerden müsse. Es ist bereits angeordnet, dass eine Flotille von Booten ihn ein Stück weit den Esk hinauf begleiten soll; dann wird der Leichnam zurück zum Tate Hill Pier und von da die Abteitreppen hinaufgetragen. Auf dem Klippenfriedhof ist ein Grab für ihn bereitet. Mehr als hundert Bootseigner haben sich schon bereit erklärt, ihm das letzte Geleite zu geben.
Keine Spur hat man noch von dem großen Hund; es ist schade, denn wie jetzt die Sachen stehen, möchte ihn die Bevölkerung am liebsten auf Kosten der Stadt erhalten lassen. Morgen werde ich dem Begräbnis beiwohnen. Damit wird wieder eines der »Mysterien der See« seinen Abschluss finden.
1 Kap Tenaro (auch: Kap Matapan) ist die Südspitze der Halbinsel Mani auf dem griechischen Peloponnes. <<<
2 Der Moskenstraumen, auch Mahlstrom oder Malstrom, ist ein Gezeitenstrom zwischen den Lofoten-Inseln Moskenesøy und Værøy in Norwegen. <<<
8. August. – Lucy war die ganze Nacht sehr unruhig, und auch ich vermochte nicht zu schlafen. Der Sturm war schrecklich, und wie er so laut durch den Kamin herunterpfiff, durchrann es mich eiskalt. Wenn ein starker Stoß kam, so klang es wie fernes Kanonenfeuer. Seltsamerweise wachte Lucy nicht auf; aber sie stand zweimal auf und kleidete sich an. Glücklicherweise erwachte ich beide Male rechtzeitig und konnte sie, ohne dass sie erwachte, wieder auskleiden und zu Bett bringen. Es ist ein seltsam Ding, dieses Schlafwandeln; denn sobald ihr Wille auf irgend eine physische Weise durchkreuzt wird, verschwindet ihre Absicht und sie hält sich dann genau an die Gewohnheiten ihres Lebens.
Früh am Morgen standen wir beide auf und gingen hinunter zum Hafen, um zu sehen, ob sich in der Nacht irgendetwas ereignet habe. Es waren nur sehr wenige Leute draußen, und obgleich die Sonne freundlich schien und die Luft klar und frisch war, drängten sich doch große, grimmig aussehende Wellen, die schwarz erschienen, weil sie mit schneeweißem Schaum gekrönt waren, durch die Enge der Hafenmündung, wie ein kämpfender Mann, der sich durch eine Menschenmenge schlägt. Eigentlich war ich froh, dass Jonathan wenigstens diese Nacht nicht auf See, sondern auf festem Lande war. Aber weiß ich es denn; war er an Land oder auf See? Wo ist er? Wie geht es ihm? Ich habe schrecklich Angst um ihn. Wenn ich nur wüsste, was ich tun soll und ob sich überhaupt etwas tun lässt.
10. August. – Die Beerdigung des armen Schiffskapitäns war sehr ergreifend. Alle Boote im Hafen schienen sich an der Feier beteiligt zu haben und der Sarg wurde von Kapitänen den ganzen Weg von Tate Hill Pier bis zum Friedhof hinaufgetragen. Lucy und ich kamen sehr früh zu unserem gewohnten Platz, während der Zug der Boote den Fluss hinauffuhr bis zum Viadukt und dann wieder umkehrte. Wir hatten gute Aussicht und konnten die Beerdigung fast ihren ganzen Weg lang beobachten. Man hatte dem Kapitän ein Ruheplätzchen ganz in der Nähe unserer Bank angewiesen, sodass wir auf diese steigen und alles genau sehen konnten, als der Zug heran kam. Die gute Lucy schien mir sehr aufgeregt. Sie war unruhig und fühlte sich die ganze Zeit über unbehaglich; ich muss wirklich annehmen, dass ihre nächtlichen Träume schädigend auf sie einzuwirken beginnen. In einer Hinsicht ist sie ganz merkwürdig; sie will mir die Ursache ihre Ruhelosigkeit nicht eingestehen; es mag aber auch sein, dass, wenn eine solche besteht, sie sich ihrer vielleicht gar nicht bewusst ist. Verschlimmernd auf ihre Gemütsverfassung wirkte noch der Umstand ein, dass man den alten Herrn Swales heute Früh tot, mit gebrochenem Genick, auf unserer Bank gefunden hatte. Er war, wie der Doktor behauptete, in einem Anfall von Schrecken auf den Sitz zurückgefallen; denn es lag ein Zug von Abscheu und Entsetzen auf seinem Gesichte, dass es einem, wie die Leute erzählten, hätte schaudern mögen. Guter, armer, alter Mann! Vielleicht hat er den Tod selbst mit seinen brechenden Augen erblickt? Lucy ist so zart und so empfindlich, dass alle Eindrücke viel tiefer auf sie einwirken wie auf andere. Eben jetzt war sie ganz aufgeregt durch ein kleines Ereignis, auf das ich gar nicht recht geachtet hatte, obgleich ich Tiere sehr gern habe. Einer der Leute, die oft da heraufkamen, um nach den Booten zu sehen, hatte einen Hund. Dieser ist immer bei ihm. Beide sind äußerst ruhigen Temperamentes. Ich habe den Mann ebenso wenig einmal ärgerlich gesehen, als ich den Hund einmal bellen hörte. Während der heiligen Handlung wollte der Hund absolut nicht zu seinem Herrn kommen, der auf der Bank neben uns stand, sondern hielt sich in einer gewissen Entfernung, heulend und bellend. Sein Herr sprach ihm erst gütlich zu, dann ernst, schließlich ärgerlich; aber der Hund kam nicht heran und hörte auch nicht zu bellen auf. Er befand sich in einem Zustande von Wut, seine Augen glühten wild auf und all sein Haar sträubte sich, wie der Schweif einer Katze auf dem Kriegspfad. Zuletzt wurde der Besitzer auch ärgerlich; er sprang herunter, nahm den Hund, prügelte ihn, fasste ihn am Fell und brachte ihn, halb ziehend, halb stoßend, zu dem Grabstein, auf dem der Sitz befestigt ist. In dem Augenblick, als das arme Geschöpf diesen berührte, wurde es ruhig und begann heftig zu zittern. Es versuchte gar nicht zu entfliehen, sondern duckte sich nieder, bebend und sich krümmend, und befand sich in einem so erbärmlichen Zustande von Angst, dass ich, wenn auch vergebens, den Versuch machte, es zu beruhigen. Lucy war gleichfalls voll Mitleid, aber sie konnte sich nicht entschließen, das Tier anzurühren, sondern sah es nur mit Todesangst in den Augen an… Ich fürchte, sie ist eine zu sensitive Natur, um ohne Störung das Leben zu ertragen. Sie wird heute Nacht von all dem träumen, das weiß ich. Die ganze Reihe der Ereignisse, das Schiff, das von einem toten Mann gesteuert in den Hafen lief; der Leichnam, der mit Kruzifix und Rosenkranz in den Händen an das Steuerrad gefesselt war; die rührende Bestattung; der halb wütende, halb erschreckte Hund… all das wird ihr Material für ihre Träume liefern.
Es wird, denke ich, das Beste für sie sein, wenn sie physisch ermüdet zu Bette geht. Ich werde deshalb einen langen Spaziergang nach den Klippen der Robin Hood Bay und zurück mit ihr unternehmen. Sie wird dann kaum besondere Lust zum Schlafwandeln empfinden.
Am gleichen Tage, 11 Uhr nachts.– O, wie bin ich müde! Wenn ich nicht eine Verpflichtung gegen mein Tagebuch fühlte, würde ich es heute nicht mehr öffnen. Wir machten einen reizenden Spaziergang. Lucy war nach kurzer Zeit in bester Laune, die wir, glaube ich, einigen munteren Kühen zu verdanken hatten, die auf einem kleinen Feld in der Nähe des Leuchtturmes auf uns zukamen, um uns zu beschnuppern, und uns in Angst und Schrecken versetzten. Ich glaube, wir vergaßen alles, außer natürlich die persönliche Gefahr. Wir tranken dann einen vorzüglichen Tee an Robin Hoods Bay in einer netten, kleinen, altmodischen Wirtschaft, durch deren Bogenfenster man gerade hinunter sah auf die mit Seetang bedeckten Felsen des Strandes. Wahrscheinlich hätten wir »moderne Frauen« mit unserem Appetit in Schrecken versetzt. Die Männer sind in dieser Beziehung nachsichtiger. Gott segne sie dafür! Dann gingen wir heim, indem wir einige, besser gesagt viele Ruhepausen einlegten; im Herzen trugen wir immer noch Furcht vor wild gewordenen Stieren. Lucy war wirklich müde, und wir beschlossen, sobald als möglich ins Bett zu kriechen. Es kam jedoch der junge Herr Kurat, und Frau Westenraa lud ihn ein, zum Souper bei uns zu bleiben; Lucy und ich hatten einen harten Kampf mit dem Sandmann zu bestehen. Ich glaube, ich kämpfte erfolgreicher, denn ich bin eine sehr harte Natur. Ich denke, die Bischöfe werden eines Tages zusammenkommen und darüber beraten müssen, ob man nicht bessere Kuraten einstellen solle, die nicht soupieren, so sehr sie auch dazu gepresst werden mögen, und die es merken, wenn junge Mädchen müde sind. Lucy schläft und atmet leise. Sie hat mehr Farbe in den Wangen und sieht so süß, ach so süß aus. Wenn sich Herr Holmwood schon in sie verliebte, da er sie nur im Wohnzimmer sah, so möchte ich wissen, was er jetzt täte, wenn er sie so sähe. Einige der »modernen Frauen« werden eines Tages die Forderung aufstellen, dass es Mann und Frau erlaubt sein müsse, sich erst gegenseitig im Schlafe zu sehen, ehe man sich bewerbe oder eine Bewerbung annehme. Aber die »modernen Frauen« werden wohl in Zukunft sich nicht mehr damit begnügen, eine Bewerbung anzunehmen, sondern sie werden selbst werben wollen. Das wird etwas Schönes werden! Ich bin so glücklich heute Abend, weil die liebe Lucy wieder besser aussieht. Ich glaube wirklich, sie hat es jetzt überwunden und wir sind über die bösen Klippen ihres Schlafwandelns hinweg. Ich wäre ganz glücklich, wenn ich wüsste, ob Jonathan… Gott segne und behüte ihn.
11, August, 3 Uhr morgens. – Wieder zum Tagebuch. Da ich nicht schlafen kann, will ich schreiben. Ich bin zu erregt, um schlafen zu können. Wir hatten ein Abenteuer, ein Erlebnis, das mir tödlichen Schreck einjagte. Ich schlief ein, sobald ich mein Tagebuch geschlossen hatte… Plötzlich wurde ich völlig wach und sprang aus dem Bette mit einem schrecklichen Gefühl der Angst und einer Leere um mich her. Das Zimmer war so dunkel, dass ich Lucys Bett nicht sehen konnte; ich schlich mich hinüber und tastete nach ihr; das Bett war leer. Ich machte Licht und bemerkte, dass sie überhaupt nicht im Zimmer war. Die Türe war zu, aber nicht verschlossen; ich hatte dies doch gewissenhaft besorgt, ehe wir uns zur Ruhe legten. Ihre Mutter wollte ich nicht wecken, da sie in letzter Zeit wieder leidender ist; so zog ich denn einige Kleidungsstücke an und machte mich auf die Suche. Ehe ich das Zimmer verließ, kam ich auf die Idee, dass vielleicht die Kleider, die sie trug, mir einen Anhalt für ihr Verschwinden geben könnten. Schlafrock würde bedeuten, dass sie sich im Hause, Straßenkleider, dass sie sich außerhalb befinde. Schlafrock und Straßenkleid befanden sich auf ihren gewöhnlichen Plätzen. »Gott sei Dank«, sagte ich mir, »weit kann sie nicht sein, da sie nur im Nachthemd ist.« Ich rannte hinunter und sah im Wohnzimmer nach. Nicht da! Dann suchte ich alle offenen Räume des Hauses ab, indem eine immer wachsende Angst mir das Herz zusammenschnürte. Endlich kam ich an das Haustor und fand es offen. Es war nicht weit offen, nur das Schloss war nicht eingeschnappt. Die Hausleute sind ängstlich darauf bedacht, das Haustor jede Nacht sorgfältig zu schließen, und so musste ich befürchten, dass Lucy fortgegangen sei, so wie sie war. Ich hatte keine Zeit daran zu denken, was geschehen könnte; ein schweres, erdrückendes Angstgefühl nahm mir alle Urteilsfähigkeit. Ich ergriff einen dicken, warmen Shawl1 und rannte davon. Die Glocke schlug eben eins, als ich in The Crescent ankam; keine Seele war auf der Straße. Ich eilte die Nordterrasse entlang, fand aber keine Spur der weißen Gestalt, nach der ich suchte. Vom Rande der Westklippe, gerade über dem Pier, sah ich quer über den Hafen weg zur Ostklippe hinüber, in der Hoffnung oder Furcht, – was es war, weiß ich nicht – Lucy auf unserem Lieblingsplätzchen zu entdecken. Der helle Vollmond wurde hin und wieder durch schwere, treibende Wolken verhüllt, sodass über der ganzen Szene abwechselnd Licht und Schatten lagen. Eine oder zwei Sekunden konnte ich nichts sehen, da gerade der Schatten einer Wolke die Marienkirche und alles Umliegende verdunkelte. Dann, als die Wolke vorüberzog, kam die zerfallene Abtei wieder in Sicht. Als der messerscharfe Rand eines schmalen Lichtstreifens über sie strich, wurde die Kirche mit dem Friedhof nach und nach sichtbar. Was ich auch erwartet haben mochte, meine Erwartung wurde nicht enttäuscht, denn dort, auf unserem Lieblingssitz, sah ich eine vom Mondlicht hell beschienene, halb zurückgelehnte, schneeweiße Gestalt. Allzu rasch näherte sich wieder ein Wolke, als dass ich viel hätte sehen können. Sofort umhüllte mich wieder tiefe Finsternis, aber ich hatte den Eindruck, als stände etwas Dunkles hinter dem Sitz, auf dem sich die weiße Gestalt befand, und beuge sich über sie; was es war, ob ein Mensch oder ein Tier, konnte ich nicht erkennen. Ich wartete gar nicht mehr ab, bis ich wieder etwas sehen konnte, sondern flog die Treppen hinab zum Pier und am Fischmarkt vorbei zur Brücke, den einzigen Weg, auf dem von hier aus die Ostklippe zu erreichen war. Die Stadt lag da wie tot, keine Seele mehr zu sehen; es war mir ja lieb so, denn niemand sollte etwas von Lucys Leiden erfahren. Die Zeit und die Entfernung schienen mir unermesslich lang; meine Knie zitterten und mein Atem rang sich keuchend aus meiner Brust, als ich die endlosen Stufen zur Abtei hinaufsprang. Ich muss sehr rasch gelaufen sein, dennoch kam es mir vor, als seien meine Füße mit Blei ausgegossen und meine Gelenke eingerostet. Als ich auf der Höhe angelangt war, konnte ich den Sitz und die weiße Gestalt darauf genau erkennen, denn ich war jetzt nahe genug, um selbst im Dunkel der Nacht alles zu unterscheiden. Es war offenkundig, irgendetwas beugte sich lang und schwarz über die halb zurückgelehnte weiße Gestalt. In tiefster Seele erschreckt rief ich: Lucy! Lucy! und das Etwas hob den Kopf – ein bleiches Gesicht mit rot glühenden Augen wandte sich mir zu. Lucy antwortete mir nicht, und ich rannte zur Friedhoftüre. Hierdurch schob sich die Kirche zwischen mich und die Bank und versperrte mir auf einige Augenblicke die Aussicht. Als ich sie wieder sehen konnte, war die Wolke vorübergezogen und blendender Mondschein fiel auf sie, wie sie so dasaß, halb zurückgelehnt, das Haupt über die Lehne der Bank zurückgefallen. Sie war ganz allein; weit und breit keine Spur von einem lebenden Wesen.
Als ich mich über sie beugte, sah ich, dass sie noch schlief. Ihre Lippen waren geöffnet und sie atmete – nicht sanft, wie sie es sonst tat, sondern in langen, hastigen Zügen, als müsse sie darum kämpfen, ihre Lungen mit frischer Luft zu füllen. Wie ich an sie herantrat, bewegte sie im Schlaf die Hand und zog den Kragen ihres Nachthemdes fester um die Kehle zu. Es überlief sie dabei ein leichter Schauder, als ob sie Kälte empfinde. Ich schlug den warmen Shawl um sie und zog die Ecken fest um ihren Hals zusammen, denn ich fürchtete, sie könne sich eine tödliche Krankheit zuziehen, unbekleidet wie sie war… Ich zögerte aber noch, sie zu wecken und befestigte, um meine Hände zu einer allenfallsigen Hilfeleistung freizubekommen, den Shawl mit einer großen Sicherheitsnadel. Ich muss aber in meiner Angst ungeschickt gewesen sein und sie am Halse gerissen oder gestochen haben; denn als ihr Atem allmählich wieder ruhiger zu werden begann, legte sie öfter ihre Hand an die Kehle und stöhnte. Nachdem ich sie sorgfältig eingewickelt hatte, zog ich ihr noch meine Schuhe an die Füße und versuchte sie schonend zu wecken. Erst reagierte sie gar nicht, aber allmählich wurde ihr Schlaf doch weniger fest und sie seufzte und stöhnte von Zeit zu Zeit. Schließlich aber, als es mir doch zu lange dauerte und da es mir darum zu tun war, sie möglichst rasch nach Hause zu bringen, schüttelte ich sie heftig, worauf sie die Augen öffnete und erwachte. Sie schien gar nicht überrascht, mich zu sehen, wie sie überhaupt ohne Zweifel sich nicht gleich klar darüber war, wo sie sich eigentlich befand. Lucy ist immer hübsch, auch beim Erwachen; und sogar jetzt, wo doch ihr Leib von der Kälte geschüttelt wurde und sie darüber entsetzt sein musste, mitten in der Nacht unbekleidet auf einem Friedhof zu erwachen, verlor sie ihre Grazie nicht. Sie zitterte ein wenig und klammerte sich an mich; als ich ihr sagte, sie müsse jetzt sofort mit mir heimgehen, stand sie mit dem Gehorsam eines Kindes auf, ohne ein Wort zu sagen. Als wir weggingen, stieß ich mit dem nackten Fuße an einen Stein und Lucy hörte meinen leisen Schmerzensruf. Sie blieb stehen und bestand darauf, ich sollte meine Schuhe anziehen, aber ich tat es nicht. Dagegen bestrich ich, als wir auf den Fußweg außerhalb des Friedhofs kamen, wo noch von dem Unwetter her eine Regenpfütze sich befand, meine Füße mit Schmutz, damit nicht jemand, der uns etwa auf dem Heimweg begegnen könnte, imstande wäre zu erkennen, dass ich mit nackten Füßen ging.
Tasuta katkend on lõppenud.