Loe raamatut: «Dracula», lehekülg 10

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Logbuch der »Demeter«

Von Var­na nach Whit­by

Be­gon­nen den 18. Juli. Die selt­sa­men Din­ge, sie sich er­eig­ne­ten, zwin­gen mich, von jetzt ab bis zur Lan­dung ge­naue No­ti­zen zu ma­chen.

Am 6. Juli be­en­dig­ten wir die Ein­nah­me der La­dung, Sil­ber­sand und Kis­ten mit Erde. Mit­tags setz­ten wir Se­gel. Ost­wind, frisch. Die Be­sat­zung be­stand aus fünf Mann, zwei Maa­ten, ei­nem Koch und mir selbst (Ka­pi­tän).

Am 11. Juli in der Mor­gen­däm­me­rung Ein­fahrt in den Bos­po­rus. Re­vi­si­on durch tür­ki­sche Zoll­be­am­te. Bak­schisch. Al­les in Ord­nung. 4 Uhr nach­mit­tags Wei­ter­fahrt.

12. Juli. Dar­da­nel­len. Noch mehr Zoll­be­am­te und das Flagg­schiff der Be­wa­chungs­flot­te. Wie­der Bak­schisch. Re­vi­si­on von oben bis un­ten, aber rasch er­le­digt. Wir wol­len bald fort. Bei Dun­kel­heit in den Archi­pel ein­ge­lau­fen.

Am 13. Juli. Kap Ma­ta­pan1 pas­siert. Mann­schaft über ir­gen­det­was un­ge­hal­ten; schei­nen er­bit­tert, wol­len aber nicht spre­chen.

Am 14. Juli. Mann­schaft scheint ängst­lich. Al­les kräf­ti­ge Ker­le, die schon frü­her mit mir ge­fah­ren wa­ren. Der Maat konn­te nicht her­aus­brin­gen, was los war; sie sag­ten, es sei et­was, und be­kreu­zig­ten sich. Der Maat ver­lor mit ei­nem von ih­nen die Ge­duld und schlug ihn. Er­war­te­te hef­ti­gen Tu­mult, aber al­les war ru­hig.

Am 15. Juli. Früh mel­de­te der Maat, dass ei­ner der Leu­te, Na­mens Pe­trow­ski, feh­le. Konn­te es mir nicht er­klä­ren. Nahm Back­bord­wa­che acht Glas letz­te Nacht; wur­de durch Abramoff ab­ge­löst, ging aber nicht zu Bett. Mann­schaft noch nie­der­ge­schla­ge­ner. Alle sag­ten, sie er­war­te­ten et­was Be­son­de­res, woll­ten aber nicht mehr sa­gen, als dass et­was an Bord sei. Der Maat wur­de sehr hef­tig mit ih­nen, be­fürch­te­te eine Meu­te­rei.

Am 17. Juli. Ges­tern kam ei­ner der Leu­te, Ol­ga­rem, zu mir in die Ka­jü­te und ver­trau­te mir völ­lig ver­stört an, dass er mei­ne, es be­fin­de sich ein frem­der Mann an Bord. Er er­zähl­te mir, dass er als Wach­ha­ben­der sich hin­ter dem Deck­häus­chen vor ei­ner Re­gen­böe ge­schützt, auf­ge­stellt und einen großen ha­ge­ren Mann ge­se­hen habe, der kei­nem von der gan­zen Be­sat­zung glich. Er kam die Mann­schafts­s­tie­ge her­auf, ging auf Deck ge­gen den Bug zu und ver­schwand. Er folg­te ihm vor­sich­tig, doch als er an den Bug kam, fand er nie­mand und die Lu­ken wa­ren alle ge­schlos­sen. Er war vor aber­gläu­bi­scher Furcht fast wahn­sin­nig; ich bin in Sor­ge, es könn­te eine Pa­nik ent­ste­hen. Um dies zu ver­hin­dern, wer­de ich heu­te das gan­ze Schiff von vor­ne bis hin­ten sorg­fäl­tig durch­su­chen las­sen.

Spä­ter am Tage nahm ich mir sämt­li­che Leu­te zu­sam­men und sag­te ih­nen, dass ich, weil sie glaub­ten, es sei et­was Frem­des an Bord, das gan­ze Schiff bis ins Kleins­te Win­kel­chen durch­su­chen las­sen wol­le. Der ers­te Maat war är­ger­lich und sag­te, das wäre Un­sinn; solch dum­men Ide­en nach­zu­ge­ben, hei­ße die Mann­schaft de­mo­ra­li­sie­ren; er mein­te, er wol­le sich ver­pflich­ten, mit ei­nem He­be­baum ih­nen ihre Angst aus­zu­trei­ben. Ich be­auf­trag­te ihn mit der Füh­rung des Ru­ders, wäh­rend die Üb­ri­gen, weit vor­ge­beugt, mit Lam­pen in den Hän­den zu su­chen be­gan­nen. Kein Win­kel blieb un­durch­forscht. Es wa­ren nur die großen Holz­kis­ten, nir­gends aber ein ver­steck­ter Win­kel, wo sich ein Mensch hät­te ver­bor­gen hal­ten kön­nen. Die Leu­te at­me­ten or­dent­lich auf, als die Su­che vor­über war, und gin­gen mit neu­em Mut an ihre Ar­beit. Der ers­te Maat groll­te, sag­te aber nichts.

22. Juli. – Schlech­tes Wet­ter die letz­ten drei Tage und alle Leu­te flei­ßig in den Se­geln –, kei­ne Zeit, um sich der Angst hin­zu­ge­ben. Die Leu­te schei­nen ihre Furcht ver­ges­sen zu ha­ben. Der Maat ist wie­der be­ru­higt und al­les im bes­ten Ge­lei­se. Ich lob­te die Mann­schaft für ihr gu­tes Ver­hal­ten bei dem schlech­ten Wet­ter. Pas­sier­ten Gi­bral­tar und dann durch die Stra­ße hin­aus in die of­fe­ne See. Al­les in Ord­nung.

24. Juli. – Es liegt ein Fluch auf dem Schiff. Schon ein Mann we­ni­ger, nun Ein­fahrt in den Golf von Bis­ka­ya bei furcht­ba­rem Un­wet­ter, und schließ­lich heu­te Nacht wie­der ein Mann ver­lo­ren – ver­schwun­den. Wie der ers­te, kam er von Wa­che ab und ward nicht mehr ge­se­hen. Die Leu­te, in vol­ler Furcht und Pa­nik, sand­ten eine Bitt­schrift, zu zwei­en die Wa­chen be­zie­hen zu dür­fen, da sie al­lein sich fürch­te­ten. Der Maat wü­tend. Ich be­fürch­te, es gibt ir­gend einen Skan­dal, denn ent­we­der er oder die Mann­schaft ver­üben eine Ge­walt­tat.

28. Juli. – Vier Tage in der Höl­le; her­um­ge­wor­fen in ei­ner Art Mal­strom2 und der Wind ein Sturm. Kein Schlaf für uns. Die Leu­te alle er­schöpft, weiß kaum, wie ich Wa­chen noch ge­ben soll, da kei­ner be­reit ist, eine sol­che zu be­zie­hen. Der zwei­te Maat er­bot sich frei­wil­lig, zu steu­ern und zu wa­chen, um die Leu­te ein paar Stun­den Ruhe ge­nie­ßen zu las­sen. Der Wind lässt nach; die See ist zwar noch auf­ge­regt, aber man fühlt, dass sie stil­ler wird; das Schiff läuft ru­hi­ger.

29. Juli. – Wie­der eine Tra­gö­die. Ich hat­te die Nacht über Ein­zel­wa­chen auf­ge­stellt, da die Mann­schaft zu müde war, sie zu ver­dop­peln. Als die Mor­gen­wa­che an Deck kam, fand sie nie­mand au­ßer dem Steu­er­mann. Sie stieß einen Schrei aus und al­les rann­te an Bord. Al­les durch­sucht, nichts ge­fun­den. Sind nun ohne zwei­ten Maat, und die Mann­schaft in vol­ler Pa­nik. Der Maat und ich ka­men über­ein, von nun an be­waff­net zu ge­hen und auf alle An­zei­chen zu ach­ten.

30. Juli. – Letz­te Nacht. Wir freu­en uns, in der Nähe Eng­lands zu sein. Schö­nes Wet­ter; alle Se­gel ge­setzt. Zog mich völ­lig er­schöpft zu­rück; fiel in tie­fen Schlaf. Wur­de auf­ge­weckt durch den Maa­ten, der mir mel­de­te, dass so­wohl Wach- wie Steu­er­mann fehl­ten. Nur ich, der Maat und zwei Mann sind noch zur Be­die­nung des Schif­fes üb­rig.

1. Au­gust. – Zwei Tage Ne­bel, kei­ne Se­gel ge­sich­tet. Hat­te ge­hofft, im eng­li­schen Kanal ein Not­si­gnal ab­ge­ben oder ir­gend­wo an­lau­fen zu kön­nen. Kann die Se­gel nicht ref­fen, muss also vor dem Wind lau­fen. Ich hät­te ja nicht die Leu­te, um sie wie­der set­zen zu kön­nen. Ich habe das Ge­fühl, als trie­ben wir ei­nem gräss­li­chen Un­glück ent­ge­gen. Der Maat ist nun mehr ent­mu­tigt als die an­de­ren. Die Leu­te sind über die Furcht hin­aus; ar­bei­ten wa­cker und ge­dul­dig und sind auf das Schlimms­te ge­fasst. Sie sind Rus­sen, er Ru­mä­ne.

2. Au­gust, Mit­ter­nacht. – Hat­te ei­ni­ge Mi­nu­ten ge­schla­fen; er­wach­te durch einen Schrei di­rekt vor mei­ner Türe. Ich konn­te vor Ne­bel nichts se­hen. Rann­te an Deck und stieß dort mit dem Maat zu­sam­men. Er sag­te mir, dass er auf den Schrei so­fort her­bei­ge­lau­fen sei, dass er aber kei­ne Spur von dem Wach­ha­ben­den ge­fun­den habe. Wie­der ei­ner da­hin! Gott hel­fe uns! Der Maat be­haup­te­te, wir hät­ten die Enge von Do­ver schon pas­siert; er habe durch eine Lücke im Ne­bel das North Fo­re­land er­kannt, als eben der Schrei des Man­nes er­tön­te. Wenn es wirk­lich so ist, be­fin­den wir uns in der Nord­see; nur Gott kann uns in dem Ne­bel ge­lei­ten, der mit uns zu ge­hen scheint; aber Gott hat uns ver­las­sen.

3. Au­gust. – Mit­ter­nachts ging ich, um den Mann am Steu­er ab­zu­lö­sen, als ich aber dort­hin kam, fand ich nie­mand vor. Der Wind war gleich­mä­ßi­ger, und da wir mit ihm se­gel­ten, ging das Schiff sehr ru­hig. Ich durf­te das Steu­er nicht un­be­dient las­sen und rief des­halb nach dem Maat. Nach ei­ni­gen Au­gen­bli­cken kam er in sei­nen Fla­nell­klei­dern an Bord ge­rannt. Er sah wild und ver­stört aus, und ich fürch­te, dass sein Ver­stand Scha­den ge­lit­ten hat. Er trat dicht an mich her­an und wis­per­te mir voll Ent­set­zen ins Ohr, als habe er Angst, die Luft kön­ne es ver­neh­men: »Es ist hier; nun weiß ich es. Auf Wa­che letz­te Nacht sah ich es, so groß wie einen Men­schen, ma­ger und to­ten­bleich. Es stand am Bug und sah hin­aus. Ich schlich mich hin­ter das Ge­s­penst und stach mit mei­nem Mes­ser nach ihm; aber das Mes­ser ging durch, wie durch Luft.« Wie er so sprach, nahm er sein Mes­ser und fuch­tel­te wild da­mit her­um. Dann fuhr er fort: »Aber es ist hier und ich wer­de es fin­den. Es ist im Schiffs­raum, viel­leicht in ei­ner der Kis­ten. Ich will sie auf­ma­chen, eine nach der an­de­ren, und nach­se­hen. Sie be­die­nen einst­wei­len das Steu­er.« Und mit ei­nem war­nen­den Blick, den Fin­ger an den Lip­pen, ging er hin­un­ter. In­des­sen hat­te sich ein stoß­wei­ser Wind er­ho­ben und ich durf­te das Ru­der nicht ver­las­sen. Ich sah ihn wie­der an Deck kom­men, mit ei­ner Werk­zeug­kis­te und ei­ner La­ter­ne, und dann die vor­de­re Stie­ge hin­un­ter­stei­gen. Er ist toll, ver­rückt, voll­kom­men wahn­sin­nig, und ein Ver­such, ihn auf­zu­hal­ten, wäre je­den­falls um­sonst. Den großen Kis­ten kann er nichts an­ha­ben; sie sind als »Erde« de­kla­riert, und sie et­was her­um­zu­sto­ßen, ist das un­schäd­lichs­te Ding der Welt. So ste­he ich hier, ach­te auf das Steu­er und schrei­be mei­ne No­ti­zen. Ich kann nichts tun als auf Gott ver­trau­en und war­ten, bis der Ne­bel sich auf­klärt. Dann, wenn ich mit dem herr­schen­den Win­de kei­nen Ha­fen an­lau­fen kann, wer­de ich die Se­gel­taue kap­pen, still lie­gen und um Hil­fe si­gna­li­sie­ren.

Nun ist bald al­les vor­bei. Gera­de wieg­te ich mich in der Hoff­nung, dass der Maat et­was be­ru­hig­ter wie­der­kom­men wer­de – ich hör­te ihn un­ten im Schiffs­raum klop­fen, die­se Ar­beit ist gut für ihn –, da kam die Luke her­auf plötz­lich ein furcht­ba­rer Schrei, der mir das Blut ge­rin­nen mach­te, und dann rann­te er an Deck, wie aus der Ka­no­ne ge­schos­sen – ein ra­sen­der Tob­süch­ti­ger, mit rol­len­den Au­gen und ver­zerr­tem Ant­litz. »Ret­ten Sie mich! Ret­ten Sie ich!«, schrie er und starr­te um sich in das Ne­bel­grau. Sein Ent­set­zen ver­wan­del­te sich in Hoff­nungs­lo­sig­keit, und mit ton­lo­ser Stim­me sag­te er: »Es wäre bes­ser, Ka­pi­tän, Sie kämen mit mir, ehe es zu spät ist. Er ist da, ich weiß nun das Ge­heim­nis. Die See wird mich vor ihm ret­ten und ich bin von al­lem be­freit.« Ehe ich ein Wort er­wi­dern oder auf ihn zu­tre­ten konn­te, um ihn zu hal­ten, war er auf die Re­ling ge­sprun­gen und warf sich kurz ent­schlos­sen in die See. Ich glau­be, ich ken­ne nun auch sein Ge­heim­nis. Er war der Wahn­sin­ni­ge, der die Leu­te, einen nach dem an­de­ren, ver­schwin­den mach­te und ih­nen nun ge­folgt ist. Gott hel­fe mir! Wie soll ich all das ver­ant­wor­ten, all die­se Gräu­el, wenn ich in den Ha­fen kom­me? Wenn ich in den Ha­fen kom­me! Wird das wohl noch der Fall sein?

4. Au­gust. – Im­mer noch Ne­bel, den der Son­nen­auf­gang nicht durch­dringt. Ich weiß, dass jetzt ge­ra­de die Son­ne auf­geht, denn ich bin See­mann, er­ken­nen kann ich es nicht. Ich durf­te nicht hin­un­ter­ge­hen, durf­te das Steu­er nicht ver­las­sen; so stand ich hier die gan­ze Nacht, und in der Fins­ter­nis sah ich IhnEs! Gott ver­zei­he mir die große Sün­de, aber der Maat tat recht dar­an, über Bord zu ge­hen. Es ist bes­ser als Mann zu ster­ben; als See­mann den Tod in den blau­en Flu­ten zu su­chen, kann ei­nem nicht ver­übelt wer­den. Aber ich bin Ka­pi­tän und darf mein Schiff nicht ver­las­sen. Ich will den Feind, das Un­ge­heu­er, be­kämp­fen, denn ich wer­de mei­ne Hän­de an das Ru­der bin­den, wenn mei­ne Kräf­te zu schwin­den be­gin­nen, und et­was dar­um win­den, das Er – Es nicht be­rüh­ren kann. Und dann möge gu­ter Wind kom­men oder schlim­mer, ich habe mei­ne See­le und mei­ne Ehre als Ka­pi­tän ge­ret­tet. Ich wer­de schwä­cher und die Nacht bricht her­ein. Wenn ich Ihn wie­der von An­ge­sicht zu An­ge­sicht sehe, wer­de ich wohl kei­ne Zeit mehr ha­ben, zu han­deln… Wenn wir schiff­brü­chig wer­den, mag man die­se Fla­sche fin­den, und die, wel­che sie fin­den, wer­den ver­ste­hen; wenn nicht…, gut, dann sol­len alle Men­schen wis­sen, dass ich mei­ner Pf­licht ge­treu ge­blie­ben bin. Gott und die hei­li­ge Jung­frau und alle Hei­li­gen, helft ei­ner ar­men, ir­ren­den See­le, die ver­sucht hat, ihre Schul­dig­keit zu tun…

Ohne Zwei­fel ent­spricht die Dar­le­gung den Tat­sa­chen. Je­den­falls ist es un­mög­lich, ir­gend ein wei­te­res Be­weis­ma­te­ri­al bei­zu­brin­gen, und ob der Mann die Mord­ta­ten selbst be­gan­gen hat oder nicht, dar­über kann kein le­ben­der Mund mehr et­was aus­sa­gen. Die Leu­te hier sind all­ge­mein der An­sicht, dass der Ka­pi­tän ein­fach ein Held war und dass ihm ein eh­ren­vol­les Be­gräb­nis zu­teil­wer­den müs­se. Es ist be­reits an­ge­ord­net, dass eine Flo­til­le von Boo­ten ihn ein Stück weit den Esk hin­auf be­glei­ten soll; dann wird der Leich­nam zu­rück zum Tate Hill Pier und von da die Ab­teitrep­pen hin­auf­ge­tra­gen. Auf dem Klip­pen­fried­hof ist ein Grab für ihn be­rei­tet. Mehr als hun­dert Boots­eig­ner ha­ben sich schon be­reit er­klärt, ihm das letz­te Ge­lei­te zu ge­ben.

Kei­ne Spur hat man noch von dem großen Hund; es ist scha­de, denn wie jetzt die Sa­chen ste­hen, möch­te ihn die Be­völ­ke­rung am liebs­ten auf Kos­ten der Stadt er­hal­ten las­sen. Mor­gen wer­de ich dem Be­gräb­nis bei­woh­nen. Da­mit wird wie­der ei­nes der »Mys­te­ri­en der See« sei­nen Ab­schluss fin­den.

1 Kap Ten­aro (auch: Kap Ma­ta­pan) ist die Süd­spit­ze der Halb­in­sel Mani auf dem grie­chi­schen Pe­lo­pon­nes. <<<

2 Der Mos­kens­trau­men, auch Mahl­strom oder Mal­strom, ist ein Ge­zei­ten­strom zwi­schen den Lo­fo­ten-In­seln Mos­ke­nesøy und Værøy in Nor­we­gen. <<<

Mina Murrays Tagebuch

8. Au­gust. – Lucy war die gan­ze Nacht sehr un­ru­hig, und auch ich ver­moch­te nicht zu schla­fen. Der Sturm war schreck­lich, und wie er so laut durch den Ka­min her­un­ter­pfiff, durch­rann es mich eis­kalt. Wenn ein star­ker Stoß kam, so klang es wie fer­nes Ka­no­nen­feu­er. Selt­sa­mer­wei­se wach­te Lucy nicht auf; aber sie stand zwei­mal auf und klei­de­te sich an. Glück­li­cher­wei­se er­wach­te ich bei­de Male recht­zei­tig und konn­te sie, ohne dass sie er­wach­te, wie­der aus­klei­den und zu Bett brin­gen. Es ist ein selt­sam Ding, die­ses Schlaf­wan­deln; denn so­bald ihr Wil­le auf ir­gend eine phy­si­sche Wei­se durch­kreuzt wird, ver­schwin­det ihre Ab­sicht und sie hält sich dann ge­nau an die Ge­wohn­hei­ten ih­res Le­bens.

Früh am Mor­gen stan­den wir bei­de auf und gin­gen hin­un­ter zum Ha­fen, um zu se­hen, ob sich in der Nacht ir­gen­det­was er­eig­net habe. Es wa­ren nur sehr we­ni­ge Leu­te drau­ßen, und ob­gleich die Son­ne freund­lich schi­en und die Luft klar und frisch war, dräng­ten sich doch große, grim­mig aus­se­hen­de Wel­len, die schwarz er­schie­nen, weil sie mit schnee­weißem Schaum ge­krönt wa­ren, durch die Enge der Ha­fen­mün­dung, wie ein kämp­fen­der Mann, der sich durch eine Men­schen­men­ge schlägt. Ei­gent­lich war ich froh, dass Jo­na­than we­nigs­tens die­se Nacht nicht auf See, son­dern auf fes­tem Lan­de war. Aber weiß ich es denn; war er an Land oder auf See? Wo ist er? Wie geht es ihm? Ich habe schreck­lich Angst um ihn. Wenn ich nur wüss­te, was ich tun soll und ob sich über­haupt et­was tun lässt.

10. Au­gust. – Die Be­er­di­gung des ar­men Schiffs­ka­pi­täns war sehr er­grei­fend. Alle Boo­te im Ha­fen schie­nen sich an der Fei­er be­tei­ligt zu ha­ben und der Sarg wur­de von Ka­pi­tä­nen den gan­zen Weg von Tate Hill Pier bis zum Fried­hof hin­auf­ge­tra­gen. Lucy und ich ka­men sehr früh zu un­se­rem ge­wohn­ten Platz, wäh­rend der Zug der Boo­te den Fluss hin­auf­fuhr bis zum Via­dukt und dann wie­der um­kehr­te. Wir hat­ten gute Aus­sicht und konn­ten die Be­er­di­gung fast ih­ren gan­zen Weg lang be­ob­ach­ten. Man hat­te dem Ka­pi­tän ein Ru­he­plätz­chen ganz in der Nähe un­se­rer Bank an­ge­wie­sen, so­dass wir auf die­se stei­gen und al­les ge­nau se­hen konn­ten, als der Zug her­an kam. Die gute Lucy schi­en mir sehr auf­ge­regt. Sie war un­ru­hig und fühl­te sich die gan­ze Zeit über un­be­hag­lich; ich muss wirk­lich an­neh­men, dass ihre nächt­li­chen Träu­me schä­di­gend auf sie ein­zu­wir­ken be­gin­nen. In ei­ner Hin­sicht ist sie ganz merk­wür­dig; sie will mir die Ur­sa­che ihre Ru­he­lo­sig­keit nicht ein­ge­ste­hen; es mag aber auch sein, dass, wenn eine sol­che be­steht, sie sich ih­rer viel­leicht gar nicht be­wusst ist. Ver­schlim­mernd auf ihre Ge­müts­ver­fas­sung wirk­te noch der Um­stand ein, dass man den al­ten Herrn Swa­les heu­te Früh tot, mit ge­bro­che­nem Ge­nick, auf un­se­rer Bank ge­fun­den hat­te. Er war, wie der Dok­tor be­haup­te­te, in ei­nem An­fall von Schre­cken auf den Sitz zu­rück­ge­fal­len; denn es lag ein Zug von Ab­scheu und Ent­set­zen auf sei­nem Ge­sich­te, dass es ei­nem, wie die Leu­te er­zähl­ten, hät­te schau­dern mö­gen. Gu­ter, ar­mer, al­ter Mann! Vi­el­leicht hat er den Tod selbst mit sei­nen bre­chen­den Au­gen er­blickt? Lucy ist so zart und so emp­find­lich, dass alle Ein­drücke viel tiefer auf sie ein­wir­ken wie auf an­de­re. Eben jetzt war sie ganz auf­ge­regt durch ein klei­nes Er­eig­nis, auf das ich gar nicht recht ge­ach­tet hat­te, ob­gleich ich Tie­re sehr gern habe. Ei­ner der Leu­te, die oft da her­auf­ka­men, um nach den Boo­ten zu se­hen, hat­te einen Hund. Die­ser ist im­mer bei ihm. Bei­de sind äu­ßerst ru­hi­gen Tem­pe­ra­men­tes. Ich habe den Mann eben­so we­nig ein­mal är­ger­lich ge­se­hen, als ich den Hund ein­mal bel­len hör­te. Wäh­rend der hei­li­gen Hand­lung woll­te der Hund ab­so­lut nicht zu sei­nem Herrn kom­men, der auf der Bank ne­ben uns stand, son­dern hielt sich in ei­ner ge­wis­sen Ent­fer­nung, heu­lend und bel­lend. Sein Herr sprach ihm erst güt­lich zu, dann ernst, schließ­lich är­ger­lich; aber der Hund kam nicht her­an und hör­te auch nicht zu bel­len auf. Er be­fand sich in ei­nem Zu­stan­de von Wut, sei­ne Au­gen glüh­ten wild auf und all sein Haar sträub­te sich, wie der Schweif ei­ner Kat­ze auf dem Kriegs­pfad. Zu­letzt wur­de der Be­sit­zer auch är­ger­lich; er sprang her­un­ter, nahm den Hund, prü­gel­te ihn, fass­te ihn am Fell und brach­te ihn, halb zie­hend, halb sto­ßend, zu dem Grab­stein, auf dem der Sitz be­fes­tigt ist. In dem Au­gen­blick, als das arme Ge­schöpf die­sen be­rühr­te, wur­de es ru­hig und be­gann hef­tig zu zit­tern. Es ver­such­te gar nicht zu ent­flie­hen, son­dern duck­te sich nie­der, be­bend und sich krüm­mend, und be­fand sich in ei­nem so er­bärm­li­chen Zu­stan­de von Angst, dass ich, wenn auch ver­ge­bens, den Ver­such mach­te, es zu be­ru­hi­gen. Lucy war gleich­falls voll Mit­leid, aber sie konn­te sich nicht ent­schlie­ßen, das Tier an­zu­rüh­ren, son­dern sah es nur mit To­des­angst in den Au­gen an… Ich fürch­te, sie ist eine zu sen­si­ti­ve Na­tur, um ohne Stö­rung das Le­ben zu er­tra­gen. Sie wird heu­te Nacht von all dem träu­men, das weiß ich. Die gan­ze Rei­he der Er­eig­nis­se, das Schiff, das von ei­nem to­ten Mann ge­steu­ert in den Ha­fen lief; der Leich­nam, der mit Kru­zi­fix und Ro­sen­kranz in den Hän­den an das Steu­er­rad ge­fes­selt war; die rüh­ren­de Be­stat­tung; der halb wü­ten­de, halb er­schreck­te Hun­d… all das wird ihr Ma­te­ri­al für ihre Träu­me lie­fern.

Es wird, den­ke ich, das Bes­te für sie sein, wenn sie phy­sisch er­mü­det zu Bet­te geht. Ich wer­de des­halb einen lan­gen Spa­zier­gang nach den Klip­pen der Ro­bin Hood Bay und zu­rück mit ihr un­ter­neh­men. Sie wird dann kaum be­son­de­re Lust zum Schlaf­wan­deln emp­fin­den.

ACHTES KAPITEL

Mina Murrays Tagebuch

Am glei­chen Tage, 11 Uhr nachts.– O, wie bin ich müde! Wenn ich nicht eine Ver­pflich­tung ge­gen mein Ta­ge­buch fühl­te, wür­de ich es heu­te nicht mehr öff­nen. Wir mach­ten einen rei­zen­den Spa­zier­gang. Lucy war nach kur­z­er Zeit in bes­ter Lau­ne, die wir, glau­be ich, ei­ni­gen mun­te­ren Kü­hen zu ver­dan­ken hat­ten, die auf ei­nem klei­nen Feld in der Nähe des Leucht­tur­mes auf uns zu­ka­men, um uns zu be­schnup­pern, und uns in Angst und Schre­cken ver­setz­ten. Ich glau­be, wir ver­ga­ßen al­les, au­ßer na­tür­lich die per­sön­li­che Ge­fahr. Wir tran­ken dann einen vor­züg­li­chen Tee an Ro­bin Hoods Bay in ei­ner net­ten, klei­nen, alt­mo­di­schen Wirt­schaft, durch de­ren Bo­gen­fens­ter man ge­ra­de hin­un­ter sah auf die mit See­tang be­deck­ten Fel­sen des Stran­des. Wahr­schein­lich hät­ten wir »mo­der­ne Frau­en« mit un­se­rem Ap­pe­tit in Schre­cken ver­setzt. Die Män­ner sind in die­ser Be­zie­hung nach­sich­ti­ger. Gott seg­ne sie da­für! Dann gin­gen wir heim, in­dem wir ei­ni­ge, bes­ser ge­sagt vie­le Ru­he­pau­sen ein­leg­ten; im Her­zen tru­gen wir im­mer noch Furcht vor wild ge­wor­de­nen Stie­ren. Lucy war wirk­lich müde, und wir be­schlos­sen, so­bald als mög­lich ins Bett zu krie­chen. Es kam je­doch der jun­ge Herr Ku­rat, und Frau Wes­ten­raa lud ihn ein, zum Sou­per bei uns zu blei­ben; Lucy und ich hat­ten einen har­ten Kampf mit dem Sand­mann zu be­ste­hen. Ich glau­be, ich kämpf­te er­folg­rei­cher, denn ich bin eine sehr har­te Na­tur. Ich den­ke, die Bi­schö­fe wer­den ei­nes Ta­ges zu­sam­men­kom­men und dar­über be­ra­ten müs­sen, ob man nicht bes­se­re Ku­ra­ten ein­stel­len sol­le, die nicht sou­pie­ren, so sehr sie auch dazu ge­presst wer­den mö­gen, und die es mer­ken, wenn jun­ge Mäd­chen müde sind. Lucy schläft und at­met lei­se. Sie hat mehr Far­be in den Wan­gen und sieht so süß, ach so süß aus. Wenn sich Herr Holm­wood schon in sie ver­lieb­te, da er sie nur im Wohn­zim­mer sah, so möch­te ich wis­sen, was er jetzt täte, wenn er sie so sähe. Ei­ni­ge der »mo­der­nen Frau­en« wer­den ei­nes Ta­ges die For­de­rung auf­stel­len, dass es Mann und Frau er­laubt sein müs­se, sich erst ge­gen­sei­tig im Schla­fe zu se­hen, ehe man sich be­wer­be oder eine Be­wer­bung an­neh­me. Aber die »mo­der­nen Frau­en« wer­den wohl in Zu­kunft sich nicht mehr da­mit be­gnü­gen, eine Be­wer­bung an­zu­neh­men, son­dern sie wer­den selbst wer­ben wol­len. Das wird et­was Schö­nes wer­den! Ich bin so glück­lich heu­te Abend, weil die lie­be Lucy wie­der bes­ser aus­sieht. Ich glau­be wirk­lich, sie hat es jetzt über­wun­den und wir sind über die bö­sen Klip­pen ih­res Schlaf­wan­delns hin­weg. Ich wäre ganz glück­lich, wenn ich wüss­te, ob Jo­na­than… Gott seg­ne und be­hü­te ihn.

11, Au­gust, 3 Uhr mor­gens. – Wie­der zum Ta­ge­buch. Da ich nicht schla­fen kann, will ich schrei­ben. Ich bin zu er­regt, um schla­fen zu kön­nen. Wir hat­ten ein Aben­teu­er, ein Er­leb­nis, das mir töd­li­chen Schreck ein­jag­te. Ich schlief ein, so­bald ich mein Ta­ge­buch ge­schlos­sen hat­te… Plötz­lich wur­de ich völ­lig wach und sprang aus dem Bet­te mit ei­nem schreck­li­chen Ge­fühl der Angst und ei­ner Lee­re um mich her. Das Zim­mer war so dun­kel, dass ich Lu­cys Bett nicht se­hen konn­te; ich schlich mich hin­über und tas­te­te nach ihr; das Bett war leer. Ich mach­te Licht und be­merk­te, dass sie über­haupt nicht im Zim­mer war. Die Türe war zu, aber nicht ver­schlos­sen; ich hat­te dies doch ge­wis­sen­haft be­sorgt, ehe wir uns zur Ruhe leg­ten. Ihre Mut­ter woll­te ich nicht we­cken, da sie in letz­ter Zeit wie­der lei­den­der ist; so zog ich denn ei­ni­ge Klei­dungs­stücke an und mach­te mich auf die Su­che. Ehe ich das Zim­mer ver­ließ, kam ich auf die Idee, dass viel­leicht die Klei­der, die sie trug, mir einen An­halt für ihr Ver­schwin­den ge­ben könn­ten. Schlaf­rock wür­de be­deu­ten, dass sie sich im Hau­se, Stra­ßen­klei­der, dass sie sich au­ßer­halb be­fin­de. Schlaf­rock und Stra­ßen­kleid be­fan­den sich auf ih­ren ge­wöhn­li­chen Plät­zen. »Gott sei Dank«, sag­te ich mir, »weit kann sie nicht sein, da sie nur im Nacht­hemd ist.« Ich rann­te hin­un­ter und sah im Wohn­zim­mer nach. Nicht da! Dann such­te ich alle of­fe­nen Räu­me des Hau­ses ab, in­dem eine im­mer wach­sen­de Angst mir das Herz zu­sam­men­schnür­te. End­lich kam ich an das Hau­stor und fand es of­fen. Es war nicht weit of­fen, nur das Schloss war nicht ein­ge­schnappt. Die Haus­leu­te sind ängst­lich dar­auf be­dacht, das Hau­stor jede Nacht sorg­fäl­tig zu schlie­ßen, und so muss­te ich be­fürch­ten, dass Lucy fort­ge­gan­gen sei, so wie sie war. Ich hat­te kei­ne Zeit dar­an zu den­ken, was ge­sche­hen könn­te; ein schwe­res, er­drücken­des Angst­ge­fühl nahm mir alle Ur­teils­fä­hig­keit. Ich er­griff einen di­cken, war­men Shawl1 und rann­te da­von. Die Glo­cke schlug eben eins, als ich in The Cre­scent an­kam; kei­ne See­le war auf der Stra­ße. Ich eil­te die Nord­ter­ras­se ent­lang, fand aber kei­ne Spur der wei­ßen Ge­stalt, nach der ich such­te. Vom Ran­de der West­klip­pe, ge­ra­de über dem Pier, sah ich quer über den Ha­fen weg zur Ost­klip­pe hin­über, in der Hoff­nung oder Furcht, – was es war, weiß ich nicht – Lucy auf un­se­rem Lieb­lings­plätz­chen zu ent­de­cken. Der hel­le Voll­mond wur­de hin und wie­der durch schwe­re, trei­ben­de Wol­ken ver­hüllt, so­dass über der gan­zen Sze­ne ab­wech­selnd Licht und Schat­ten la­gen. Eine oder zwei Se­kun­den konn­te ich nichts se­hen, da ge­ra­de der Schat­ten ei­ner Wol­ke die Ma­ri­en­kir­che und al­les Um­lie­gen­de ver­dun­kel­te. Dann, als die Wol­ke vor­über­zog, kam die zer­fal­le­ne Ab­tei wie­der in Sicht. Als der mes­ser­schar­fe Rand ei­nes schma­len Licht­strei­fens über sie strich, wur­de die Kir­che mit dem Fried­hof nach und nach sicht­bar. Was ich auch er­war­tet ha­ben moch­te, mei­ne Er­war­tung wur­de nicht ent­täuscht, denn dort, auf un­se­rem Lieb­lings­sitz, sah ich eine vom Mond­licht hell be­schie­ne­ne, halb zu­rück­ge­lehn­te, schnee­wei­ße Ge­stalt. All­zu rasch nä­her­te sich wie­der ein Wol­ke, als dass ich viel hät­te se­hen kön­nen. So­fort um­hüll­te mich wie­der tie­fe Fins­ter­nis, aber ich hat­te den Ein­druck, als stän­de et­was Dunkles hin­ter dem Sitz, auf dem sich die wei­ße Ge­stalt be­fand, und beu­ge sich über sie; was es war, ob ein Mensch oder ein Tier, konn­te ich nicht er­ken­nen. Ich war­te­te gar nicht mehr ab, bis ich wie­der et­was se­hen konn­te, son­dern flog die Trep­pen hin­ab zum Pier und am Fisch­markt vor­bei zur Brücke, den ein­zi­gen Weg, auf dem von hier aus die Ost­klip­pe zu er­rei­chen war. Die Stadt lag da wie tot, kei­ne See­le mehr zu se­hen; es war mir ja lieb so, denn nie­mand soll­te et­was von Lu­cys Lei­den er­fah­ren. Die Zeit und die Ent­fer­nung schie­nen mir un­er­mess­lich lang; mei­ne Knie zit­ter­ten und mein Atem rang sich keu­chend aus mei­ner Brust, als ich die end­lo­sen Stu­fen zur Ab­tei hin­auf­sprang. Ich muss sehr rasch ge­lau­fen sein, den­noch kam es mir vor, als sei­en mei­ne Füße mit Blei aus­ge­gos­sen und mei­ne Ge­len­ke ein­ge­ros­tet. Als ich auf der Höhe an­ge­langt war, konn­te ich den Sitz und die wei­ße Ge­stalt dar­auf ge­nau er­ken­nen, denn ich war jetzt nahe ge­nug, um selbst im Dun­kel der Nacht al­les zu un­ter­schei­den. Es war of­fen­kun­dig, ir­gen­det­was beug­te sich lang und schwarz über die halb zu­rück­ge­lehn­te wei­ße Ge­stalt. In tiefs­ter See­le er­schreckt rief ich: Lucy! Lucy! und das Et­was hob den Kopf – ein blei­ches Ge­sicht mit rot glü­hen­den Au­gen wand­te sich mir zu. Lucy ant­wor­te­te mir nicht, und ich rann­te zur Fried­hoftü­re. Hier­durch schob sich die Kir­che zwi­schen mich und die Bank und ver­sperr­te mir auf ei­ni­ge Au­gen­bli­cke die Aus­sicht. Als ich sie wie­der se­hen konn­te, war die Wol­ke vor­über­ge­zo­gen und blen­den­der Mond­schein fiel auf sie, wie sie so da­saß, halb zu­rück­ge­lehnt, das Haupt über die Leh­ne der Bank zu­rück­ge­fal­len. Sie war ganz al­lein; weit und breit kei­ne Spur von ei­nem le­ben­den We­sen.

Als ich mich über sie beug­te, sah ich, dass sie noch schlief. Ihre Lip­pen wa­ren ge­öff­net und sie at­me­te – nicht sanft, wie sie es sonst tat, son­dern in lan­gen, has­ti­gen Zü­gen, als müs­se sie dar­um kämp­fen, ihre Lun­gen mit fri­scher Luft zu fül­len. Wie ich an sie her­an­trat, be­weg­te sie im Schlaf die Hand und zog den Kra­gen ih­res Nacht­hem­des fes­ter um die Keh­le zu. Es über­lief sie da­bei ein leich­ter Schau­der, als ob sie Käl­te emp­fin­de. Ich schlug den war­men Shawl um sie und zog die Ecken fest um ih­ren Hals zu­sam­men, denn ich fürch­te­te, sie kön­ne sich eine töd­li­che Krank­heit zu­zie­hen, un­be­klei­det wie sie war… Ich zö­ger­te aber noch, sie zu we­cken und be­fes­tig­te, um mei­ne Hän­de zu ei­ner al­len­fall­si­gen Hil­fe­leis­tung frei­zu­be­kom­men, den Shawl mit ei­ner großen Si­cher­heits­na­del. Ich muss aber in mei­ner Angst un­ge­schickt ge­we­sen sein und sie am Hal­se ge­ris­sen oder ge­sto­chen ha­ben; denn als ihr Atem all­mäh­lich wie­der ru­hi­ger zu wer­den be­gann, leg­te sie öf­ter ihre Hand an die Keh­le und stöhn­te. Nach­dem ich sie sorg­fäl­tig ein­ge­wi­ckelt hat­te, zog ich ihr noch mei­ne Schu­he an die Füße und ver­such­te sie scho­nend zu we­cken. Erst rea­gier­te sie gar nicht, aber all­mäh­lich wur­de ihr Schlaf doch we­ni­ger fest und sie seufz­te und stöhn­te von Zeit zu Zeit. Schließ­lich aber, als es mir doch zu lan­ge dau­er­te und da es mir dar­um zu tun war, sie mög­lichst rasch nach Hau­se zu brin­gen, schüt­tel­te ich sie hef­tig, wor­auf sie die Au­gen öff­ne­te und er­wach­te. Sie schi­en gar nicht über­rascht, mich zu se­hen, wie sie über­haupt ohne Zwei­fel sich nicht gleich klar dar­über war, wo sie sich ei­gent­lich be­fand. Lucy ist im­mer hübsch, auch beim Er­wa­chen; und so­gar jetzt, wo doch ihr Leib von der Käl­te ge­schüt­telt wur­de und sie dar­über ent­setzt sein muss­te, mit­ten in der Nacht un­be­klei­det auf ei­nem Fried­hof zu er­wa­chen, ver­lor sie ihre Gra­zie nicht. Sie zit­ter­te ein we­nig und klam­mer­te sich an mich; als ich ihr sag­te, sie müs­se jetzt so­fort mit mir heim­ge­hen, stand sie mit dem Ge­hor­sam ei­nes Kin­des auf, ohne ein Wort zu sa­gen. Als wir weg­gin­gen, stieß ich mit dem nack­ten Fuße an einen Stein und Lucy hör­te mei­nen lei­sen Schmer­zens­ruf. Sie blieb ste­hen und be­stand dar­auf, ich soll­te mei­ne Schu­he an­zie­hen, aber ich tat es nicht. Da­ge­gen be­strich ich, als wir auf den Fuß­weg au­ßer­halb des Fried­hofs ka­men, wo noch von dem Un­wet­ter her eine Re­gen­pfüt­ze sich be­fand, mei­ne Füße mit Schmutz, da­mit nicht je­mand, der uns etwa auf dem Heim­weg be­geg­nen könn­te, im­stan­de wäre zu er­ken­nen, dass ich mit nack­ten Fü­ßen ging.

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