Loe raamatut: «Dracula», lehekülg 3

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ZWEITES KAPITEL

Jonathan Harkers Tagebuch

(Fort­set­zung)

5. Mai – Ich muss ge­schla­fen ha­ben; denn wenn ich wach ge­we­sen wäre, müss­te es mir doch auf­ge­fal­len sein, dass wir uns ei­nem so selt­sa­men Plat­ze nä­her­ten. In der Dun­kel­heit schi­en der Schloss­hof von be­trächt­li­cher Grö­ße; dass meh­re­re Wege von ihm aus un­ter mäch­ti­ge run­de Tor­we­ge führ­ten, ließ ihn viel­leicht noch grö­ßer er­schei­nen, als er wirk­lich war. Ich habe ihn bis heu­te noch nicht bei Tage ge­se­hen.

Als der Wa­gen hielt, stieg der Kut­scher ab und reich­te mir die Hand, um mir beim Aus­s­tei­gen be­hilf­lich zu sein. Ich muss­te wie­der­um die Stär­ke be­wun­dern, die in die­ser Hand lag; sie schi­en wie eine Stahl­zan­ge, die mei­ne Hand leicht zer­drückt hät­te, wenn der Be­sit­zer woll­te. Dann nahm er mei­ne Kof­fer her­aus und stell­te sie ne­ben mich auf den Bo­den. Ich be­fand mich vor ei­nem großen, al­ten Tore, das mit Ei­sen be­schla­gen und in einen stark aus­la­den­den Tor­bo­gen von mas­si­vem Stein ein­ge­las­sen war. Ich konn­te bei dem zwei­fel­haf­ten Lich­te er­ken­nen, dass der Stein roh be­hau­en war, dass aber die Ver­zie­run­gen von Zeit und Wet­ter schon stark ge­lit­ten hat­ten. Als al­les aus­ge­la­den war, schwang sich der Kut­scher wie­der auf den Bock, zog die Zü­gel an und ver­schwand dann mit Wa­gen und Pfer­den in ei­nem der mäch­ti­gen schwar­zen Tor­bo­gen.

Ich blieb schwei­gend auf mei­nem Plat­ze ste­hen, denn ich wuss­te nicht, was tun. Von Glo­cke oder Klop­fer kei­ne Spur; durch die­se dro­hen­den Mau­ern und dunklen Fenster­höh­len hät­te auch mei­ne Stim­me kei­nen Ein­gang ge­fun­den. Die Zeit, die ich zum War­ten ver­ur­teilt war, schi­en mir end­los und ich merk­te, wie Furcht und Zwei­fel in mir auf­stie­gen. Wo­hin war ich ge­ra­ten und un­ter was für Leu­te? Auf wel­ches un­heim­li­che Aben­teu­er hat­te ich mich da ein­ge­las­sen? War das ein nor­ma­ler Fall im Le­ben ei­nes An­walt­schrei­bers, der hin­aus­ge­schickt wur­de, um über den An­kauf ei­nes Lon­do­ner Grund­be­sit­zes durch einen Frem­den mit die­sem zu un­ter­han­deln? Üb­ri­gens »An­walt­schrei­ber« – Mina hört das nicht ger­ne. Aber An­walt! – denn eben als ich Lon­don ver­las­sen woll­te, hat­te ich noch in Er­fah­rung ge­bracht, dass ich mein Ex­amen be­stan­den hat­te; ich bin also nun wohl­be­stall­ter An­walt. Ich be­gann mei­ne Au­gen zu rei­ben und mich selbst zu knei­fen, um zu se­hen, ob ich denn wirk­lich wach wäre. Es schi­en mir al­les wie ein häss­li­cher Traum und ich er­war­te­te, plötz­lich auf­zu­wa­chen und zu Hau­se zu lie­gen und durch die Fens­ter in den fah­len Schein des Mor­gens zu star­ren, wie es mir manch­mal in Zu­stän­den der Über­ar­bei­tung pas­siert war. Aber mein Fleisch emp­fand den knei­fen­den Schmerz und mei­ne Au­gen sa­hen klar. Ich war also wirk­lich wach und mit­ten in den Kar­pa­ten. Al­les, was mir zu tun üb­rig blieb, war, mich zu ge­dul­den und den An­bruch des Ta­ges zu er­war­ten.

Als ich eben zu die­sem Ent­schlus­se ge­langt war, hör­te ich einen schwe­ren Schritt in­ner­halb des To­res und sah durch die Rit­zen ein Licht sich nä­hern. Dann ver­nahm ich das Ras­seln von Ket­ten und das Dröh­nen mas­si­ver Tür­rie­gel, die zu­rück­ge­scho­ben wur­den. Ein Schlüs­sel dreh­te sich laut krei­schend in dem schein­bar sel­ten be­nut­zen Schlüs­sel­loch, und das große Tor ging auf.

In­ner­halb des­sel­ben stand ein hoch­ge­wach­se­ner al­ter Mann, glatt ra­siert, mit ei­nem lan­gen wei­ßen Schnurr­bart und schwarz ge­klei­det vom Kopf bis zu den Fü­ßen; kein hel­ler Fleck war an ihm zu se­hen. In der Hand hielt er eine al­ter­tüm­li­che sil­ber­ne Lam­pe, auf der ohne Zy­lin­der oder Schirm eine Flam­me brann­te, sie warf lan­ge, zit­tern­de Schat­ten in der Zug­luft des of­fe­nen To­res. Der alte Mann lud mich durch eine ver­bind­li­che Ges­te mit der Rech­ten ein, nä­her zu tre­ten und sag­te in vor­züg­li­chem Eng­lisch, aber mit ei­nem fremd­ar­ti­gen Ak­zent:

»Will­kom­men hier in mei­nem Hau­se! Tre­ten Sie frei und frei­wil­lig her­ein!« Er mach­te kei­ne Be­we­gung, um mir ent­ge­gen­zu­ge­hen, son­dern stand starr wie eine Sta­tue, als hät­te ihn sein Will­kom­mens­gruß in Stein ver­wan­delt. In dem Au­gen­blick aber, da ich die Schwel­le über­schrit­ten hat­te, trat er rasch auf mich zu, er­griff mei­ne Hand und drück­te sie der­ma­ßen, dass ich zu­sam­men­zuck­te; da­bei war die Hand so kalt wie Eis, mehr wie die ei­nes To­ten als ei­nes Le­ben­den. Dann sag­te er:

»Will­kom­men in mei­nem Hau­se. Kom­men Sie frei her­ein. Ge­hen Sie ge­sund wie­der und las­sen Sie et­was von der Freu­de zu­rück, die Sie mit her­ein­ge­bracht ha­ben!« Die Stär­ke des Hand­druckes er­in­ner­te mich der­ma­ßen an den ei­ser­nen Griff des Kut­schers, des­sen Ge­sicht ich ja nicht ge­se­hen hat­te, dass ich einen Mo­ment glaub­te, er und der Mann, mit dem ich jetzt sprach, sei­en ein und die­sel­be Per­son; ich frag­te also, um si­cher zu ge­hen: »Graf Dra­cu­la?« Er ver­beug­te sich höf­lich und er­wi­der­te:

»Ich bin Dra­cu­la und be­grü­ße Sie, Herr Har­ker, in mei­nem Hau­se. Kom­men Sie her­ein, Sie be­dür­fen des Es­sens und der Ruhe, die Nacht­luft ist recht kühl.« Wäh­rend er so sprach, stell­te er die Lam­pe auf eine klei­ne Kon­so­le an der Wand und nahm mein Ge­päck; er hat­te es her­ein­ge­tra­gen, noch ehe ich ihn dar­an hin­dern konn­te. Ich er­hob Ein­spruch, er aber sag­te ent­schie­den:

»Bit­te, Sie sind mein Gast. Es ist schon spät und mei­ne Die­ner­schaft ist nicht mehr ver­füg­bar. Las­sen Sie also mich für Ihre Be­quem­lich­keit sor­gen.« Er trug tat­säch­lich mei­ne Kof­fer durch den Tor­weg, dann eine stei­le Wen­del­trep­pe hin­auf, schließ­lich durch einen lan­gen Kor­ri­dor, auf des­sen Stein­flie­sen un­se­re Schrit­te dumpf wi­der­hall­ten. Am Ende die­ses Kor­ri­dors öff­ne­te er eine schwe­re Türe, und ich sah auf ein hel­ler­leuch­te­tes Zim­mer, in dem ein ge­deck­ter Tisch zum Abend­brot be­reit stand, wäh­rend in dem mäch­ti­gen Ka­min ein großes Holz­feu­er flamm­te und knis­ter­te. Der Graf blieb ste­hen, stell­te mein Ge­päck nie­der und zog die Türe hin­ter sich zu; dann schritt er durch das Zim­mer, öff­ne­te eine zwei­te Türe, die in ein klei­nes acht­e­cki­ges, schein­bar fens­ter­lo­ses Ge­mach führ­te, das nur von ei­ner ein­zel­nen Lam­pe er­leuch­tet wur­de. Jen­seits des­sel­ben öff­ne­te er eine wei­te­re Tür und bat mich ein­zu­tre­ten. Es bot sich mir ein will­kom­me­ner An­blick: ein großes, gut er­leuch­te­tes Schlaf­zim­mer, das von ei­nem um­fang­rei­chen Ka­min, in dem eben­falls ein Holz­feu­er laut pras­selnd brann­te, an­ge­nehm durch­wärmt wur­de. Der Graf brach­te mein Ge­päck und sag­te, die Türe zu­zie­hend: »Sie wer­den nach Ih­rer Rei­se sich wa­schen und Toi­let­te ma­chen wol­len. Ich den­ke, Sie fin­den al­les nach Wunsch. Wenn Sie fer­tig sind, dann kom­men Sie bit­te in das an­de­re Zim­mer, wo das Abend­brot Ih­rer war­tet.«

Das Licht, die Wär­me und des Gra­fen herz­li­cher Will­kom­mens­gruß hat­ten alle mei­ne Zwei­fel und Be­fürch­tun­gen zer­streut. Nach­dem ich so wie­der mei­ne nor­ma­le geis­ti­ge Ver­fas­sung er­langt hat­te, fühl­te ich einen quä­len­den Hun­ger. Schnell mach­te ich mich zu­recht und ging in das an­de­re Zim­mer.

Das Sou­per war schon an­ge­rich­tet. Mein Gast­freund stand an ei­ner Sei­te des Ka­mins, an das Stein­ge­sims ge­lehnt, und lud mich mit ei­ner ver­bind­li­chen Hand­be­we­gung ein, Platz zu neh­men.

»Ich bit­te, set­zen Sie sich und es­sen Sie, wie es Ih­nen passt. Sie wer­den es mir nicht ver­übeln, wenn ich mich nicht be­tei­li­ge, denn di­niert habe ich schon und zu sou­pie­ren bin ich nicht ge­wöhnt.«

Ich hän­dig­te dem Gra­fen den ver­sie­gel­ten Brief ein, den Herr Hawkins mir für ihn über­ge­ben hat­te. Er öff­ne­te ihn und las ihn mit erns­ter Mie­ne durch; dann gab er mir ihn mit freund­li­chem Lä­cheln zu­rück. Be­son­ders eine Stel­le aus dem Brie­fe be­rei­te­te mir be­son­de­re Freu­de:

Ich be­dau­re sehr, dass ein An­fall von Gicht, mit wel­cher ich ja schon im­mer zu schaf­fen hat­te, mir un­be­dingt ver­bot, eine grö­ße­re Rei­se zu ma­chen und Sie zu be­su­chen. Aber es macht mir Freu­de, Ih­nen einen Stell­ver­tre­ter sen­den zu kön­nen, der mein weit­ge­hends­tes Ver­trau­en be­sitzt. Er ist ein jun­ger Mann, ener­gisch, ta­len­tiert und durch­aus zu­ver­läs­sig. Er ist in mei­nen Diens­ten auf­ge­wach­sen und sehr dis­kret. Er steht je­der­zeit wäh­rend sei­nes Auf­ent­hal­tes zu Ih­rer Ver­fü­gung und ist er­mäch­tigt, Auf­trä­ge je­der Art von Ih­nen ent­ge­gen­zu­neh­men.

Der Graf trat selbst an den Tisch her­an und hob den De­ckel von ei­ner Ter­ri­ne, in der ein präch­ti­ges ge­bra­te­nes Huhn lag. Die­ses, mit et­was Käse und Salat, so­wie eine Fla­sche al­ter To­kai­er,1 von dem ich zwei Glä­ser trank, bil­de­ten mein Abend­brot. Wäh­rend ich aß, er­kun­dig­te sich der Graf über mei­ne Rei­se, und ich er­zähl­te ihm der Rei­he nach alle mei­ne Er­leb­nis­se.

Un­ter­des­sen hat­te ich die Mahl­zeit be­en­det und auf Wunsch des Haus­herrn einen Stuhl ans Feu­er ge­zo­gen. Ich zün­de­te mir eine Zi­gar­re an, die er mit an­bot, in­dem er sich zu­gleich ent­schul­dig­te, da er selbst Nicht­rau­cher sei. Ich fand nun Ge­le­gen­heit, ihn et­was zu be­ob­ach­ten und, ich muss sa­gen, er be­sitzt eine sehr aus­drucks­vol­le Phy­sio­gno­mie.2

Sein Ge­sicht war ziem­lich – ei­gent­lich so­gar sehr – raub­vo­gel­ar­tig; ein schma­ler, scharf ge­bo­ge­ner Na­sen­rücken und auf­fal­lend ge­form­te Nüs­tern. Die Stirn war hoch und ge­wölbt, das Haar an den Schlä­fen dünn, im üb­ri­gen aber voll. Die Au­gen­brau­en wa­ren dicht und wuch­sen über die Nase zu­sam­men; sie wa­ren sehr bu­schig und in merk­wür­di­ger Wei­se ge­kräu­selt. Sein Mund, so weit ich ihn un­ter dem star­ken Schnurr­bart se­hen konn­te, sah hart und ziem­lich grau­sam aus; die Zäh­ne wa­ren scharf und weiß und rag­ten über die Lip­pen vor, de­ren auf­fal­len­de Röte eine er­staun­li­che Le­bens­kraft für einen Mann in die­sen Jah­ren be­kun­de­ten. Die Au­gen wa­ren farb­los, das Kinn breit und fest, die Wan­gen schmal, aber noch straff. Der all­ge­mei­ne Ein­druck war der ei­ner au­ßer­or­dent­li­chen Bläs­se.

Im Schei­ne des Ka­min­feu­ers hat­te ich auch sei­ne Hän­de be­merkt, die auf sei­nen Kni­en la­gen; ich hielt sie für ziem­lich zart und schmal. Nun, da ich sie in der Nähe sah, be­merk­te ich, dass sie sehr grob aus­sa­hen, – breit, mit ecki­gen Fin­gern. Selt­sa­mer­wei­se wuch­sen ihm Haa­re auf der Hand­flä­che. Die Nä­gel wa­ren lang und dünn, zu na­del­schar­fen Spit­zen ge­schnit­ten. Als der Graf sich ein­mal über mich neig­te und die­se Hän­de mich be­rühr­ten, konn­te ich mich ei­nes Grau­ens nicht er­weh­ren. Mög­li­cher­wei­se war auch sein Atem un­rein, denn es über­kam mich ein Ge­fühl der Übel­keit, das ich mit al­ler Wil­lens­kraft nicht zu ver­ber­gen ver­moch­te. Der Graf be­merk­te dies schein­bar und zog sich zu­rück; mit ei­nem grim­mi­gen Lä­cheln, das sei­ne Zäh­ne noch mehr her­vor­tre­ten ließ, nahm er wie­der sei­nen Platz am Ka­min ein. Wir schwie­gen eine Wei­le, und als ich ge­gen das Fens­ter sah, be­merk­te ich die ers­ten lei­sen An­zei­chen des kom­men­den Ta­ges. Es lag eine be­ängs­ti­gen­de Stil­le über al­lem; doch als ich schär­fer auf­horch­te, war es mir, als ver­näh­me ich tief un­ten in den Tä­lern das Bel­len vie­ler Wöl­fe. Mit fun­keln­den Au­gen sag­te der Graf:

»Hö­ren Sie die Kin­der der Nacht? Was für Mu­sik sie ma­chen!« Es moch­te ihm in mei­nem Ge­sichts­aus­druck et­was auf­ge­fal­len sein, denn er füg­te rasch hin­zu:

»Ja, mein Herr, ihr Stadt­be­woh­ner seid eben nicht im­stan­de, ei­nem Jä­ger nach­zu­füh­len.«

Dann stand er auf und sag­te:

»Üb­ri­gens wer­den Sie müde sein. Ihr Bett ist be­reit, und mor­gen kön­nen Sie nach Be­lie­ben aus­schla­fen. Ich habe bis Abend aus­wärts zu tun; schla­fen Sie also wohl und träu­men Sie gut.« Mit ei­ner höf­li­chen Ver­beu­gung öff­ne­te er mir die Türe zu dem acht­e­cki­gen Zim­mer und ich trat in mein Schlaf­ge­mach.

Ein Meer ge­misch­ter Ge­füh­le um­bran­de­te mich; ich zweifle; ich fürch­te; ich den­ke an selt­sa­me Din­ge, die ich mei­ner ei­ge­nen See­le gar nicht ein­zu­ge­ste­hen wage. Gott schüt­ze mich, und sei es auch nur um de­rer wil­len, die mir teu­er sind.

7. Mai. – Es ist wie­der frü­her Mor­gen, aber ich habe die letz­ten vier­und­zwan­zig Stun­den we­nigs­tens aus­ge­ruht und mir wohl sein las­sen. Ich schlief dann noch bis spät in den Tag hin­ein und er­wach­te von selbst. Als ich mich an­ge­klei­det hat­te, be­gab ich mich in das Zim­mer, wo ich zu Abend ge­ges­sen, und fand ein kal­tes Früh­stück be­reit; der Kaf­fee war in ei­ner Kan­ne auf dem Ka­min heiß ge­stellt. Auf dem Ti­sche lag ein Kärt­chen, auf dem die Wor­te stan­den »Ich muss lei­der noch ei­ni­ge Zeit fern blei­ben. War­ten Sie nicht auf mich. D.« So setz­te ich mich denn hin und ließ mir die Mahl­zeit mun­den. Als ich fer­tig war, such­te ich nach ei­ner Glo­cke, um von der Die­ner­schaft ab­räu­men zu las­sen; nir­gends konn­te ich et­was der­glei­chen ent­de­cken. Das war al­ler­dings merk­wür­dig in ei­nem sol­chen Hau­se, das nach al­lem, was mich um­gab, den Ein­druck des größ­ten Reich­tums er­weck­te. Das Ta­fel­ser­vice ist von Gold und so wun­der­schön ge­ar­bei­tet, dass es einen ge­ra­de­zu un­er­mess­li­chen Wert be­sit­zen muss. Die Por­tie­ren, die Be­zü­ge der Stüh­le und So­fas, die Vor­hän­ge mei­nes Bet­tes wa­ren aus den kost­bars­ten Stof­fen und müs­sen schon in der Zeit, wo sie an­ge­fer­tigt wur­den, einen im­men­sen Preis ge­kos­tet ha­ben. Sie sind Jahr­hun­der­te alt, da­bei vor­züg­lich ge­hal­ten.

Ich habe sol­che Din­ge ja auch in Hamp­ton Court3 ge­se­hen, aber da wa­ren sie zer­ris­sen und ab­ge­nützt und von den Mot­ten an­ge­fres­sen. In kei­nem der Zim­mer ist ein Spie­gel. Nicht ein­mal ein Toi­let­te­spie­gel über mei­nem Wasch­tisch, so­dass ich mei­nen klei­nen Hand­spie­gel aus dem Kof­fer neh­men muss­te, um mich über­haupt ra­sie­ren und fri­sie­ren zu kön­nen. Ich habe bis­her we­der einen dienst­ba­ren Geist ge­se­hen, noch einen Laut ge­hört, au­ßer dem Heu­len der Wöl­fe um das Schloss. Nach Been­di­gung mei­ner Mahl­zeit – ich weiß nicht, soll ich sie Früh­stück oder Di­ner nen­nen, denn es war zwi­schen fünf und sechs Uhr, als ich sie ein­nahm – sah ich mich nach Lek­tü­re um, denn ich woll­te ohne Ein­ver­ständ­nis des Gra­fen doch das Schloss nicht ver­las­sen. Bü­cher, Zei­tun­gen, so­gar Schreib­zeug fehl­ten in die­sem Zim­mer; ich öff­ne­te des­halb eine Türe und be­fand mich in ei­ner Art Biblio­thek. Die Tür ge­gen­über der zu mei­nem Schlaf­zim­mer woll­te ich auch öff­nen, fand sie aber ver­schlos­sen.

In der Biblio­thek ent­deck­te ich zu mei­ner größ­ten Freu­de eine rei­che Aus­wahl eng­li­scher Bü­cher, gan­ze Schrän­ke voll, und ge­bun­de­ne Jahr­gän­ge von Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten. Lose Exem­pla­re la­gen auf dem Ti­sche in der Mit­te des Rau­mes, kei­nes aber war von neu­e­rem Da­tum. Die Bü­cher hat­ten den man­nig­fal­tigs­ten In­halt – Ge­schich­te, Geo­gra­fie, Po­li­tik, Na­tio­nal­öko­no­mie, Bo­ta­nik, Geo­lo­gie, Rechts­pfle­ge – al­les über Eng­land, über eng­li­sches Le­ben, über eng­li­sche Sit­ten und Ge­bräu­che. So­gar Nach­schla­ge­wer­ke wa­ren vor­han­den, wie das Adress­buch von Lon­don, das »Rote« und das »Blaue« Buch, Witha­kers Al­ma­nach, die Ar­mee- und Ma­ri­ne- und – mein Herz lach­te da­bei – die Ju­ris­ten­ranglis­te.

Wäh­rend ich so in den Bü­chern her­um­stö­ber­te, öff­ne­te sich plötz­lich die Türe und der Graf trat ein. Er be­grüß­te mich herz­lich und er­kun­dig­te sich, wie ich ge­schla­fen hät­te. Dann fuhr er fort:

»Es freut mich, dass Sie sich hier her­ein ge­fun­den ha­ben, denn ich bin si­cher, dass Sie viel des In­ter­essan­ten vor­fin­den wer­den. Die­se Freun­de hier« – er leg­te die Hand auf ei­nes der Bü­cher – »sind mir wirk­lich gute Freun­de ge­wor­den; sie ha­ben mir schon seit Jah­ren, lan­ge ehe ich den Ent­schluss fass­te nach Eng­land zu ge­hen, vie­le, vie­le fro­he Stun­den be­rei­tet. Durch sie habe ich ihr großes, schö­nes Eng­land ken­nen­ge­lernt, und es ken­nen, heißt es lie­ben. Ich seh­ne mich da­nach, in den dicht­be­leb­ten Stra­ßen Ihres un­ge­heue­ren Lon­don zu pro­me­nie­ren, mit­ten in dem Ge­trie­be und Ge­wüh­le der Men­schen, teil­zu­neh­men an ih­rem Le­ben, ih­ren Schick­sa­len, ih­rem Ster­ben und an all dem, was eben Lon­don zu dem macht, was es ist. Aber lei­der ken­ne ich Ihre Spra­che nur aus Bü­chern. Sie, mein Freund, wer­den na­tür­lich sa­gen, ich spre­che sie.«

»Aber, Graf«, rief ich aus, »Sie ken­nen und be­herr­schen das Eng­li­sche durch­aus.« Er ver­beug­te sich mit erns­ter Mie­ne.

»Ich dan­ke Ih­nen, mein Freund, für Ihre schmei­chel­haf­te Aner­ken­nung; aber ich fürch­te trotz­dem, dass ich erst ein klei­nes Stück auf dem Wege vor­ge­schrit­ten bin, den ich ganz zu­rück­zu­le­gen ge­den­ke. Es ist ja rich­tig, ich ken­ne die Gram­ma­tik und die Wör­ter, aber ich weiß sie doch nicht zu ver­wen­den.«

»Aber«, wie­der­hol­te ich, »Sie spre­chen aus­ge­zeich­net.«

»Nein, nein«, ent­geg­ne­te er, »Ich weiß wohl, dass, wenn ich in Ihrem Lon­don lebe und spre­che, es kei­nen gibt, der mir nicht so­fort den Frem­den an­merkt. Das ist mir nicht ge­nug. Hier bin ich ein Ade­li­ger, ein Boyar;4 das Volk kennt mich, und ich bin sein Herr. Aber als Frem­der im frem­den Lan­de ist man gar nichts, nie­mand kennt mich, und einen nicht ken­nen, heißt sich nicht um ihn küm­mern. Ich will mich in nichts von den an­de­ren un­ter­schei­den und nicht ha­ben, dass je­mand ste­hen bleibt, wenn er mich sieht, oder sei­ne Rede einen Mo­ment un­ter­bricht, wenn er mich spre­chen hört, und sagt: Aha, ein Frem­der. Ich bin so­lan­ge Herr ge­we­sen, dass ich auch Herr blei­ben will, we­nigs­tens will ich nicht, dass je­mand Herr über mich ist. Sie kom­men zu mir nicht al­lein als Ge­schäfts­trä­ger mei­nes Freun­des Pe­ter Hawkins in Exe­ter, um mir zu be­rich­ten, dass mei­ne Ge­schäf­te in Lon­don so oder so ste­hen. Sie wer­den hof­fent­lich eine Zeit lang hier­blei­ben, da­mit ich durch das Spre­chen mit Ih­nen den eng­li­schen Ak­zent er­ler­ne; und ich bit­te Sie, es mir zu sa­gen, wenn ich einen Feh­ler ma­che, und sei es der kleins­te. Es tut mir leid, dass ich heu­te so lan­ge weg­blei­ben muss­te; aber Sie wer­den es mir ver­zei­hen, wenn ich Ih­nen sage, dass eine Men­ge wich­ti­ger Ge­schäf­te auf mir las­tet.«

Ich ver­si­cher­te ihm, dass ich ger­ne al­les tun wer­de, was in mei­nen Kräf­ten stün­de, und frag­te ihn, ob ich die­ses Zim­mer je­der­zeit be­tre­ten dür­fe, wenn es mir be­lie­be. »Ja, ge­wiss«, sag­te er und füg­te hin­zu:

»Sie kön­nen im Schloss hin­ge­hen, wo Sie wol­len, au­ßer da­hin, wo die Tü­ren ver­schlos­sen sind; da­hin wer­den Sie ja üb­ri­gens auch gar nicht wol­len. Es hat sei­ne Grün­de, dass die Din­ge nun ein­mal so sind; und sä­hen Sie mit mei­nen Au­gen und hät­ten Sie mei­ne Er­fah­run­gen, so wür­den Sie mich noch leich­ter be­grei­fen.« Ich er­wi­der­te ihm, dass das ja ganz selbst­ver­ständ­lich sei, und er fuhr fort:

»Wir sind hier in Trans­syl­va­ni­en, und Trans­syl­va­ni­en ist nicht Eng­land. Un­se­re Wege sind nicht die Ih­ri­gen und man­ches möch­te Ih­nen son­der­bar er­schei­nen. Nach al­lem, was Sie ge­hört ha­ben, wis­sen Sie ja oh­ne­hin, dass sich hier selt­sa­me Din­ge er­eig­nen.«

Dies führ­te zu ei­ner aus­ge­dehn­ten Kon­ver­sa­ti­on, und da ich be­merk­te, dass er ger­ne plau­de­re, und sei es nur um des Plau­derns wil­len, so frag­te ich ihn vie­les über die Din­ge, die ich bis­her ge­se­hen oder sonst wie er­fah­ren hat­te. Zu­wei­len lenk­te er das Ge­spräch ab oder un­ter­brach es, an­geb­lich weil er nicht ge­nau ver­stan­den habe, im All­ge­mei­nen aber ant­wor­te­te er mir of­fen auf alle ge­stell­ten Fra­gen. Als dann die Zeit vor­rück­te und ich et­was küh­ner wur­de, frag­te ich ihn über ei­ni­ge der ku­rio­sen Din­ge der ver­gan­ge­nen Nacht, so u.a., warum der Kut­scher den blau­en Flämm­chen nach­ge­gan­gen sei. Ob es wirk­lich wahr wäre, dass die­se Flämm­chen ver­gra­be­ne Schät­ze an­zeig­ten? Er er­klär­te mir, dass all­ge­mein der Glau­be ver­brei­tet sei, dass in ei­ner be­stimm­ten Nacht des Jah­res – tat­säch­lich war es ge­ra­de die letz­te Nacht, in der alle bö­sen Geis­ter freie Bahn ha­ben soll­ten – blaue Flam­men sich an den Plät­zen zei­gen, wo ein ver­bor­ge­ner Schatz lie­ge.

»Sol­che Schät­ze lie­gen ver­gra­ben«, fuhr er fort, »be­züg­lich der Ge­gend, durch die Sie ver­gan­ge­ne Nacht ka­men, habe ich so­gar nicht den ge­rings­ten Zwei­fel; denn es ist der Bo­den, auf dem Jahr­hun­der­te lang Wal­la­chen, Sach­sen und Tür­ken kämpf­ten. Nun, da ist schwer­lich auch nur ein Fuß­breit Erde, der nicht Men­schen­blut ge­trun­ken hat, von Freund und Feind. Das wa­ren böse Zei­ten, als die Hor­den der Ös­ter­rei­cher und Un­garn sen­gend her­an ka­men und die Ein­ge­bo­re­nen sich ih­nen ent­ge­gen­stell­ten Män­ner und Frau­en, Grei­se und Kin­der – und ih­nen in den Fel­späs­sen auf­lau­er­ten, um durch künst­li­che La­wi­nen das Ver­der­ben in die Mas­sen der Fein­de zu tra­gen. Wenn dann der Ein­dring­ling den­noch Herr wur­de, so fand er nichts mehr vor; denn was man be­saß, hat­te man der hei­mi­schen Schol­le an­ver­traut.«

»Aber«, sag­te ich, »wie kommt es denn, dass sie so lan­ge nicht ge­ho­ben wur­den, wenn doch si­che­re An­zei­chen vor­han­den sind und man sich nur die klei­ne Mühe zu ma­chen hät­te, den Schät­zen nach­zu­gra­ben?« Der Graf lä­chel­te; da­bei zo­gen sich sei­ne Ober­lip­pen ei­gen­tüm­lich über das Zahn­fleisch zu­rück, dass die lan­gen, schar­fen Hun­de­zäh­ne her­vor­tra­ten. Er ant­wor­te­te:

»Weil un­se­re Bau­ern fei­ge und dumm sind. Die­se Flämm­chen er­schei­nen doch nur in ei­ner ein­zi­gen Nacht, und in die­ser Nacht geht nie­mand, der nicht muss, aus sei­nem Hau­se. Selbst wenn er es wag­te, es wür­de doch zu nichts füh­ren. Und an­ge­nom­men, er merkt sich die Plät­ze, wo er Lich­ter sieht; am nächs­ten Tage hat er nicht mehr den ge­rings­ten An­halts­punkt, um sein Werk zu be­gin­nen. Ich ge­traue mir zu schwö­ren, dass auch Sie kei­nen der Plät­ze mehr fin­den wür­den.«

»Da ha­ben Sie ganz recht«, sag­te ich dar­auf, »nur die To­ten könn­ten uns sa­gen, wo nach den Schät­zen zu gra­ben wäre.« So­gleich schlug er ein an­de­res The­ma an.

»Bit­te«, sag­te er, »er­zäh­len Sie mir von Lon­don und dem Haus, das Sie für mich aus­ge­sucht ha­ben.« Ich ent­schul­dig­te mich einen Au­gen­blick und be­gab mich in mein Zim­mer, um die nö­ti­gen Pa­pie­re aus mei­nem Kof­fer zu ho­len. Wäh­rend ich die­se et­was in Ord­nung brach­te, hör­te ich aus dem Spei­se­zim­mer das Klap­pern von Por­zel­lan und Sil­ber, und als ich zu­rück­kam, war der Tisch ab­ge­räumt und die Lam­pe an­ge­zün­det, es dun­kel­te schon stark. Auch im Biblio­theks­zim­mer wa­ren die Lam­pen an­ge­zün­det und der Graf lag auf dem Sofa, wo­bei er Brads­haws Kurs­buch von Eng­land durch­blät­ter­te. Als ich her­ein­trat, räum­te er die Bü­cher und Zei­tun­gen vom Tisch und ver­tief­te sich dann mit mir in Plä­ne, Ur­kun­den und Zah­len al­ler Art. Er in­ter­es­sier­te sich für al­les und stell­te mir Hun­der­te von Fra­gen über das Grund­stück und sei­ne Um­ge­bung. Er hat­te, wie es mir schi­en, be­reits vor­her al­les sorg­fäl­tig stu­diert, was er über die Nach­bar­schaft in Er­fah­rung brin­gen konn­te, denn er wuss­te ei­gent­lich mehr als ich. Als ich ihm mein Er­stau­nen dar­über zum Aus­druck brach­te, sag­te er:

»Al­ler­dings, mein Bes­ter, aber muss­te ich das nicht? Wenn ich dort­hin kom­me, bin ich al­lein und mein Freund Har­ker Jo­na­than – ver­zei­hen Sie, ich habe nach der Ge­wohn­heit mei­ner Spra­che den Fa­mi­li­enna­men vor­aus­ge­setzt – mein Freund Jo­na­than Har­ker wird mir nicht zur Sei­te ste­hen. Er wird in Exe­ter sein, vie­le Mei­len von mir, und viel­leicht mit mei­nem an­de­ren Freund, Pe­ter Hawkins, Ge­richts­ak­ten stu­die­ren. Ist das nicht so?«

Er ver­tief­te sich in das Pro­blem des An­kaufs der Be­sit­zung in Pur­fleet.5 Als ich ihn noch über ver­schie­de­ne De­tails un­ter­rich­tet und er die not­wen­di­gen Pa­pie­re un­ter­zeich­net hat­te, schrieb er noch einen Brief, um ihn dem be­reits fer­ti­gen an Herrn Hawkins bei­zu­le­gen, und frag­te mich dann, wie ich ei­gent­lich auf die­sen präch­ti­gen Platz auf­merk­sam ge­wor­den wäre. Ich las ihm die No­ti­zen vor, die ich mir sei­ner­zeit in die­ser An­ge­le­gen­heit ge­macht hat­te und die ich wört­lich hier­her set­ze:

»In Pur­fleet, in ei­ner Ne­ben­gas­se, fand ich ein Grund­stück, wie ich es ge­ra­de brauch­te. Eine ver­wa­sche­ne Ta­fel zeig­te an, dass es zu ver­kau­fen wäre. Es ist um­ge­ben von ei­ner ho­hen, aus roh be­haue­nen Stei­nen ge­füg­ten Mau­er und seit ei­ner lan­gen Rei­he von Jah­ren nicht mehr in­stand ge­hal­ten wor­den. Die ver­schlos­se­nen Tore sind von schwe­rem Ei­chen­holz mit ver­ros­te­ten Ei­sen­be­schlä­gen.«

»Das Grund­stück heißt Car­fax, ohne Zwei­fel eine Ver­stüm­me­lung des al­ten qua­tre fa­ces,6 denn das Haus ist wür­fel­för­mig, die Sei­ten nach den vier Him­mels­rich­tun­gen ori­en­tiert. Das Be­sitz­tum ist al­les in al­lem zwan­zig Mor­gen groß, voll­kom­men um­schlos­sen von der oben er­wähn­ten Stein­mau­er und mit Bäu­men be­stan­den, was ihm einen ge­wis­sen düs­te­ren Cha­rak­ter ver­leiht. Au­ßer­dem be­fin­det sich dort ein tiefer, dunk­ler Teich oder klei­ner See, der of­fen­bar von un­ter­ir­di­schen Quel­len ge­speist wird; das Was­ser ist klar und fließt in ei­nem hübsch ge­wun­de­nen Bach ab. Das Haus ist sehr groß und weist alle Bau­ar­ten bis zum Mit­tel­al­ter zu­rück auf; ein Teil ist von un­ge­heu­er dickem Stein er­baut; die we­ni­gen Fens­ter sind hoch über dem Bo­den an­ge­bracht und stark ver­git­tert. Es sieht aus wie ein Ge­fäng­nis und steht in Zu­sam­men­hang mit ei­ner al­ten Kir­che oder Ka­pel­le. Ich konn­te nicht ins In­ne­re der­sel­ben, da ich kei­nen Schlüs­sel be­saß, der den Zu­tritt vom Hau­se aus er­mög­licht hät­te; aber ich mach­te mit mei­nem Ko­dak7 Auf­nah­men von al­len Sei­ten. Das Haus ist an die Kir­che an­ge­baut, aber in sehr weit­läu­fi­ger Wei­se, und ich kann die Grö­ße der Flä­che, die es be­deckt, nur an­nä­hernd schät­zen. In der Nach­bar­schaft be­fin­den sich nur we­ni­ge Ge­bäu­de; ei­nes da­von ist sehr groß, erst kürz­lich ge­baut und als Pri­va­tir­ren­an­stalt ein­ge­rich­tet. Vom Grund­stücke aus ist es nicht sicht­bar.«

Als ich ihm die­se No­ti­zen vor­ge­le­sen hat­te, sag­te er:

»Es freut mich, dass es so groß und alt ist. Ich selbst stam­me aus al­ter Fa­mi­lie, und das Woh­nen in die­sen neu­mo­di­schen Häu­sern wür­de mich ein­fach um­brin­gen. Ein Haus kann nicht an ei­nem Tage wohn­lich ein­ge­rich­tet wer­den, und dann, wie vie­le Tage ge­hen da­hin, bis ein Jahr­hun­dert um ist. Es ist mir auch lieb, eine alte Ka­pel­le da­bei zu ha­ben. Wir trans­syl­va­ni­schen Edel­leu­te wol­len nicht, dass un­se­re Ge­bei­ne zwi­schen de­nen ge­wöhn­li­cher Sterb­li­cher ru­hen sol­len. Ich su­che nicht Lust und Hei­ter­keit, nicht war­men Son­nen­schein und glit­zern­des Was­ser, wie es die fröh­li­che Ju­gend tut. Ich bin nicht mehr jung und mein Herz ist durch die oft wie­der­hol­te Trau­er um lie­be Tote nicht mehr zum Froh­sein ge­stimmt. Auch die Mau­ern mei­nes Schlos­ses sind zer­stört; es gibt vie­le Schat­ten und der Wind pfeift kalt durch zer­brö­ckeln­de Zin­nen und Lu­ken. Ich lie­be das Dun­kel und die Schat­ten und bin gern al­lein mit mei­nen Ge­dan­ken.«

Manch­mal hat­te ich den Ein­druck, als ent­sprä­chen sei­ne Wor­te nicht ganz sei­nen Ge­dan­ken, oder aber es lag das halb höh­ni­sche, halb schwer­mü­ti­ge Lä­cheln in sei­nem gan­zen Ge­sichts­aus­druck.

Er stand auf und ent­schul­dig­te sich für ei­ni­ge Zeit, in­dem er mich bat, mei­ne Pa­pie­re einst­wei­len wie­der in Ord­nung zu brin­gen. Als er ge­gan­gen war, be­trach­te­te ich ei­ni­ge der Bü­cher, die her­um­la­gen. Ei­nes war ein At­las; die Kar­te von Eng­land, schein­bar viel be­nützt, lag auf­ge­schla­gen. Als ich nä­her hin­sah, fiel mir auf, dass meh­re­re Orte mit klei­nen Krei­sen be­zeich­net wa­ren; ei­ner an der Ost­sei­te von Lon­don, da, wo sein zu­künf­ti­ges Be­sitz­tum lag, ei­ner bei Exe­ter und ei­ner bei Whit­by an der Küs­te von Yorks­hi­re.

Es währ­te fast eine Stun­de, bis der Graf zu­rück­kam. »Ah«, sag­te er, – »im­mer noch über den Bü­chern? Gut. Aber Sie dür­fen nicht im­mer ar­bei­ten. Kom­men Sie mit; ihr Abend­tisch ist mei­nes Wis­sens be­reit.« Er nahm mei­nen Arm und führ­te mich in das nächs­te Zim­mer, wo ich ein vor­züg­li­ches Sou­per an­ge­rich­tet fand. Der Graf ent­schul­dig­te sich wie­der, dass er schon aus­wärts ge­ges­sen habe. Er saß da, wie in der Nacht vor­her, und plau­der­te, wäh­rend ich aß. Nach Tisch rauch­te ich, und der Graf blieb bei mir, in­dem er mich über alle er­denk­li­chen Din­ge frag­te. Stun­de um Stun­de ver­rann. Ich merk­te, dass es wirk­lich sehr spät wur­de, sag­te aber nichts, da ich mich für ver­pflich­tet hielt, den Wün­schen mei­nes Gast­ge­bers in je­der Wei­se Rech­nung zu tra­gen. Ich war nicht schläf­rig, denn die lan­ge Ruhe von ges­tern hat­te mich ge­kräf­tigt, aber ich emp­fand un­will­kür­lich den Schau­er, der einen bei An­bruch des Mor­gens be­fällt. Der Wech­sel der Ta­ges­zei­ten äh­nelt in sei­ner Art den Ge­zei­ten des Mee­res. Man sagt, dass tod­kran­ke Men­schen ge­wöhn­lich bei Ein­bruch der Däm­me­rung oder beim Wech­sel der Ge­zei­ten ster­ben. Je­der, der er­mü­det war, doch auf ir­gend ei­nem Pos­ten aus­zu­har­ren hat­te und selbst den Ein­fluss die­ser Än­de­rung der At­mo­sphä­re emp­fun­den hat, wird das sehr be­greif­lich fin­den. Plötz­lich er­tön­te drau­ßen ein Hah­nen­schrei, der mit un­heim­li­cher Klar­heit durch die rei­ne Mor­gen­luft zu uns drang. Graf Dra­cu­la sprang auf und sag­te:

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