Loe raamatut: «Dracula», lehekülg 4

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»Was, schon wie­der Mor­gen? Wel­che Nach­läs­sig­keit von mir, Sie so lan­ge auf­zu­hal­ten! Sie müs­sen Ihre Un­ter­hal­tung über mein neu­es eng­li­sches Va­ter­land we­ni­ger an­re­gend ge­stal­ten, so­dass ich nicht ver­ges­se, wie die Zeit bei uns ver­geht.« Dann emp­fahl er sich mit ei­ner höf­li­chen Ver­beu­gung.

Ich be­gab mich auf mein Zim­mer und zog die Vor­hän­ge zu­rück, aber da war we­nig zu se­hen. Mein Fens­ter ging auf den Hof, über dem das war­me Grau des er­wa­chen­den Ta­ges lag. So schloss ich das Fens­ter wie­der und schrei­be über mei­ne Er­leb­nis­se.

8. Mai. – Ur­sprüng­lich, als ich mein Ta­ge­buch zu schrei­ben be­gann, fürch­te­te ich, zu weit­läu­fig zu wer­den; jetzt bin ich aber doch froh, dass ich von An­fang an kei­ne De­tails aus­ließ. Es ist so merk­wür­dig hier, dass ich mich wirk­lich un­be­hag­lich füh­le. Ich woll­te, ich wäre wie­der heil drau­ßen oder gar nicht her­ein­ge­kom­men. Es mag ja sein, dass mich das un­ge­wöhn­li­che Nacht­le­ben mit­nimmt; aber wenn es nur das al­lein wäre! Wenn ich nur je­mand hät­te, mit dem ich mich aus­spre­chen könn­te, dann lie­ße es sich leich­ter er­tra­gen, aber es ist nie­mand hier. Da ist nur der Graf und der… ich fürch­te, ich bin die ein­zi­ge le­ben­de See­le hier auf dem Schlos­se. Ich will die Sa­che et­was nüch­ter­ner auf­fas­sen, als es die Ver­hält­nis­se ir­gend er­lau­ben. Es wird mir hel­fen, mich auf­recht zu er­hal­ten. Mei­ne Fan­ta­sie darf kei­ne Sprün­ge ma­chen; wenn sie es tut, bin ich ver­lo­ren. Wei­ter nun, was ich er­leb­te oder zu er­le­ben glaub­te.

Ich schlief nur we­ni­ge Stun­den und er­hob mich, als ich merk­te, dass ich doch nicht weiter­schla­fen kön­ne. Ich hat­te mei­nen Ra­sier­spie­gel am Fens­ter be­fes­tigt und be­gann mich zu ra­sie­ren. Plötz­lich hör­te ich des Gra­fen Stim­me »Gu­ten Mor­gen« sa­gen und fühl­te, wie sei­ne Hand sich auf mei­ne Schul­ter leg­te. Ich stutz­te, denn ich hat­te ihn nicht kom­men se­hen, ob­gleich der Spie­gel mir er­mög­lich­te, das gan­ze Zim­mer hin­ter mir zu über­se­hen. Da­bei hat­te ich mich leicht ge­schnit­ten, ach­te­te aber im Au­gen­blick nicht dar­auf. Nach­dem ich den Gruß des Gra­fen er­wi­dert hat­te, sah ich noch­mals in den Spie­gel, ob ich mich nicht doch ge­täuscht hät­te. Dies­mal aber war je­der Irr­tum aus­ge­schlos­sen; der Mann stand so dicht hin­ter mir, dass ich ihn über mei­ne Schul­ter hin­weg er­bli­cken konn­te. Aber der Spie­gel zeig­te kein Bild von ihm! Das gan­ze Zim­mer hin­ter mir lag sicht­bar da, aber au­ßer mir war nie­mand dar­in zu se­hen. Das war recht merk­wür­dig und ei­gent­lich das Merk­wür­digs­te, was ich bis­her er­lebt hat­te. Ich emp­fand wie­der ein gräss­li­ches Un­be­ha­gen, wie im­mer, wenn der Graf in mei­ner Nähe war; zu­gleich be­merk­te ich, dass die klei­ne Ver­let­zung blu­te­te und dass das Blut über mein Kinn her­un­ter­si­cker­te. Ich leg­te das Ra­sier­mes­ser weg und wand­te mich um, mir ein blut­stil­len­des Pflas­ter zu ho­len. Wie der Graf mein Ge­sicht sah, er­glänz­ten sei­ne Au­gen in dä­mo­ni­schem Feu­er und er tat einen ra­schen Griff nach mei­ner Keh­le. Ich fuhr zu­rück und da­bei be­rühr­te sei­ne Hand die Per­len mei­nes Ro­sen­kran­zes. Das er­zeug­te einen ra­schen Wan­del in ihm, sei­ne Er­re­gung leg­te sich so rasch, dass es schi­en, als sei sie gar nicht da ge­we­sen.

»Neh­men Sie sich in Acht«, sag­te er, »dass Sie sich nicht schnei­den; in die­sem Lan­de ist es ge­fähr­li­cher als Sie glau­ben.« Dann er­griff er mei­nen Toi­let­ten­spie­gel und fuhr fort: »Und die­ses ver­fluch­te Ding ist schuld dar­an. Es ist ein schlech­tes Spiel­zeug mensch­li­cher Ei­tel­keit. Fort da­mit!« Er öff­ne­te das große Fens­ter mit ei­nem Ruck sei­ner schreck­li­chen Hand und warf den Spie­gel hin­aus, der tief un­ten auf dem Pflas­ter des Schloss­ho­fes in tau­send Scher­ben zer­sprang. Dann ging er weg, ohne ein Wort zu sa­gen. Es ist mir sehr un­an­ge­nehm, denn ich muss nun, wenn ich zum Ra­sie­ren et­was se­hen will, den De­ckel mei­ner Uhr oder den Bo­den mei­ner Sei­fen­scha­le be­nut­zen, die zum Glück von Me­tall ist.

Als ich in das Spei­se­zim­mer hin­austrat, war das Früh­stück be­reit, aber vom Gra­fen war nichts zu se­hen. So aß ich denn al­lein.

Es ist merk­wür­dig, dass ich den Gra­fen bis heu­te noch nicht es­sen oder trin­ken sah; er scheint über­haupt ein ko­mi­scher Kauz zu sein. Nach dem Früh­stück un­ter­nahm ich eine klei­ne Re­ko­gnos­zie­rung8 im Schlos­se. Ich trat auf den Flur hin­aus und ent­deck­te ein klei­nes Zim­mer mit wun­der­ba­rer Aus­sicht nach Sü­den. Das Schloss steht in der Tat am Ran­de ei­nes furcht­ba­ren Ab­grun­des. Ein aus dem Fens­ter ge­wor­fe­ner Stein fie­le wohl über tau­send Fuß tief, ohne ir­gend­wo an­zu­sto­ßen. So weit das Auge reicht, ein Meer von grü­nen Baum­wip­feln, das nur von Schluch­ten un­ter­bro­chen wird. Da und dort er­glän­zen wie Sil­ber­strei­fen Flüs­se, die sich in tief ein­ge­ris­se­nen Bet­ten durch die Wäl­der win­den. Aber ich bin nicht in der Lau­ne, Na­tur­schön­hei­ten zu schil­dern. Nach­dem ich mich einen Au­gen­blick lang dem Reiz die­ser herr­li­chen Na­tur hin­ge­ge­ben hat­te, setz­te ich mei­ne Un­ter­su­chung fort. Tü­ren, Tü­ren, Tü­ren über­all; alle ver­schlos­sen und ver­rie­gelt; nir­gends ein Aus­weg als durch die Fens­ter.

Das Schloss ist ein Ge­fäng­nis und ich bin ein Ge­fan­ge­ner!

1 sü­ßer, aus Un­garn stam­men­der Des­sert­wein von hell­brau­ner Far­be <<<

2 Als Phy­sio­gno­mik be­zeich­net man die »Kunst«, aus dem un­ver­än­der­li­chen phy­sio­lo­gi­schen Äu­ße­ren des Kör­pers, be­son­ders des Ge­sichts, auf die see­li­schen Ei­gen­schaf­ten ei­nes Men­schen – also ins­be­son­de­re des­sen Cha­rak­ter­zü­ge und/oder Tem­pe­ra­ment – zu schlie­ßen. <<<

3 Hamp­ton Court Palace, Palast und ehe­ma­li­ge kö­nig­li­che Re­si­denz im Süd­wes­ten von Lon­don. <<<

4 Bo­ja­ren oder Bol­ja­ren wa­ren Ad­li­ge un­ter­halb des Ran­ges ei­nes Fürs­ten oder Za­ren. <<<

5 Ort­schaft in der Graf­schaft Es­sex, Eng­land. <<<

6 Aus dem Fran­zö­si­schen ›car­re­four‹ bzw. ›qua­tre-fa­ce‹. Ein Orts­vier­tel von Ox­ford. <<<

7 Ko­dak stell­te be­reits früh Roll­fil­me und ab 1888 auch in­dus­tri­ell ge­fer­tig­te Fo­to­ap­pa­ra­te her, dar­un­ter die Ko­dak Nr.1. <<<

8 Iden­ti­fi­zie­rung, Er­kun­dung <<<

DRITTES KAPITEL

Jonathan Harkers Tagebuch

(Fort­set­zung)

Als ich zu der Er­kennt­nis kam, dass ich ein Ge­fan­ge­ner sei, er­griff mich eine Art Ra­se­rei. Ich rann­te die Stie­gen auf und ab, pro­bier­te jede Tür und späh­te bei je­dem Fens­ter hin­aus, das mir er­reich­bar war; aber bald über­kam mich das Be­wusst­sein mei­ner voll­kom­me­nen Hilf­lo­sig­keit. Wenn ich auf die paar Stun­den zu­rück­schaue, ist es mir wirk­lich, als sei ich ver­rückt ge­we­sen, denn ich be­nahm mich wie eine Rat­te in der Fal­le. Nach­dem ich aber dann die Über­zeu­gung ge­won­nen hat­te, dass mei­ne Lage eine ver­zwei­fel­te sei, setz­te ich mich ru­hig nie­der – so ru­hig, als ich je in mei­nem Le­ben et­was ge­tan habe – und sann dar­über nach, was nun am bes­ten zu ge­sche­hen hät­te. Dar­über den­ke ich im­mer noch nach und bis jetzt zu kei­nem Re­sul­tat ge­kom­men. Ei­nes aber weiß ich ge­wiss: es wäre voll­kom­men wi­der­sin­nig, den Gra­fen von mei­nen Plä­nen et­was mer­ken zu las­sen. Er weiß recht wohl, dass er mich ge­fan­gen hält; und da er selbst es tut und sei­ne ei­ge­nen Be­weg­grün­de da­für ha­ben muss, wür­de er mir höchs­tens Schwie­rig­kei­ten in den Weg le­gen, wenn ich ihm et­was von mei­nen Ab­sich­ten sa­gen wür­de. So weit ich es bis jetzt be­ur­tei­len kann, ist es das Bes­te, ich las­se nichts von mei­nen Er­fah­run­gen und Be­fürch­tun­gen ver­lau­ten und hal­te die Au­gen of­fen. Ich füh­le, dass ich ent­we­der von mei­ner Angst ge­täuscht wer­de wie ein klei­nes Kind, oder aber ich be­fin­de mich in ei­ner ver­zwei­fel­ten Klem­me. Und ist dies letz­te­re der Fall, so muss ich, muss un­be­dingt mei­nen gan­zen Ver­stand dar­an­set­zen, um her­aus­zu­kom­men. Kaum war ich zu die­sem Ent­schluss ge­langt, da hör­te ich, wie un­ten die schwe­re Tür sich schloss, und wuss­te, dass der Graf heim­kam. Da er mich aber nicht in der Biblio­thek auf­such­te, ging ich lei­se in mein Zim­mer und traf ihn ge­ra­de an, wie er mein Bett in Ord­nung brach­te. Das war nun sehr merk­wür­dig, aber es be­stä­tig­te mir nur das, was ich mir schon die gan­ze Zeit ge­dacht hat­te, näm­lich dass es kei­ne Dienst­bo­ten im Hau­se gab. Als ich ihn dann durch eine Tür­spal­te das Di­ner auf­tra­gen sah, war ich mei­ner Sa­che si­cher; denn wenn er die­se häus­li­chen Ver­rich­tun­gen alle selbst be­sorgt, so steht doch au­ßer Zwei­fel, dass er eben nie­mand da­für hat. Ein jä­her Schreck durch­fuhr mich, denn wenn nie­mand im Hau­se war, dann muss der Graf selbst das Fuhr­werk ge­lenkt ha­ben, das mich hier­her brach­te. Ein scheuß­li­cher Ge­dan­ke; denn dann hat­te er auch Ge­walt über die Wöl­fe, de­nen er mit ei­nem Wink sei­ner Hand Still­schwei­gen ge­bot. Wa­rum hat­ten alle Leu­te in Bistritz und mei­ne Rei­se­ge­fähr­ten eine so leb­haf­te Sor­ge um mich? Was be­deu­te­te es, das man mir das Kru­zi­fix, Knob­lauch, wil­de Ro­sen und Ebe­re­schen­zwei­ge schenk­te? Wie dank­bar bin ich der gu­ten al­ten Frau, die mir den Ro­sen­kranz um den Hals häng­te; es ist ein Trost und eine Stär­kung für mich, wenn ich ihn be­rüh­re. Selt­sam, dies Ding, wel­ches ich bis­her mit ei­ner ge­wis­sen Missach­tung als göt­zen­die­ne­ri­sches Sym­bol zu be­trach­ten ge­wohnt war, brach­te mir nun Hil­fe in mei­ner Ein­sam­keit und Not. Liegt das in der Be­schaf­fen­heit des Din­ges selbst oder ist es nur das Me­di­um, das eine trost­rei­che Erin­ne­rung an das Mit­ge­fühl der Ge­be­rin wach­ruft? Spä­ter, wenn es mir noch mög­lich sein soll­te, muss ich doch die Sa­che ein­ge­hend stu­die­ren und mir Auf­klä­rung dar­über ver­schaf­fen. Un­ter­des­sen muss ich al­les aus­kund­schaf­ten, was Graf Dra­cu­la be­trifft und mir ein Ver­ständ­nis sei­nes We­sens auf­schlie­ßen kann. Heu­te Abend muss er mir Rede und Ant­wort ste­hen, wenn ich das Ge­spräch auf die­se Din­ge len­ke. Je­den­falls heißt es äu­ßerst vor­sich­tig sein, um sei­nen Ver­dacht nicht wach­zu­ru­fen.

Mit­ter­nacht. – Ich habe lan­ge mit dem Gra­fen ge­plau­dert. Ich frag­te ihn ei­ni­ges über die Ge­schich­te sei­nes Ge­schlech­tes und Trans­syl­va­ni­ens, und er wur­de bei die­sem The­ma auf­fal­lend warm. Sei­ne Er­zäh­lun­gen von Per­so­nen, Er­eig­nis­sen, be­son­ders Schlach­ten wa­ren so leb­haft, dass man hät­te glau­ben kön­nen, er hät­te al­les selbst mit er­lebt. Er er­klär­te es da­mit: der Ruhm sei­nes Hau­ses und sei­nes Na­mens ist des Bo­ja­ren ei­ge­ner Stolz, ihr Ruhm ist sein Ruhm, ihr Schick­sal ist sein Schick­sal. Wenn er von sei­ner Fa­mi­lie spricht, sagt er im­mer »wir« und spricht da­von im Plu­ral, wie von Kö­ni­gen. Es tut mir leid, dass ich nicht al­les ge­nau so nie­der­le­gen kann, wie er es er­zähl­te; aber es war äu­ßerst span­nend. Die gan­ze Ge­schich­te sei­nes Lan­des schi­en er vor mir auf­zu­rol­len. Er sprach im­mer er­reg­ter und ging im Zim­mer um­her, in­dem er sei­nen lan­gen, wei­ßen Schnurr­bart strich und sei­ne star­ken Hän­de auf ver­schie­de­ne Ge­gen­stän­de leg­te, als wol­le er sie zer­drücken. Ei­nes aber, was mir be­son­ders im Ge­dächt­nis haf­ten blieb, möch­te ich so wört­lich als mög­lich wie­der­ge­ben; es ent­hüllt mehr als al­les an­de­re die Ge­schich­te sei­nes Ge­schlech­tes:

»Wir Szek­ler ha­ben ein Recht stolz zu sein, denn in un­se­ren Adern fließt das Blut so man­cher tap­fe­ren Völ­ker, die wie Lö­wen um die Herr­schaft strit­ten. Hier in den Wir­bel eu­ro­päi­scher Ras­sen trug der ugri­sche Stamm von Is­land den wil­den Kampf­geist her­un­ter, den Wo­dan und Tor ihm ein­ge­pflanzt hat­ten. Sie über­schwemm­ten als ge­fürch­te­te Ber­ser­ker die Küs­ten Eu­ro­pas und die von Asi­en und Afri­ka dazu, so­dass die Völ­ker dach­ten, ein Heer von Wer­wöl­fen sei ein­ge­bro­chen. Als sie in die­ses Land ka­men, tra­fen sie mit den Hun­nen zu­sam­men, de­ren grau­sa­me Kriegs­lust wie eine lo­dern­de Fa­ckel über die Erde hin­ge­fegt hat­te, so­dass die ster­ben­den Na­tio­nen sich er­zähl­ten, sie sei­en Nach­kom­men je­ner He­xen, die einst, aus dem Szy­then­land ver­trie­ben, sich in der Step­pe mit Teu­feln paar­ten. Nar­ren! Nar­ren! Wel­che Teu­fel, wel­che He­xen wa­ren so mäch­tig als At­ti­la, des­sen Blut in die­sen Adern kreist?« Er reck­te sei­ne Arme aus. »Ist es ein Wun­der, dass wir ein Ero­be­r­er­stamm, dass wir stolz sind, dass wir die Hor­den der Magya­ren, der Lom­bar­den, der Ava­ren,1 der Bul­ga­ren und der Tür­ken, die ge­gen un­se­re Gren­zen an­rück­ten, in die Flucht trie­ben? Ist es zu ver­wun­dern, dass die Hon­fo­glalas.2 ein Ende fand, als Ar­pad mit sei­nen Le­gio­nen hier an der Gren­ze auf uns traf? Als die Flut der Un­garn sich wie­der ost­wärts ver­lief, wuss­te man, dass die Szek­ler mit den sieg­rei­chen Magya­ren ver­bün­det wa­ren, und auf Jahr­hun­der­te hin­aus wur­de uns der Schutz der Gren­ze ge­gen die Tür­ken an­ver­traut; und es war kei­ne leich­te Auf­ga­be, denn wie der Tür­ke sagt: ›Das Was­ser schläft, aber der Feind schläft nicht.‹ Wer hät­te stol­zer auf das von den vier Na­tio­nen an­ver­trau­te ›blu­ti­ge Schwer­t‹ sein kön­nen als wir, wer eil­te auf ih­ren Kriegs­ruf schnel­ler zu den Fah­nen des Kö­nigs? Dann kam die große Schmach un­se­res Vol­kes, die Schmach von Cas­so­va3 Wer war es, der als Woi­wo­de4 die Do­nau über­schritt und die Tür­ken auf ei­ge­nem Bo­den schlug, als die Ban­ner der Wala­chen und Magya­ren vor dem Halb­mond in den Staub san­ken? Wer an­ders als ei­ner mei­nes Ge­schlech­tes, ein Dra­cu­la! Aber, als er ge­fal­len war, da ver­kauf­te sein ei­ge­ner un­wür­di­ger Bru­der das Volk an die Tür­ken zu schmach­vol­ler Knecht­schaft. War es nicht die­ses Dra­cu­las Geist, der einen Spä­te­ren sei­nes Na­mens im­mer und im­mer wie­der über den brei­ten Strom in die Tür­kei ein­fal­len ließ? Zu­rück­ge­trie­ben, kehr­te er als ein­zi­ger von der blu­ti­gen Wal­statt5 heim, auf der sein Stamm nie­der­ge­met­zelt wor­den war, und den­noch kehr­te er wie­der, denn er wuss­te, dass nur er al­lein den Sieg er­zwin­gen kön­ne. Man sagt ihm nach, dass er nur an sich al­lein den­ke. Bah, was taugt ein Kriegs­volk ohne Füh­rer? Wel­chen Zweck hat ein Krieg, wenn nicht ein Kopf und ein Herz da sind, ihn zu füh­ren? Dann, als wir nach der Schlacht von Mo­hacs6 das un­ga­ri­sche Joch ab­schüt­tel­ten, da wa­ren wie­der wir aus dem Blu­te der Dra­cu­la die Füh­rer, denn un­ser stol­zer Geist konn­te das Be­wusst­sein nicht tra­gen, un­frei zu sein. Ja, jun­ger Herr, die Szek­ler und die Dra­cu­las – ihr Herz­blut, ihr Ge­hirn, ihr Schwert – kön­nen sich ei­ner Ver­gan­gen­heit rüh­men, wie kei­nes der Em­por­kömm­lings­ge­schlech­ter der Ro­ma­nows oder Habs­bur­ger. Die krie­ge­ri­schen Zei­ten sind vor­bei. Blut ist ein zu kost­bar Ding in die­sen Ta­gen jäm­mer­li­chen Frie­dens; und der Ruhm großer Ge­schlech­ter ist nur mehr wie ein Mär­chen, das man er­zählt.«

Es war fast wie­der Mor­gen ge­wor­den und wir gin­gen zu Bett. (Anm. Das Ta­ge­buch äh­nelt er­schre­ckend den Er­zäh­lun­gen aus »Tau­send und eine Nacht« oder der Ge­schich­te mit Ham­lets Va­ter; mit dem Hah­nen­schrei schließt es je­des Mal.)

12. Mai. – Ich be­gin­ne mit Tat­sa­chen, rei­nen, nack­ten Tat­sa­chen, die durch Bü­cher und Zah­len dar­ge­tan wer­den und an de­nen nicht ge­zwei­felt wer­den kann. Ich darf sie nicht mit ei­ge­nen Beo­b­ach­tun­gen und Er­fah­run­gen ver­mi­schen. Als der Graf am letz­ten Abend aus sei­nem Zim­mer kam, be­gann er mich so­fort über ju­ris­ti­sche Din­ge aus­zu­fra­gen und über die Schrit­te, die er zur Aus­füh­rung sei­ner Ab­sicht zu tun habe. Ich hat­te den gan­zen Tag flei­ßig über den Bü­chern ver­bracht und war, um nicht un­be­schäf­tigt zu sein, auf die Idee ge­kom­men, ei­ni­ges zu wie­der­ho­len, was mir bei der Prü­fung auf der Rechts­schu­le vor­ge­legt wor­den war. Es lag eine ei­ge­ne Metho­de in den Fra­gen des Gra­fen und ich wer­de des­halb ver­su­chen, sie mög­lichst der Rei­he nach wie­der­zu­ge­ben; viel­leicht sind mir die­se No­ti­zen ir­gend­wo und ir­gend­wann von Nut­zen.

Zu­erst frag­te er mich, ob es in Eng­land ge­stat­tet sei, zwei oder mehr Sach­wal­ter für sei­ne Ge­schäf­te zu ha­ben. Ich sag­te ihm, er kön­ne ein gan­zes Dut­zend an­stel­len, wenn es ihm be­lie­be, aber dass es nicht sehr klug wäre, mehr als einen Ad­vo­ka­ten in sei­ner An­ge­le­gen­heit zu en­ga­gie­ren, denn es kön­ne doch im­mer nur ei­ner wirk­lich tä­tig sein, und ein Wech­sel wür­de den In­ter­es­sen di­rekt zu­wi­der­lau­fen. Er schi­en voll­kom­men zu ver­ste­hen und frag­te dann wei­ter, ob es z.B. zweck­mä­ßig wäre, einen Sach­wal­ter für Geld­sa­chen, einen an­de­ren für Schiff­fahrts­an­ge­le­gen­hei­ten zu be­stel­len, falls ir­gend­wo ein lo­ka­les Ein­grei­fen nö­tig sei, was durch die große Ent­fer­nung des Sach­wal­ters er­schwert wür­de. Ich bat ihn, sich noch kla­rer aus­zu­drücken, so­dass ab­so­lut kei­ne Ge­fahr be­stün­de, von mir falsch in­for­miert zu wer­den, und er sag­te dar­auf:

»Ich will es durch ein Bei­spiel il­lus­trie­ren. Un­ser ge­mein­sa­mer Freund, Pe­ter Hawkins, kauft von sei­nem Büro im Schat­ten Ih­rer herr­li­chen Ka­the­dra­le von Exe­ter aus durch Ihre gü­ti­ge Mit­hil­fe für mich ein Grund­stück in Lon­don. Gut. Sie kön­nen mir ja ein­wer­fen, dass ich einen Sach­wal­ter hät­te neh­men müs­sen, der in Lon­don selbst wohnt; ich muss Ih­nen aber of­fen ge­ste­hen, mir lag es dar­an, dass mein Be­voll­mäch­tig­ter ab­so­lut durch nichts an­de­res ge­lei­tet wer­den soll­te als durch mei­ne spe­zi­el­len Wün­sche. Nach­dem es ja nicht aus­ge­schlos­sen er­scheint, dass ein Lon­do­ner Ad­vo­kat da­bei sei­ne oder sei­ner Freun­de In­ter­es­sen im Auge ha­ben könn­te, be­schloss ich, mir einen sol­chen aus der wei­te­ren Um­ge­gend von Lon­don zu wäh­len, des­sen Ar­beit al­lein in mei­nem In­ter­es­se ge­schä­he. Nun neh­me ich an, ich will per Schiff Gü­ter nach Ne­w­cast­le oder Dur­ham oder Har­wich oder Do­ver trans­por­tie­ren las­sen – und das ist bei der Aus­deh­nung mei­ner Ge­schäf­te nicht aus­ge­schlos­sen – wäre es da nicht bes­ser, mei­ne An­ge­le­gen­hei­ten durch einen am be­tref­fen­den Ort an­säs­si­gen Agen­ten be­sor­gen zu las­sen?« Ich er­wi­der­te, dass die Sa­che ohne Zwei­fel ihre gu­ten Sei­ten habe, aber auch, dass wir Ad­vo­ka­ten einen In­ter­es­sen­ver­band bil­de­ten und ei­ner für den an­de­ren die Er­le­di­gung lo­ka­ler An­ge­le­gen­hei­ten über­näh­me. Für sei­nen Zweck wür­de es auch ge­nü­gen, sei­nen Sach­wal­ter ein­fach mit der Sa­che zu be­auf­tra­gen; die be­tref­fen­den Wün­sche wür­den dann auf dem ge­nann­ten Wege er­füllt.

»Ganz recht«, ant­wor­te­te er, »aber ich hät­te dann doch mehr Frei­heit in mei­nen An­ord­nun­gen. Fin­den Sie das nicht auch?«

»Al­ler­dings«, ent­geg­ne­te ich, »und man­che Ge­schäfts­leu­te ma­chen es so, die ihre Grün­de da­für ha­ben, nicht alle ihre An­ge­le­gen­hei­ten ei­ner ein­zi­gen Per­son an­zu­ver­trau­en.«

»Gut«, sag­te er und fuhr dann wei­ter fort über die Art, wie man am bes­ten Schiff­strans­por­te ein­lei­te und wel­che For­ma­li­tä­ten zu er­fül­len wä­ren. Er ge­dach­te al­ler Schwie­rig­kei­ten, auf die sein Un­ter­neh­men even­tu­ell sto­ßen könn­te und wie sol­chen am vor­teil­haf­tes­ten zu be­geg­nen wäre. Ich klär­te ihn nach mei­nem bes­ten Wis­sen über alle die­se Din­ge auf und ge­wann schließ­lich den Ein­druck, dass er selbst einen vor­züg­li­chen Ad­vo­ka­ten ab­ge­ge­ben hät­te, denn es gab nichts, wor­an er nicht ge­dacht, was er nicht in den Kreis sei­ner Er­wä­gun­gen ge­zo­gen hät­te. Da­für, dass er noch nie in mei­nem Lan­de ge­we­sen und of­fen­bar we­nig mit Ge­schäfts­an­ge­le­gen­hei­ten zu tun hat­te, wa­ren sei­ne Kennt­nis­se und sein Scharf­sinn ge­ra­de­zu er­staun­lich. Als er sich über al­les, was er wis­sen woll­te, hin­rei­chend in­for­miert zu ha­ben schi­en und ich mei­ne An­ga­ben an der Hand der ver­füg­ba­ren Bü­cher so gut als mög­lich nach­ge­prüft hat­te, stand er plötz­lich auf und sag­te:

»Ha­ben Sie schon an un­sern Freund Pe­ter Hawkins ge­schrie­ben?« Mit ei­ner ge­wis­sen Bit­ter­keit ant­wor­te­te ich, dass dies doch nicht ge­sche­hen sei, da ich zur Ab­sen­dung des Brie­fes ja noch kei­ne Ge­le­gen­heit ge­habt hät­te.

»Dann schrei­ben Sie gleich jetzt, mein jun­ger Freund«, sag­te er, in­dem er sei­ne Hand schwer auf mei­ne Schul­ter leg­te, »schrei­ben Sie an un­sern Freund und an wen Sie wol­len und tei­len Sie mit, dass Sie we­nigs­tens noch einen Mo­nat hier zu ver­wei­len ge­den­ken.«

»Wol­len Sie ab­so­lut, dass ich noch so lan­ge blei­be?«, frag­te ich, und es über­lief mich kalt bei die­sem Ge­dan­ken.

»Ich wün­sche es nicht nur; ich wür­de es Ih­nen so­gar übel neh­men, wenn Sie frü­her fort woll­ten. Wenn ihr Herr und, wenn Sie wol­len, Meis­ter je­mand zu sei­ner Ver­tre­tung schickt, so glau­be ich doch wohl, dass mei­ne Be­dürf­nis­se in ers­ter Li­nie in Be­tracht kom­men. Ich habe doch kei­nen Ter­min be­stimmt. Ist es nicht so?«

Was woll­te ich an­ders tun als Ja sa­gen? Es war Herrn Hawkins Sa­che und nicht mei­ne, ich muss­te für ihn han­deln, nicht für mich. Au­ßer­dem lag in Dra­cu­las Au­gen und in sei­nem Be­neh­men et­was, was mich dar­an er­in­ner­te, dass ich sein Ge­fan­ge­ner war und dass mir ja doch kei­ne Wahl ge­blie­ben wäre. Der Graf sah sei­nen Sieg in mei­ner zu­stim­men­den Ver­beu­gung und in der Er­re­gung mei­ner Ge­sichts­zü­ge, denn er be­gann in sei­ner ver­bind­li­chen, aber un­wi­der­steh­li­chen Art:

»Ich bit­te Sie, lie­ber jun­ger Freund, dass Sie in Ihren Brie­fen nur Ge­schäft­li­ches be­rüh­ren, au­ßer­dem wird es Ihren Freun­den doch ohne Zwei­fel lieb sein zu er­fah­ren, dass es Ih­nen gut geht und dass Sie sich dar­auf freu­en, sie wie­der­zu­se­hen.« Nach­dem er das ge­sagt hat­te, gab er mir drei Brief­bo­gen und drei Ku­verts. Sie wa­ren von dünns­tem Über­see­pa­pier; ich sah auf die Brief­bo­gen, dann auf ihn und be­merk­te sein ru­hi­ges Lä­cheln, das die schar­fen wei­ßen, über die Un­ter­lip­pe ra­gen­den Hun­de­zäh­ne ent­blö­ßte. Da ward es mir klar, was er da­mit sa­gen woll­te, ich sol­le recht vor­sich­tig mit mei­ner Kor­re­spon­denz sein, da er al­les le­sen kön­ne. Ich be­schloss da­her, Herrn Hawkins und Mina ei­ni­ge for­mel­le Zei­len zu schrei­ben, dann aber im Ge­hei­men ihm mei­ne Lage ge­nau zu schil­dern, eben­so Mina; letz­te­rer Brief soll­te ste­no­gra­fisch ab­ge­fasst wer­den; der Graf soll­te ihn we­nigs­tens nicht le­sen kön­nen, wenn er in sei­ne Hän­de fie­le. Als ich mei­ne zwei Brie­fe ge­schrie­ben hat­te, saß ich eine Wei­le still und las in ei­nem Bu­che, wäh­rend der Graf ei­ni­ge Zei­len schrieb, an­schei­nend No­ti­zen aus ei­nem vor ihm lie­gen­den Heft. Dann nahm er mei­ne zwei Brie­fe und leg­te sie zu den sei­nen, nach­dem er das Schreib­zeug wie­der in Ord­nung ge­bracht. Er ver­ließ das Zim­mer und ich be­nütz­te rasch die Ge­le­gen­heit, nach den Adres­sen sei­ner Brie­fe zu se­hen, die um­ge­kehrt auf dem Ti­sche la­gen. Ich mach­te mir kein Ge­wis­sen aus die­sem Ver­trau­ens­bru­che, denn un­ter den ge­ge­be­nen Um­stän­den hielt ich al­les für er­laubt, wo­durch ich mich viel­leicht ret­ten konn­te. Der eine war an Herrn Sa­mu­el F. Bil­ling­ton, No. 7, The Cre­scent, Whit­by, der an­de­re an Herrn Leut­ner, Var­na, ge­rich­tet; der drit­te trug die Adres­se: Coutts & Co., Lon­don, der vier­te die der Ban­kiers Klopp­stock & Bill­reuth, Bu­da­pest. Der zwei­te und der vier­te wa­ren noch nicht ge­schlos­sen. Eben woll­te ich nach ih­rem In­halt se­hen, da be­merk­te ich, dass sich die Tür­klin­ke be­weg­te. Rasch ließ ich mich auf mei­nen Stuhl zu­rück­fal­len, nach­dem ich ge­ra­de noch Zeit ge­habt hat­te, die Brie­fe wie­der in ihre ur­sprüng­li­che Ord­nung zu brin­gen und mein Buch zu er­grei­fen, ehe der Graf, der einen Brief in der Hand trug, ins Zim­mer trat. Er nahm die Brie­fe vom Tisch, ver­schloss sie sorg­fäl­tig und wand­te sich dann an mich:

»Ich hof­fe, Sie wer­den es mir nicht ver­übeln, aber ich habe heu­te Abend in drin­gen­den Pri­vat­an­ge­le­gen­hei­ten zu tun. Sie wer­den, den­ke ich, al­les fin­den, was Sie brau­chen.« An der Tür dreh­te er sich noch ein­mal um und sag­te nach kur­z­er Pau­se:

»Las­sen Sie sich ra­ten, lie­ber jun­ger Freund – nein, las­sen Sie sich lie­ber in al­lem Ernst da­vor war­nen, in ei­nem an­de­ren Tei­le des Schlos­ses zu schla­fen, wenn Sie über­haupt die Ab­sicht ha­ben, aus die­sen Zim­mern zu ge­hen. Das Schloss ist alt und hat eine selt­sa­me Ver­gan­gen­heit; schlech­te Träu­me ha­ben die, wel­che un­vor­sich­tig zur Ruhe ge­hen. Also sei­en Sie ge­warnt! – Soll­te der Schlaf Sie jetzt oder ir­gend­wann über­man­nen, so ei­len Sie so­fort in ihr Schlaf­zim­mer oder in ei­nes die­ser Ge­mä­cher, dann ist Ihre Ruhe ge­si­chert. Sind Sie aber un­vor­sich­tig in die­ser Be­zie­hung, dann –« Er schloss sei­ne Rede in un­heim­li­cher Wei­se, in­dem er sei­ne Hän­de rieb, als woll­te er sich wa­schen. Ich ver­stand ihn voll­kom­men, aber ich zwei­fel­te dar­an, dass ir­gend ein Traum scheuß­li­cher sein konn­te als die­ses un­na­tür­li­che, grau­en­haf­te Netz von Ge­heim­nis­sen, das sich um mich zu­sam­men­zu­zie­hen schi­en. Spä­ter. – Ich be­stä­ti­ge die­se letz­ten Wor­te, denn jetzt kann kein Zwei­fel mehr be­ste­hen. Ich fürch­te mich nicht mehr, an ei­nem Plat­ze ein­zu­schla­fen, wo »er« nicht ist. Mei­nen Ro­sen­kranz habe ich über mei­nem Bet­te auf­ge­hängt – ich glau­be, so ist mei­ne Ruhe frei­er von Träu­men, und dort soll er blei­ben.

Als der Graf mich ver­ließ, zog ich mich in mein Zim­mer zu­rück. Nach ei­ner klei­nen Wei­le, da ich kei­nen Laut mehr hör­te, trat ich her­aus und ging die stei­ner­ne Stie­ge hin­auf, von wo ich den Aus­blick nach Sü­den hat­te. Es lag wie ein Schim­mer der Frei­heit über der wei­ten Ebe­ne, die mir doch un­er­reich­bar war; ein schmerz­li­cher Ge­gen­satz zu der dunklen Enge des Schloss­ho­fes. Wenn ich auf die­sen hin­aus­sah, hat­te ich tat­säch­lich das Ge­fühl, Ge­fan­ge­ner zu sein, und mir war, als müss­te ich mir die Brust voll fri­scher Luft trin­ken, und sei es auch nur die der Nacht. Ich füh­le, dass die­se Nacht­exis­tenz mir scha­det, dass sie mei­ne Ner­ven zer­stört. Ich er­schre­cke vor mei­nem ei­ge­nen Schat­ten und lei­de an den schreck­lichs­ten Ge­sich­ten. Gott weiß, dass auf die­sem ver­wünsch­ten Platz Grund zu jeg­li­cher Sor­ge ge­ge­ben ist. Ich sah hin­aus in die wun­der­vol­le Wei­te, die sanf­tes, gelb­li­ches Mond­licht taghell über­flu­te­te. In dem un­ge­wis­sen Lich­te ver­schwam­men die Um­ris­se der fer­nen Hü­gel, und die Schat­ten in den Tä­lern und Schluch­ten wa­ren von samt­ar­ti­ger Schwär­ze. Schon der An­blick die­ser Schön­heit gab mir Mut; mit je­dem Atem­zu­ge sog ich Frie­den und Trost ein. Als ich mich et­was aus dem Fens­ter lehn­te, wur­de mein Blick durch et­was ge­fes­selt, das sich ein Stock­werk tiefer, links von mir be­weg­te; nach der Lage der Zim­mer muss­ten sich hier die Fens­ter des Gra­fen be­fin­den. Das Fens­ter, an dem ich stand, war hoch und tief und mit stei­ner­nem Maß­werk ver­ziert, das, ob­gleich ver­wit­tert, den­noch ganz gut er­hal­ten war. Es moch­te eine statt­li­che Rei­he von Jah­ren her sein, dass je­mand hier hin­aus­ge­schaut. Ich ver­steck­te mich hin­ter einen Fens­ter­pfei­ler und sah ge­spannt hin­aus.

Das ers­te, was ich sah, war der Kopf des Gra­fen, der eben aus dem Fens­ter auf­tauch­te. Ich sah das Ge­sicht nicht, aber ich kann­te den Na­cken und die Be­we­gung des Rückens und der Arme. Am we­nigs­ten konn­te ich über die Hän­de im Zwei­fel sein, die zu stu­die­ren ich ja schon reich­lich Ge­le­gen­heit ge­habt hat­te. Zu­erst war ich voll In­ter­es­se, fast be­lus­tigt, denn es ist ei­gen­ar­tig, wel­che Klei­nig­kei­ten einen Ge­fan­ge­nen in­ter­es­sie­ren und be­lus­ti­gen kön­nen. Aber die­se Ge­füh­le ver­wan­del­ten sich in Ab­scheu und Ent­set­zen. Ich sah, wie sich der gan­ze Kör­per aus dem Fens­ter zwäng­te und, mit dem Kopf nach ab­wärts, an der Schloss­mau­er über den fürch­ter­li­chen Ab­grund hin­un­ter­klet­ter­te; sein Man­tel schlang sich um ihn wie ein Paar großer Flü­gel. Erst trau­te ich mei­nen Au­gen nicht. Ich dach­te, es wäre eine Täu­schung durch das Mond­licht, ir­gend ein tol­ler Schat­ten­ef­fekt; ich sah ge­nau hin – es war kein Irr­tum mög­lich. Ich sah die Fin­ger und Ze­hen sich in die Mau­er­rit­zen klam­mern, die der Zahn der Zeit des Mör­tels be­raubt hat­te; er klet­ter­te so mit be­trächt­li­cher Ge­schwin­dig­keit ab­wärts, in­dem er sich die kleins­te Une­ben­heit zu­nut­ze mach­te, wie ein Mar­der, der eine Mau­er hin­un­ter­steigt.

Was ist das für ein Mensch, oder viel­mehr, was ist das für eine Krea­tur, die hier in Men­schen­ge­stalt sich ver­birgt? Das Ent­set­zen vor die­sem schre­ckens­vol­len Plat­ze über­wäl­tigt mich, ich füh­le es; ich bin in Angst, in schreck­li­cher Angst und sehe kei­nen Aus­weg; ich bin von Ge­fah­ren um­ge­ben, an die ich gar nicht den­ken darf.

15. Mai. – Noch ein­mal sah ich den Gra­fen in die­ser mar­der­ar­ti­gen Wei­se das Schloss ver­las­sen. Er stieg schräg hin­un­ter, wohl hun­dert Fuß tief und et­was nach links. Dann ver­schwand er in ei­ner Höh­le oder ei­nem Fens­ter. Als sein Kopf nicht mehr sicht­bar war, lehn­te ich mich hin­aus, um mehr zu se­hen, aber ohne Er­folg; die Ent­fer­nung war zu groß. Ich wuss­te nun, dass er das Schloss ver­las­sen habe, und ge­dach­te die­se Ge­le­gen­heit aus­zunüt­zen, um mehr aus­zu­for­schen, als mir bis jetzt ge­lun­gen war. Ich ging in mein Zim­mer zu­rück, hol­te mei­ne Lam­pe und pro­bier­te eine Tür nach der an­de­ren. Sie wa­ren alle, wie ich es nicht an­ders er­war­tet hat­te, ver­schlos­sen und die Sch­lös­ser wa­ren ver­hält­nis­mä­ßig neu; dann stieg ich die Stein­trep­pe hin­un­ter und ge­lang­te zu der großen Hal­le, durch die ich mei­nen Ein­zug ins Schloss ge­hal­ten hat­te. Ich ver­moch­te die Rie­gel leicht zu­rück­zu­schie­ben und die Ket­ten aus­zu­hän­gen, aber das Tor war ver­schlos­sen und der Schlüs­sel fehl­te! Die­ser muss­te in des Gra­fen Zim­mer sein, es galt also zu ver­su­chen, ob sei­ne Tür ver­schlos­sen sei, so­dass ich ihn dort ho­len und ent­flie­hen könn­te.

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