»Was, schon wieder Morgen? Welche Nachlässigkeit von mir, Sie so lange aufzuhalten! Sie müssen Ihre Unterhaltung über mein neues englisches Vaterland weniger anregend gestalten, sodass ich nicht vergesse, wie die Zeit bei uns vergeht.« Dann empfahl er sich mit einer höflichen Verbeugung.
Ich begab mich auf mein Zimmer und zog die Vorhänge zurück, aber da war wenig zu sehen. Mein Fenster ging auf den Hof, über dem das warme Grau des erwachenden Tages lag. So schloss ich das Fenster wieder und schreibe über meine Erlebnisse.
8. Mai. – Ursprünglich, als ich mein Tagebuch zu schreiben begann, fürchtete ich, zu weitläufig zu werden; jetzt bin ich aber doch froh, dass ich von Anfang an keine Details ausließ. Es ist so merkwürdig hier, dass ich mich wirklich unbehaglich fühle. Ich wollte, ich wäre wieder heil draußen oder gar nicht hereingekommen. Es mag ja sein, dass mich das ungewöhnliche Nachtleben mitnimmt; aber wenn es nur das allein wäre! Wenn ich nur jemand hätte, mit dem ich mich aussprechen könnte, dann ließe es sich leichter ertragen, aber es ist niemand hier. Da ist nur der Graf und der… ich fürchte, ich bin die einzige lebende Seele hier auf dem Schlosse. Ich will die Sache etwas nüchterner auffassen, als es die Verhältnisse irgend erlauben. Es wird mir helfen, mich aufrecht zu erhalten. Meine Fantasie darf keine Sprünge machen; wenn sie es tut, bin ich verloren. Weiter nun, was ich erlebte oder zu erleben glaubte.
Ich schlief nur wenige Stunden und erhob mich, als ich merkte, dass ich doch nicht weiterschlafen könne. Ich hatte meinen Rasierspiegel am Fenster befestigt und begann mich zu rasieren. Plötzlich hörte ich des Grafen Stimme »Guten Morgen« sagen und fühlte, wie seine Hand sich auf meine Schulter legte. Ich stutzte, denn ich hatte ihn nicht kommen sehen, obgleich der Spiegel mir ermöglichte, das ganze Zimmer hinter mir zu übersehen. Dabei hatte ich mich leicht geschnitten, achtete aber im Augenblick nicht darauf. Nachdem ich den Gruß des Grafen erwidert hatte, sah ich nochmals in den Spiegel, ob ich mich nicht doch getäuscht hätte. Diesmal aber war jeder Irrtum ausgeschlossen; der Mann stand so dicht hinter mir, dass ich ihn über meine Schulter hinweg erblicken konnte. Aber der Spiegel zeigte kein Bild von ihm! Das ganze Zimmer hinter mir lag sichtbar da, aber außer mir war niemand darin zu sehen. Das war recht merkwürdig und eigentlich das Merkwürdigste, was ich bisher erlebt hatte. Ich empfand wieder ein grässliches Unbehagen, wie immer, wenn der Graf in meiner Nähe war; zugleich bemerkte ich, dass die kleine Verletzung blutete und dass das Blut über mein Kinn heruntersickerte. Ich legte das Rasiermesser weg und wandte mich um, mir ein blutstillendes Pflaster zu holen. Wie der Graf mein Gesicht sah, erglänzten seine Augen in dämonischem Feuer und er tat einen raschen Griff nach meiner Kehle. Ich fuhr zurück und dabei berührte seine Hand die Perlen meines Rosenkranzes. Das erzeugte einen raschen Wandel in ihm, seine Erregung legte sich so rasch, dass es schien, als sei sie gar nicht da gewesen.
»Nehmen Sie sich in Acht«, sagte er, »dass Sie sich nicht schneiden; in diesem Lande ist es gefährlicher als Sie glauben.« Dann ergriff er meinen Toilettenspiegel und fuhr fort: »Und dieses verfluchte Ding ist schuld daran. Es ist ein schlechtes Spielzeug menschlicher Eitelkeit. Fort damit!« Er öffnete das große Fenster mit einem Ruck seiner schrecklichen Hand und warf den Spiegel hinaus, der tief unten auf dem Pflaster des Schlosshofes in tausend Scherben zersprang. Dann ging er weg, ohne ein Wort zu sagen. Es ist mir sehr unangenehm, denn ich muss nun, wenn ich zum Rasieren etwas sehen will, den Deckel meiner Uhr oder den Boden meiner Seifenschale benutzen, die zum Glück von Metall ist.
Als ich in das Speisezimmer hinaustrat, war das Frühstück bereit, aber vom Grafen war nichts zu sehen. So aß ich denn allein.
Es ist merkwürdig, dass ich den Grafen bis heute noch nicht essen oder trinken sah; er scheint überhaupt ein komischer Kauz zu sein. Nach dem Frühstück unternahm ich eine kleine Rekognoszierung8 im Schlosse. Ich trat auf den Flur hinaus und entdeckte ein kleines Zimmer mit wunderbarer Aussicht nach Süden. Das Schloss steht in der Tat am Rande eines furchtbaren Abgrundes. Ein aus dem Fenster geworfener Stein fiele wohl über tausend Fuß tief, ohne irgendwo anzustoßen. So weit das Auge reicht, ein Meer von grünen Baumwipfeln, das nur von Schluchten unterbrochen wird. Da und dort erglänzen wie Silberstreifen Flüsse, die sich in tief eingerissenen Betten durch die Wälder winden. Aber ich bin nicht in der Laune, Naturschönheiten zu schildern. Nachdem ich mich einen Augenblick lang dem Reiz dieser herrlichen Natur hingegeben hatte, setzte ich meine Untersuchung fort. Türen, Türen, Türen überall; alle verschlossen und verriegelt; nirgends ein Ausweg als durch die Fenster.
Das Schloss ist ein Gefängnis und ich bin ein Gefangener!
1 süßer, aus Ungarn stammender Dessertwein von hellbrauner Farbe <<<
2 Als Physiognomik bezeichnet man die »Kunst«, aus dem unveränderlichen physiologischen Äußeren des Körpers, besonders des Gesichts, auf die seelischen Eigenschaften eines Menschen – also insbesondere dessen Charakterzüge und/oder Temperament – zu schließen. <<<
3 Hampton Court Palace, Palast und ehemalige königliche Residenz im Südwesten von London. <<<
4 Bojaren oder Boljaren waren Adlige unterhalb des Ranges eines Fürsten oder Zaren. <<<
5 Ortschaft in der Grafschaft Essex, England. <<<
6 Aus dem Französischen ›carrefour‹ bzw. ›quatre-face‹. Ein Ortsviertel von Oxford. <<<
7 Kodak stellte bereits früh Rollfilme und ab 1888 auch industriell gefertigte Fotoapparate her, darunter die Kodak Nr.1. <<<
8 Identifizierung, Erkundung <<<
(Fortsetzung)
Als ich zu der Erkenntnis kam, dass ich ein Gefangener sei, ergriff mich eine Art Raserei. Ich rannte die Stiegen auf und ab, probierte jede Tür und spähte bei jedem Fenster hinaus, das mir erreichbar war; aber bald überkam mich das Bewusstsein meiner vollkommenen Hilflosigkeit. Wenn ich auf die paar Stunden zurückschaue, ist es mir wirklich, als sei ich verrückt gewesen, denn ich benahm mich wie eine Ratte in der Falle. Nachdem ich aber dann die Überzeugung gewonnen hatte, dass meine Lage eine verzweifelte sei, setzte ich mich ruhig nieder – so ruhig, als ich je in meinem Leben etwas getan habe – und sann darüber nach, was nun am besten zu geschehen hätte. Darüber denke ich immer noch nach und bis jetzt zu keinem Resultat gekommen. Eines aber weiß ich gewiss: es wäre vollkommen widersinnig, den Grafen von meinen Plänen etwas merken zu lassen. Er weiß recht wohl, dass er mich gefangen hält; und da er selbst es tut und seine eigenen Beweggründe dafür haben muss, würde er mir höchstens Schwierigkeiten in den Weg legen, wenn ich ihm etwas von meinen Absichten sagen würde. So weit ich es bis jetzt beurteilen kann, ist es das Beste, ich lasse nichts von meinen Erfahrungen und Befürchtungen verlauten und halte die Augen offen. Ich fühle, dass ich entweder von meiner Angst getäuscht werde wie ein kleines Kind, oder aber ich befinde mich in einer verzweifelten Klemme. Und ist dies letztere der Fall, so muss ich, muss unbedingt meinen ganzen Verstand daransetzen, um herauszukommen. Kaum war ich zu diesem Entschluss gelangt, da hörte ich, wie unten die schwere Tür sich schloss, und wusste, dass der Graf heimkam. Da er mich aber nicht in der Bibliothek aufsuchte, ging ich leise in mein Zimmer und traf ihn gerade an, wie er mein Bett in Ordnung brachte. Das war nun sehr merkwürdig, aber es bestätigte mir nur das, was ich mir schon die ganze Zeit gedacht hatte, nämlich dass es keine Dienstboten im Hause gab. Als ich ihn dann durch eine Türspalte das Diner auftragen sah, war ich meiner Sache sicher; denn wenn er diese häuslichen Verrichtungen alle selbst besorgt, so steht doch außer Zweifel, dass er eben niemand dafür hat. Ein jäher Schreck durchfuhr mich, denn wenn niemand im Hause war, dann muss der Graf selbst das Fuhrwerk gelenkt haben, das mich hierher brachte. Ein scheußlicher Gedanke; denn dann hatte er auch Gewalt über die Wölfe, denen er mit einem Wink seiner Hand Stillschweigen gebot. Warum hatten alle Leute in Bistritz und meine Reisegefährten eine so lebhafte Sorge um mich? Was bedeutete es, das man mir das Kruzifix, Knoblauch, wilde Rosen und Ebereschenzweige schenkte? Wie dankbar bin ich der guten alten Frau, die mir den Rosenkranz um den Hals hängte; es ist ein Trost und eine Stärkung für mich, wenn ich ihn berühre. Seltsam, dies Ding, welches ich bisher mit einer gewissen Missachtung als götzendienerisches Symbol zu betrachten gewohnt war, brachte mir nun Hilfe in meiner Einsamkeit und Not. Liegt das in der Beschaffenheit des Dinges selbst oder ist es nur das Medium, das eine trostreiche Erinnerung an das Mitgefühl der Geberin wachruft? Später, wenn es mir noch möglich sein sollte, muss ich doch die Sache eingehend studieren und mir Aufklärung darüber verschaffen. Unterdessen muss ich alles auskundschaften, was Graf Dracula betrifft und mir ein Verständnis seines Wesens aufschließen kann. Heute Abend muss er mir Rede und Antwort stehen, wenn ich das Gespräch auf diese Dinge lenke. Jedenfalls heißt es äußerst vorsichtig sein, um seinen Verdacht nicht wachzurufen.
Mitternacht. – Ich habe lange mit dem Grafen geplaudert. Ich fragte ihn einiges über die Geschichte seines Geschlechtes und Transsylvaniens, und er wurde bei diesem Thema auffallend warm. Seine Erzählungen von Personen, Ereignissen, besonders Schlachten waren so lebhaft, dass man hätte glauben können, er hätte alles selbst mit erlebt. Er erklärte es damit: der Ruhm seines Hauses und seines Namens ist des Bojaren eigener Stolz, ihr Ruhm ist sein Ruhm, ihr Schicksal ist sein Schicksal. Wenn er von seiner Familie spricht, sagt er immer »wir« und spricht davon im Plural, wie von Königen. Es tut mir leid, dass ich nicht alles genau so niederlegen kann, wie er es erzählte; aber es war äußerst spannend. Die ganze Geschichte seines Landes schien er vor mir aufzurollen. Er sprach immer erregter und ging im Zimmer umher, indem er seinen langen, weißen Schnurrbart strich und seine starken Hände auf verschiedene Gegenstände legte, als wolle er sie zerdrücken. Eines aber, was mir besonders im Gedächtnis haften blieb, möchte ich so wörtlich als möglich wiedergeben; es enthüllt mehr als alles andere die Geschichte seines Geschlechtes:
»Wir Szekler haben ein Recht stolz zu sein, denn in unseren Adern fließt das Blut so mancher tapferen Völker, die wie Löwen um die Herrschaft stritten. Hier in den Wirbel europäischer Rassen trug der ugrische Stamm von Island den wilden Kampfgeist herunter, den Wodan und Tor ihm eingepflanzt hatten. Sie überschwemmten als gefürchtete Berserker die Küsten Europas und die von Asien und Afrika dazu, sodass die Völker dachten, ein Heer von Werwölfen sei eingebrochen. Als sie in dieses Land kamen, trafen sie mit den Hunnen zusammen, deren grausame Kriegslust wie eine lodernde Fackel über die Erde hingefegt hatte, sodass die sterbenden Nationen sich erzählten, sie seien Nachkommen jener Hexen, die einst, aus dem Szythenland vertrieben, sich in der Steppe mit Teufeln paarten. Narren! Narren! Welche Teufel, welche Hexen waren so mächtig als Attila, dessen Blut in diesen Adern kreist?« Er reckte seine Arme aus. »Ist es ein Wunder, dass wir ein Erobererstamm, dass wir stolz sind, dass wir die Horden der Magyaren, der Lombarden, der Avaren,1 der Bulgaren und der Türken, die gegen unsere Grenzen anrückten, in die Flucht trieben? Ist es zu verwundern, dass die Honfoglalas.2 ein Ende fand, als Arpad mit seinen Legionen hier an der Grenze auf uns traf? Als die Flut der Ungarn sich wieder ostwärts verlief, wusste man, dass die Szekler mit den siegreichen Magyaren verbündet waren, und auf Jahrhunderte hinaus wurde uns der Schutz der Grenze gegen die Türken anvertraut; und es war keine leichte Aufgabe, denn wie der Türke sagt: ›Das Wasser schläft, aber der Feind schläft nicht.‹ Wer hätte stolzer auf das von den vier Nationen anvertraute ›blutige Schwert‹ sein können als wir, wer eilte auf ihren Kriegsruf schneller zu den Fahnen des Königs? Dann kam die große Schmach unseres Volkes, die Schmach von Cassova3 Wer war es, der als Woiwode4 die Donau überschritt und die Türken auf eigenem Boden schlug, als die Banner der Walachen und Magyaren vor dem Halbmond in den Staub sanken? Wer anders als einer meines Geschlechtes, ein Dracula! Aber, als er gefallen war, da verkaufte sein eigener unwürdiger Bruder das Volk an die Türken zu schmachvoller Knechtschaft. War es nicht dieses Draculas Geist, der einen Späteren seines Namens immer und immer wieder über den breiten Strom in die Türkei einfallen ließ? Zurückgetrieben, kehrte er als einziger von der blutigen Walstatt5 heim, auf der sein Stamm niedergemetzelt worden war, und dennoch kehrte er wieder, denn er wusste, dass nur er allein den Sieg erzwingen könne. Man sagt ihm nach, dass er nur an sich allein denke. Bah, was taugt ein Kriegsvolk ohne Führer? Welchen Zweck hat ein Krieg, wenn nicht ein Kopf und ein Herz da sind, ihn zu führen? Dann, als wir nach der Schlacht von Mohacs6 das ungarische Joch abschüttelten, da waren wieder wir aus dem Blute der Dracula die Führer, denn unser stolzer Geist konnte das Bewusstsein nicht tragen, unfrei zu sein. Ja, junger Herr, die Szekler und die Draculas – ihr Herzblut, ihr Gehirn, ihr Schwert – können sich einer Vergangenheit rühmen, wie keines der Emporkömmlingsgeschlechter der Romanows oder Habsburger. Die kriegerischen Zeiten sind vorbei. Blut ist ein zu kostbar Ding in diesen Tagen jämmerlichen Friedens; und der Ruhm großer Geschlechter ist nur mehr wie ein Märchen, das man erzählt.«
Es war fast wieder Morgen geworden und wir gingen zu Bett. (Anm. Das Tagebuch ähnelt erschreckend den Erzählungen aus »Tausend und eine Nacht« oder der Geschichte mit Hamlets Vater; mit dem Hahnenschrei schließt es jedes Mal.)
12. Mai. – Ich beginne mit Tatsachen, reinen, nackten Tatsachen, die durch Bücher und Zahlen dargetan werden und an denen nicht gezweifelt werden kann. Ich darf sie nicht mit eigenen Beobachtungen und Erfahrungen vermischen. Als der Graf am letzten Abend aus seinem Zimmer kam, begann er mich sofort über juristische Dinge auszufragen und über die Schritte, die er zur Ausführung seiner Absicht zu tun habe. Ich hatte den ganzen Tag fleißig über den Büchern verbracht und war, um nicht unbeschäftigt zu sein, auf die Idee gekommen, einiges zu wiederholen, was mir bei der Prüfung auf der Rechtsschule vorgelegt worden war. Es lag eine eigene Methode in den Fragen des Grafen und ich werde deshalb versuchen, sie möglichst der Reihe nach wiederzugeben; vielleicht sind mir diese Notizen irgendwo und irgendwann von Nutzen.
Zuerst fragte er mich, ob es in England gestattet sei, zwei oder mehr Sachwalter für seine Geschäfte zu haben. Ich sagte ihm, er könne ein ganzes Dutzend anstellen, wenn es ihm beliebe, aber dass es nicht sehr klug wäre, mehr als einen Advokaten in seiner Angelegenheit zu engagieren, denn es könne doch immer nur einer wirklich tätig sein, und ein Wechsel würde den Interessen direkt zuwiderlaufen. Er schien vollkommen zu verstehen und fragte dann weiter, ob es z.B. zweckmäßig wäre, einen Sachwalter für Geldsachen, einen anderen für Schifffahrtsangelegenheiten zu bestellen, falls irgendwo ein lokales Eingreifen nötig sei, was durch die große Entfernung des Sachwalters erschwert würde. Ich bat ihn, sich noch klarer auszudrücken, sodass absolut keine Gefahr bestünde, von mir falsch informiert zu werden, und er sagte darauf:
»Ich will es durch ein Beispiel illustrieren. Unser gemeinsamer Freund, Peter Hawkins, kauft von seinem Büro im Schatten Ihrer herrlichen Kathedrale von Exeter aus durch Ihre gütige Mithilfe für mich ein Grundstück in London. Gut. Sie können mir ja einwerfen, dass ich einen Sachwalter hätte nehmen müssen, der in London selbst wohnt; ich muss Ihnen aber offen gestehen, mir lag es daran, dass mein Bevollmächtigter absolut durch nichts anderes geleitet werden sollte als durch meine speziellen Wünsche. Nachdem es ja nicht ausgeschlossen erscheint, dass ein Londoner Advokat dabei seine oder seiner Freunde Interessen im Auge haben könnte, beschloss ich, mir einen solchen aus der weiteren Umgegend von London zu wählen, dessen Arbeit allein in meinem Interesse geschähe. Nun nehme ich an, ich will per Schiff Güter nach Newcastle oder Durham oder Harwich oder Dover transportieren lassen – und das ist bei der Ausdehnung meiner Geschäfte nicht ausgeschlossen – wäre es da nicht besser, meine Angelegenheiten durch einen am betreffenden Ort ansässigen Agenten besorgen zu lassen?« Ich erwiderte, dass die Sache ohne Zweifel ihre guten Seiten habe, aber auch, dass wir Advokaten einen Interessenverband bildeten und einer für den anderen die Erledigung lokaler Angelegenheiten übernähme. Für seinen Zweck würde es auch genügen, seinen Sachwalter einfach mit der Sache zu beauftragen; die betreffenden Wünsche würden dann auf dem genannten Wege erfüllt.
»Ganz recht«, antwortete er, »aber ich hätte dann doch mehr Freiheit in meinen Anordnungen. Finden Sie das nicht auch?«
»Allerdings«, entgegnete ich, »und manche Geschäftsleute machen es so, die ihre Gründe dafür haben, nicht alle ihre Angelegenheiten einer einzigen Person anzuvertrauen.«
»Gut«, sagte er und fuhr dann weiter fort über die Art, wie man am besten Schiffstransporte einleite und welche Formalitäten zu erfüllen wären. Er gedachte aller Schwierigkeiten, auf die sein Unternehmen eventuell stoßen könnte und wie solchen am vorteilhaftesten zu begegnen wäre. Ich klärte ihn nach meinem besten Wissen über alle diese Dinge auf und gewann schließlich den Eindruck, dass er selbst einen vorzüglichen Advokaten abgegeben hätte, denn es gab nichts, woran er nicht gedacht, was er nicht in den Kreis seiner Erwägungen gezogen hätte. Dafür, dass er noch nie in meinem Lande gewesen und offenbar wenig mit Geschäftsangelegenheiten zu tun hatte, waren seine Kenntnisse und sein Scharfsinn geradezu erstaunlich. Als er sich über alles, was er wissen wollte, hinreichend informiert zu haben schien und ich meine Angaben an der Hand der verfügbaren Bücher so gut als möglich nachgeprüft hatte, stand er plötzlich auf und sagte:
»Haben Sie schon an unsern Freund Peter Hawkins geschrieben?« Mit einer gewissen Bitterkeit antwortete ich, dass dies doch nicht geschehen sei, da ich zur Absendung des Briefes ja noch keine Gelegenheit gehabt hätte.
»Dann schreiben Sie gleich jetzt, mein junger Freund«, sagte er, indem er seine Hand schwer auf meine Schulter legte, »schreiben Sie an unsern Freund und an wen Sie wollen und teilen Sie mit, dass Sie wenigstens noch einen Monat hier zu verweilen gedenken.«
»Wollen Sie absolut, dass ich noch so lange bleibe?«, fragte ich, und es überlief mich kalt bei diesem Gedanken.
»Ich wünsche es nicht nur; ich würde es Ihnen sogar übel nehmen, wenn Sie früher fort wollten. Wenn ihr Herr und, wenn Sie wollen, Meister jemand zu seiner Vertretung schickt, so glaube ich doch wohl, dass meine Bedürfnisse in erster Linie in Betracht kommen. Ich habe doch keinen Termin bestimmt. Ist es nicht so?«
Was wollte ich anders tun als Ja sagen? Es war Herrn Hawkins Sache und nicht meine, ich musste für ihn handeln, nicht für mich. Außerdem lag in Draculas Augen und in seinem Benehmen etwas, was mich daran erinnerte, dass ich sein Gefangener war und dass mir ja doch keine Wahl geblieben wäre. Der Graf sah seinen Sieg in meiner zustimmenden Verbeugung und in der Erregung meiner Gesichtszüge, denn er begann in seiner verbindlichen, aber unwiderstehlichen Art:
»Ich bitte Sie, lieber junger Freund, dass Sie in Ihren Briefen nur Geschäftliches berühren, außerdem wird es Ihren Freunden doch ohne Zweifel lieb sein zu erfahren, dass es Ihnen gut geht und dass Sie sich darauf freuen, sie wiederzusehen.« Nachdem er das gesagt hatte, gab er mir drei Briefbogen und drei Kuverts. Sie waren von dünnstem Überseepapier; ich sah auf die Briefbogen, dann auf ihn und bemerkte sein ruhiges Lächeln, das die scharfen weißen, über die Unterlippe ragenden Hundezähne entblößte. Da ward es mir klar, was er damit sagen wollte, ich solle recht vorsichtig mit meiner Korrespondenz sein, da er alles lesen könne. Ich beschloss daher, Herrn Hawkins und Mina einige formelle Zeilen zu schreiben, dann aber im Geheimen ihm meine Lage genau zu schildern, ebenso Mina; letzterer Brief sollte stenografisch abgefasst werden; der Graf sollte ihn wenigstens nicht lesen können, wenn er in seine Hände fiele. Als ich meine zwei Briefe geschrieben hatte, saß ich eine Weile still und las in einem Buche, während der Graf einige Zeilen schrieb, anscheinend Notizen aus einem vor ihm liegenden Heft. Dann nahm er meine zwei Briefe und legte sie zu den seinen, nachdem er das Schreibzeug wieder in Ordnung gebracht. Er verließ das Zimmer und ich benützte rasch die Gelegenheit, nach den Adressen seiner Briefe zu sehen, die umgekehrt auf dem Tische lagen. Ich machte mir kein Gewissen aus diesem Vertrauensbruche, denn unter den gegebenen Umständen hielt ich alles für erlaubt, wodurch ich mich vielleicht retten konnte. Der eine war an Herrn Samuel F. Billington, No. 7, The Crescent, Whitby, der andere an Herrn Leutner, Varna, gerichtet; der dritte trug die Adresse: Coutts & Co., London, der vierte die der Bankiers Kloppstock & Billreuth, Budapest. Der zweite und der vierte waren noch nicht geschlossen. Eben wollte ich nach ihrem Inhalt sehen, da bemerkte ich, dass sich die Türklinke bewegte. Rasch ließ ich mich auf meinen Stuhl zurückfallen, nachdem ich gerade noch Zeit gehabt hatte, die Briefe wieder in ihre ursprüngliche Ordnung zu bringen und mein Buch zu ergreifen, ehe der Graf, der einen Brief in der Hand trug, ins Zimmer trat. Er nahm die Briefe vom Tisch, verschloss sie sorgfältig und wandte sich dann an mich:
»Ich hoffe, Sie werden es mir nicht verübeln, aber ich habe heute Abend in dringenden Privatangelegenheiten zu tun. Sie werden, denke ich, alles finden, was Sie brauchen.« An der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte nach kurzer Pause:
»Lassen Sie sich raten, lieber junger Freund – nein, lassen Sie sich lieber in allem Ernst davor warnen, in einem anderen Teile des Schlosses zu schlafen, wenn Sie überhaupt die Absicht haben, aus diesen Zimmern zu gehen. Das Schloss ist alt und hat eine seltsame Vergangenheit; schlechte Träume haben die, welche unvorsichtig zur Ruhe gehen. Also seien Sie gewarnt! – Sollte der Schlaf Sie jetzt oder irgendwann übermannen, so eilen Sie sofort in ihr Schlafzimmer oder in eines dieser Gemächer, dann ist Ihre Ruhe gesichert. Sind Sie aber unvorsichtig in dieser Beziehung, dann –« Er schloss seine Rede in unheimlicher Weise, indem er seine Hände rieb, als wollte er sich waschen. Ich verstand ihn vollkommen, aber ich zweifelte daran, dass irgend ein Traum scheußlicher sein konnte als dieses unnatürliche, grauenhafte Netz von Geheimnissen, das sich um mich zusammenzuziehen schien. Später. – Ich bestätige diese letzten Worte, denn jetzt kann kein Zweifel mehr bestehen. Ich fürchte mich nicht mehr, an einem Platze einzuschlafen, wo »er« nicht ist. Meinen Rosenkranz habe ich über meinem Bette aufgehängt – ich glaube, so ist meine Ruhe freier von Träumen, und dort soll er bleiben.
Als der Graf mich verließ, zog ich mich in mein Zimmer zurück. Nach einer kleinen Weile, da ich keinen Laut mehr hörte, trat ich heraus und ging die steinerne Stiege hinauf, von wo ich den Ausblick nach Süden hatte. Es lag wie ein Schimmer der Freiheit über der weiten Ebene, die mir doch unerreichbar war; ein schmerzlicher Gegensatz zu der dunklen Enge des Schlosshofes. Wenn ich auf diesen hinaussah, hatte ich tatsächlich das Gefühl, Gefangener zu sein, und mir war, als müsste ich mir die Brust voll frischer Luft trinken, und sei es auch nur die der Nacht. Ich fühle, dass diese Nachtexistenz mir schadet, dass sie meine Nerven zerstört. Ich erschrecke vor meinem eigenen Schatten und leide an den schrecklichsten Gesichten. Gott weiß, dass auf diesem verwünschten Platz Grund zu jeglicher Sorge gegeben ist. Ich sah hinaus in die wundervolle Weite, die sanftes, gelbliches Mondlicht taghell überflutete. In dem ungewissen Lichte verschwammen die Umrisse der fernen Hügel, und die Schatten in den Tälern und Schluchten waren von samtartiger Schwärze. Schon der Anblick dieser Schönheit gab mir Mut; mit jedem Atemzuge sog ich Frieden und Trost ein. Als ich mich etwas aus dem Fenster lehnte, wurde mein Blick durch etwas gefesselt, das sich ein Stockwerk tiefer, links von mir bewegte; nach der Lage der Zimmer mussten sich hier die Fenster des Grafen befinden. Das Fenster, an dem ich stand, war hoch und tief und mit steinernem Maßwerk verziert, das, obgleich verwittert, dennoch ganz gut erhalten war. Es mochte eine stattliche Reihe von Jahren her sein, dass jemand hier hinausgeschaut. Ich versteckte mich hinter einen Fensterpfeiler und sah gespannt hinaus.
Das erste, was ich sah, war der Kopf des Grafen, der eben aus dem Fenster auftauchte. Ich sah das Gesicht nicht, aber ich kannte den Nacken und die Bewegung des Rückens und der Arme. Am wenigsten konnte ich über die Hände im Zweifel sein, die zu studieren ich ja schon reichlich Gelegenheit gehabt hatte. Zuerst war ich voll Interesse, fast belustigt, denn es ist eigenartig, welche Kleinigkeiten einen Gefangenen interessieren und belustigen können. Aber diese Gefühle verwandelten sich in Abscheu und Entsetzen. Ich sah, wie sich der ganze Körper aus dem Fenster zwängte und, mit dem Kopf nach abwärts, an der Schlossmauer über den fürchterlichen Abgrund hinunterkletterte; sein Mantel schlang sich um ihn wie ein Paar großer Flügel. Erst traute ich meinen Augen nicht. Ich dachte, es wäre eine Täuschung durch das Mondlicht, irgend ein toller Schatteneffekt; ich sah genau hin – es war kein Irrtum möglich. Ich sah die Finger und Zehen sich in die Mauerritzen klammern, die der Zahn der Zeit des Mörtels beraubt hatte; er kletterte so mit beträchtlicher Geschwindigkeit abwärts, indem er sich die kleinste Unebenheit zunutze machte, wie ein Marder, der eine Mauer hinuntersteigt.
Was ist das für ein Mensch, oder vielmehr, was ist das für eine Kreatur, die hier in Menschengestalt sich verbirgt? Das Entsetzen vor diesem schreckensvollen Platze überwältigt mich, ich fühle es; ich bin in Angst, in schrecklicher Angst und sehe keinen Ausweg; ich bin von Gefahren umgeben, an die ich gar nicht denken darf.
15. Mai. – Noch einmal sah ich den Grafen in dieser marderartigen Weise das Schloss verlassen. Er stieg schräg hinunter, wohl hundert Fuß tief und etwas nach links. Dann verschwand er in einer Höhle oder einem Fenster. Als sein Kopf nicht mehr sichtbar war, lehnte ich mich hinaus, um mehr zu sehen, aber ohne Erfolg; die Entfernung war zu groß. Ich wusste nun, dass er das Schloss verlassen habe, und gedachte diese Gelegenheit auszunützen, um mehr auszuforschen, als mir bis jetzt gelungen war. Ich ging in mein Zimmer zurück, holte meine Lampe und probierte eine Tür nach der anderen. Sie waren alle, wie ich es nicht anders erwartet hatte, verschlossen und die Schlösser waren verhältnismäßig neu; dann stieg ich die Steintreppe hinunter und gelangte zu der großen Halle, durch die ich meinen Einzug ins Schloss gehalten hatte. Ich vermochte die Riegel leicht zurückzuschieben und die Ketten auszuhängen, aber das Tor war verschlossen und der Schlüssel fehlte! Dieser musste in des Grafen Zimmer sein, es galt also zu versuchen, ob seine Tür verschlossen sei, sodass ich ihn dort holen und entfliehen könnte.