Ich unternahm eine gründliche Besichtigung der verschiedenen Treppen und Gänge und versuchte, welche der Türen sich etwa öffnen ließe. Einige kleine Zimmer zunächst der Halle waren offen, aber es war nichts in ihnen als altes Mobiliar, grau verstaubt und mottenzerfressen. Schließlich fand ich aber doch eine Tür am Ende der Treppe, die zwar verschlossen schien, aber doch unter meinem Druck etwas nachgab. Ich versuchte es stärker und fand, dass sie nicht eigentlich verschlossen war; der Widerstand rührte daher, dass die Türangeln sich gesenkt hatten und der Türflügel nun am Boden streifte. Das war nun eine Möglichkeit, wie sie sich so rasch nicht mehr bot; ich nahm meine ganze Kraft zusammen und vermochte auch die Tür so weit zu öffnen, dass ich eintreten konnte. Ich befand mich hier in dem Flügel des Schlosses, der rechts von den mir bekannten Räumen sich hinzog, aber ein Stockwerk tiefer. Ich sah aus dem Fenster und erkannte, dass diese Zimmerreihe den südlichen Teil des Schlosses bildete; das letzte Zimmer hatte Fenster nach Süden und Westen.
Nach beiden Seiten hin sah man in einen tiefen Abgrund. Das Schloss war auf einer Felszunge aufgebaut, sodass es von drei Seiten aus unzugänglich war. Hier, wohin weder Schleuder, noch Bogen, noch Feldschlange reichten, waren große Fenster angebracht; das Zimmer, das gegen keinen feindlichen Angriff gesichert werden musste, war licht und schön. Gegen Westen zu dehnte sich ein weites Tal, und ferne, ganz ferne erhoben sich gezackte Felswälle, Gipfel an Gipfel; die steilen Wände waren bewachsen mit Bergesche und Dorngestrüpp, deren Wurzeln sich in den Spalten und Rissen und Ritzen des Gesteines festklammerten. Hier war ich offenbar in dem vor Zeiten bewohnten Teil des Schlosses, denn die Möbel waren bequemer, als ich sie bisher gesehen hatte. Die Fenster waren ohne Vorhänge; das gelbe Mondlicht flutete breit durch die kristallklaren Scheiben und man konnte sogar Farben erkennen. Dabei machte es den Staub, der über allem lag, weniger bemerkbar und verwischte einigermaßen die Spuren der Zeit und der Motten. Meine Lampe schien nur klein zu brennen in dem glänzenden Mondschein, aber ich war froh um sie, denn es lag eine schreckliche Einsamkeit über dem Raume, die mir das Herz zusammenzog und meine Nerven erzittern machte. Übrigens war es mir hier viel wohler als allein in meinem Zimmer, das mir durch des Grafen Gegenwart verleidet worden war; meine nervöse Erregung legte sich und eine wohltuende Ruhe kam über mich. Hier sitze ich nun an einem kleinen eichenen Tisch, an dem vor alters vielleicht manches hübsche Fräulein mit vielen Gedanken und vielem Erröten sein unorthografisches Liebesbriefchen kritzelte, und schreibe stenografisch in mein Tagebuch, alles, was mir seit meiner letzten Eintragung passiert ist. Wir leben also wirklich im neunzehnten Jahrhundert? Und doch, wenn mich meine Sinne nicht trügen, hatten und haben die vergangenen Jahrhunderte ihren eigenen Reiz, den »Modernität« allein nicht zu überbieten vermag.
Später. – Morgen des 16. Mai. – Gott schütze meinen Verstand, das ist alles, was ich noch sagen kann. Sicherheit und Sicherheitsgefühl sind für mich vergangene Dinge. Solange ich noch hier lebe, hoffe ich nur eines: dass ich nicht wahnsinnig werde – wenn ich es nicht schon bin. Wenn ich aber noch bei Sinnen, dann ist der Gedanke geeignet, einen verrückt zu machen, dass von all den scheußlichen Dingen, die an diesem verhassten Ort spuken, der Graf noch lange nicht das schrecklichste ist; nur bei ihm finde ich Schutz und sei es auch nur so lange, als ich seinen Zwecken diene. Großer Gott! Gnädiger Gott! Lass mich Ruhe bewahren, denn sonst ist Wahnsinn mein Los. Ich gewinne nun Klarheit über einige Dinge, die mir schon Kopfzerbrechen gemacht haben. Bis heute verstand ich nicht, was Shakespeare meinte, wenn er Hamlet sagen ließ:
»Mein Buch! Nur schnell mein Schreibbuch her,
’s ist Zeit, dass ich das alles niederschreibe«,
aber jetzt, da ich das Gefühl habe, als ginge mein Gehirn aus den Fugen, als wäre ein vernichtender Schlag darauf gefallen, greife ich wieder zu meinem Tagebuch. Die strikte Gewohnheit, pünktliche Eintragungen zu machen, soll meine Angst etwas ablenken.
Des Grafen geheimnisvolle Warnung hatte mich schon erschreckt, als er sie aussprach; noch mehr erschreckt sie mich jetzt, wenn ich daran denke, dass der Graf mich wohl in Zukunft in noch strengerem Gewahrsam halten wird. Ich werde mich hüten, noch einmal Zweifel in seine Worte zu setzen.
Als ich mein Tagebuch geschrieben und zufrieden Buch und Stift in meine Tasche gesteckt hatte, überkam mich eine bleierne Schläfrigkeit. Des Grafen Warnung fiel mir ein, aber ich fand eine Freude daran, ihr nicht Gehör zu geben. Es war der mit dem Gefühl der Schläfrigkeit meist verbundene Starrsinn, der mich so handeln ließ. Das sanfte Mondlicht wirkte beruhigend auf mich ein und die weite Aussicht täuschte mir wohltuend die Freiheit vor. Ich gedachte heute Nacht nicht zu den düsteren, spukerfüllten Gemächern zurückzukehren, sondern hier zu schlafen, wo vor Zeiten wohl die Schlossfrauen saßen und sangen und dem Müßiggang sich ergaben, während sie mit vor Sehnsucht erfüllten Herzen der Heimkehr ihrer Männer warteten, die draußen in grausamen Kriegen kämpften. Ich zog mir einen großen Lehnstuhl aus dem Winkel und stellte ihn so, dass ich liegend die herrliche Aussicht nach Süden und Osten genießen konnte; dann richtete ich mich, ohne an Weiteres zu denken und ohne des dicken Staubes zu achten, zum Schlafen ein.
Ich vermute, dass ich auch wirklich eingeschlafen bin; ich hoffe es, aber ich fürchte, es war doch nicht der Fall; denn das, was nun folgte, war so natürlich, so erschreckend natürlich, dass ich jetzt im vollen, frohen Morgensonnenschein nicht glauben kann, das alles nur geträumt zu haben.
Ich war nicht allein; das Zimmer war dasselbe, völlig unverändert, genau so wie ich es betreten hatte; ich konnte den Korridor entlang meine Fußspuren sehen, die ich in die langjährige Staubschicht getreten. Im klaren Mondlicht standen mir gegenüber drei Frauen, ihrer Kleidung und ihrem Benehmen nach Damen. Zugleich dachte ich doch wieder zu träumen, denn sie warfen keinen Schatten und das Licht des Mondes leuchtete durch ihre Leiber. Sie näherten sich mir, betrachteten mich eine Weile und flüsterten dann miteinander. Zwei von ihnen waren dunkelhaarig und hatten hohe Adlernasen wie der Graf, und große, durchdringende, schwarze Augen, die in dem bleichen Mondenschein fast rot aussahen. Die dritte war hübsch, so hübsch, als man es sich nur denken kann, mit dichtem goldenen Wellenhaar und Augen gleich hellen Saphiren. Ich meinte, ihr Gesicht schon irgendwo einmal gesehen zu haben, aber es war mir nicht klar, wann und wo. Vielleicht bei einer von mir im Traume erlebten Gefahr. Alle drei hatten blendend weiße Zähne, die wie Perlen zwischen den Rubinen ihrer wollüstigen Lippen hervorglänzten. Sie hatten etwas an sich, das mir Unbehagen verursachte; ich verlangte nach ihnen und fühlte dennoch Todesangst. Ich empfand in meinem Herzen ein wildes, brennendes Begehren, dass sie mich mit ihren roten Lippen küssen möchten. Ich schreibe dies nicht gerne nieder, da vielleicht einmal Mina diese Zeilen lesen und Schmerz darüber empfinden könnte; aber es ist die Wahrheit. Sie flüsterten miteinander und dann lachten sie; ein silbernes, tönendes Lachen, aber so hart, dass es unmöglich war zu glauben, diese metallischen Klänge kämen von menschlichen, zarten Lippen. Es war wie das unerträgliche, zitternde Singen, das Wassergläser hervorbringen, wenn man ihren Rand reibt. Das schöne Mädchen schüttelte kokett ihre Locken, die beiden anderen drängten sie an mich heran. Eine sagte:
»Geh zu, du bist die erste, und wir kommen nach dir an die Reihe; du hast das Recht anzufangen.« Die andere fügte hinzu:
»Er ist jung und stark; das gibt Küsse für uns alle.« Ich lag still und blinzelte nur unter meinen Lidern hervor, halb in Todesangst, halb in wonniger Erwartung. Das schöne Weib kam heran und beugte sich über mich, bis ich ihren Atem fühlte. Er war süß, honigsüß, und jagte mir dieselben Schauer durch die Nerven wie ihr Lachen; dennoch roch man etwas Bitteres und Abstoßendes durch ihren Atem – wie Blut. Ich scheute mich die Augen zu öffnen, schielte aber nach den Frauen und konnte sie deutlich erkennen. Das schöne Mädchen beugte sich über mich, indem sie sich auf die Knie niederließ und mir starr in die Augen sah. Es war eine wohlberechnete Wollüstigkeit, die anziehend und abstoßend zugleich wirkte, als sie ihren Nacken beugte, leckte sie ihre Lippen wie ein Tier, sodass ich im Licht des Mondes den Speichel auf ihren Scharlachlippen, ihrer roten Zunge und ihren weißen Zähnen erglänzen sah. Immer tiefer beugte sie sich herab, streifte mir an Mund und Kinn vorbei und näherte sich meiner Kehle, an der ich ihren heißen Hauch verspürte. Ich hörte saugende Laute, als sie einen Augenblick einhielt und sich Zähne und Lippe leckte. Dann hatte ich das eigentümliche Gefühl am Halse, das man empfindet, wenn eine Hand, die einen kitzeln will, näher kommt, immer näher… Ich fühlte erst die zarte, zitternde Berührung ihrer weichen Lippen auf der überempfindlichen Haut meiner Kehle und dann die harten Spitzen zweier scharfen Zähne, die mich berührten und darauf innehielten. Ich schloss die Augen in schlaffer Verzückung und wartete… wartete mit bangem Herzen.
Da, in diesem Augenblick, schoss mir ein anderes Gefühl wie ein Blitz durch den Leib. Ich fühlte die Nähe des Grafen, der in einem Sturm von Erregung herangekommen zu sein schien. Meine Augen öffneten sich unwillkürlich, ich sah, wie seine Hand den weißen Nacken der schönen Frau ergriff und sie mit Riesenkraft zurückriss. Ihre blauen Augen waren wie verstört vor Wut, ihre Zähne knirschten und ihre feinen Wangen waren gerötet vor Leidenschaft. Und erst der Graf! Nie sah ich einen solchen Grimm, eine solche Wut. Der reine Dämon der Hölle! Seine Augen sprühten förmlich Flammen. Das rote Licht in ihnen brannte, als ob die ganze Glut des höllischen Feuers hinter ihnen lodere. Sein Gesicht war totenbleich, die Züge hart wie aus Stein gemeißelt; die dicken Augenbrauen, die sich über der Nase trafen, waren wie Barren weißglühenden Metalls. Mit einer stolzen Geste wies er das Mädchen von sich und ging dann auf die anderen zu, als wolle er sie zurücktreiben; es war dieselbe gebieterische Armbewegung, wie er sie den Wölfen gegenüber angewandt hatte. Mit einer Stimme, die, obgleich leise und fast geflüstert, dennoch die Luft zu durchschneiden und an den Wänden widerzuhallen schien, sagte er:
»Wie kann es eine von euch wagen, ihn anzurühren? Wie könnt ihr eure Augen auf ihn werfen, da ich es euch doch verboten habe? Zurück! sage ich euch. Dieser Mann ist mein. Hütet euch, dass ich euch nicht noch einmal bei ihm treffe, oder ihr habt meinen Zorn zu fürchten!« Das schöne Mädchen erwiderte mit einem gemeinen, koketten Lachen:
»Du hast nie geliebt und wirst nie lieben!« Darauf mischten sich die anderen Mädchen ein und es ertönte ein so trauriges, hartes, seelenloses Lachen, dass mir fast die Sinne schwanden; es war, als wenn Teufel scherzten. Dann drehte sich der Graf um, sah mich eine Weile aufmerksam an und sagte im leisesten Flüstertone:
»Ja, und ich kann doch lieben; ihr könnt doch selbst davon erzählen, von dem, was nun vorgegangen ist. Ist es nicht so? Gut, ich verspreche euch, dass, wenn ich genug von ihm habe, ihr ihn nach Gefallen küssen könnt. Aber jetzt geht! Geht nur! Ich muss ihn aufwecken, denn es gibt heute noch vieles zu tun.«
»Und sollen wir für den Abend leer ausgehen?«, sagte eine von ihnen mit leisem Lachen und deutete auf ein Bündel, das er auf die Erde geworfen hatte und das sich bewegte, als sei etwas Lebendes darinnen. Zur Antwort schüttelte er den Kopf. Eines der Mädchen sprang hinzu und öffnete das Bündel; wenn meine Ohren mich nicht täuschten, hörte ich das Stöhnen und leise Wimmern eines halberstickten Kindes. Die Mädchen drängten sich heran, während ich vor Schrecken starr wurde; aber als ich näher hinsah, verschwanden sie und mit ihnen das schreckliche Bündel. Es befand sich keine Tür in ihrer Nähe, und an mir konnten sie nicht vorbeigekommen sein, ohne dass ich es bemerkt hätte. Sie schienen einfach in den Strahlen des Mondes zu zerfließen und durch das Fenster zu entweichen, denn ich konnte außen noch einen Augenblick ihre unbestimmten schattenhaften Umrisse erkennen, ehe sie vollkommen verschwanden. Dann überwältigte mich das Grauen und ich verlor das Bewusstsein.
1 Die Awaren (auch Avaren) waren ein zentralasiatisches Reitervolk, dessen ethnische und sprachliche Herkunft noch nicht ausreichend erforscht worden ist. Sie beherrschten im Frühmittelalter über 200 Jahre lang Mitteleuropa von ihren Siedlungsgebieten in der Pannonischen Tiefebene und waren in dieser Zeit der wichtigste Machtfaktor zwischen dem Frankenreich und dem Byzantinischen Reich. <<<
2 Besetzung des heutigen Ungarn durch die Magyaren. <<<
3 Die dritte Schlacht auf dem Amselfeld fand zwischen dem 17. und dem 20. Oktober 1448 auf dem Kosovo Polje (Amselfeld) zwischen dem Königreich Ungarn, das eine römisch-katholische Koalition unter Johann Hunyadi gegen das Osmanische Reich unter Sultan Murad II. anführte, statt. Die Schlacht zog sich über drei Tage hin. <<<
4 Woiwode ist ein slawischer Herrschertitel. <<<
5 Kampfplatz; Schlachtfeld <<<
6 Mohács ist eine ungarische Stadt am rechten Donauufer, in der Nähe der Grenze zu Kroatien und zu Serbien. Die Stadt ist Grenzrevisionsstelle für Schiffe. <<<
(Fortsetzung)
Ich erwachte in meinem eigenen Bette. Wenn ich nicht alles geträumt habe, hat mich der Graf hierher getragen. Ich versuchte, mir über diese Sache Rechenschaft zu geben, konnte aber zu keinem unzweifelhaften Resultate kommen. Übrigens hatte ich doch einige kleine Anzeichen dafür, so z.B., dass meine Kleider in einer Weise gefaltet und neben mein Bett gelegt waren, die ich nicht mein eigen nenne. Meine Uhr war nicht aufgezogen, und es ist doch eine von mir stets peinlich genau eingehaltene Gewohnheit, dies zu tun, ehe ich ins Bett gehe; und noch mehrere solche Details. Aber all diese Dinge sind noch keine vollgültigen Beweise, denn sie könnten ebenso gut die Vermutung bestätigen, dass mein Geist eben nicht in normaler Verfassung war und dass ihn aus diesem oder jenem Grunde irgendetwas in Unordnung gebracht habe. Ich muss auf einen Beweis warten. Über eines jedoch bin ich recht froh: wenn es der Graf war, der mich hierher brachte, so muss es mit sehr großer Eile geschehen sein, denn meine Taschen waren unberührt. Ich bin sicher, dass er von dem Tagebuch keine Ahnung hatte, denn er hätte es nicht geduldet, sondern es mir bei dieser günstigen Gelegenheit entwendet und dann vernichtet. Wenn ich mich in diesem Zimmer umsehe, das bisher für mich so voll von Schrecken war, so ist es mir doch jetzt eine Art Asyl, denn es kann nichts Entsetzlicheres geben als jene drei unheimlichen Frauen, die darauf warteten – und noch warten – mein Blut zu trinken.
18. Mai. – Ich war wieder drunten, um das Zimmer im Lichte des Tages zu sehen; ich muss der Wahrheit auf den Grund kommen. Als ich die Türe am Ende des Stiegenhauses probierte, war sie verschlossen. Ich drückte so heftig dagegen, dass Holzteile wegsplitterten. Ich konnte bemerken, dass der Riegel nicht vorgeschoben war, aber das irgendetwas von innen her das Öffnen unmöglich machte. Ich glaube nun doch, es war kein Traum, und werde aufgrund dieser Mutmaßung handeln.
19. Mai. – Ich bin tüchtig an der Arbeit. Letzte Nacht bat mich der Graf in der höflichsten Weise, ich möchte drei Briefe schreiben; einen, dass meine Arbeit hier nahezu getan sei und ich in wenigen Tagen die Heimreise antreten werde, den zweiten, dass ich am folgenden Tage abzureisen gedenke, und den dritten, dass ich das Schloss verlassen hätte und in Bistritz angekommen sei. Ich wollte erst protestieren, fühlte aber, dass bei der gegenwärtigen Lage der Dinge es Wahnsinn wäre, offen gegen den Grafen zu kämpfen, in dessen absoluter Gewalt ich doch war; und eine Nichterfüllung seiner Bitte hätte nur seinen Zorn und seinen Argwohn erregt. Er weiß, dass ich zu viel von seinen Geheimnissen kenne, und ich darf nicht lebend davon kommen, da ich ihm gefährlich werden könnte; das einzige, was ich tun kann, ist Zeit zu gewinnen. Vielleicht bietet sich mir doch irgend eine Gelegenheit zur Flucht. Ich sah in seinen Augen einen Widerschein des Grimmes, der in ihnen gelodert hatte, als er die schöne Frau von meinem Leibe wegtrieb. Er erklärte mir seinen Wunsch damit, dass die Posten selten und unregelmäßig gingen und dass meine Freunde meine Nachrichten leichter erhielten, wenn ich gleich jetzt schriebe; und er versicherte mir mit seiner ganzen Beredsamkeit, dass mein letzter, von Bistritz datierter Brief dort bis zur fälligen Zeit aufbewahrt würde und dass man ihn dann eben nicht abgehen ließe, wenn ich etwa meinen Aufenthalt noch zu verlängern gedächte. Ich konnte ihm nicht widersprechen, wollte ich ihm nicht neue Verdachtsgründe gegen mich geben. Ich sagte daher, ich sei vollkommen seiner Ansicht, und fragte ihn, welche Daten ich auf die Briefe setzen sollte. Er rechnete einen Augenblick nach, dann antwortete er:
»Auf den ersten Brief 12. Juni, auf den zweiten 19. Juni und auf den dritten 29. Juni.«
Ich weiß nun, wie lange ich noch zu leben habe. Gott sei mir gnädig!
28. Mai. – Es gibt doch eine Möglichkeit, zu entkommen oder wenigstens ein paar Worte nach Hause wissen zu lassen. Eine Bande Sziganys1 ist ins Schloss gekommen und hat im Hofe Lager bezogen. Diese Sziganys sind Zigeuner; ich habe einige Notizen über sie in meinem Buche. Sie sind eine Eigentümlichkeit dieses Landstriches, aber verwandt mit den anderen Zigeunern, die über die ganze Welt zerstreut sind. Tausende von ihnen nomadisieren in Ungarn und Transsylvanien und sind fast vollkommen rechtlos. Sie stellen sich daher in der Regel unter den Schutz eines Edelmannes oder Bojaren, dessen Namen sie dann annehmen. Sie sind unerschrocken und ohne Religion, außer ihrem Aberglauben, und sprechen fast ausschließlich ihr eigenes Idiom der Zigeunersprache.
Ich will einige Briefe schreiben und versuchen, diese durch sie aufgeben zulassen. Ich habe schon durch mein Fenster mich mit ihnen in Verbindung gesetzt und Bekanntschaft mit ihnen angeknüpft. Sie nahmen ihre Hüte ab, verbeugten sich und machten mir Zeichen, die ich aber ebenso wenig verstand wie ihre Sprache.
Die Briefe habe ich nun geschrieben. Der an Mina ist stenografiert, und Herrn Hawkins bat ich nur, sich mit ihr ins Einvernehmen zu setzen. Ihr habe ich meine Lage klar geschildert, ohne der Schrecken Erwähnung zu tun, die ich mir vielleicht doch nur einbilde. Es würde sie zu Tode entsetzen, wenn ich ihr mein ganzes Herz ausschütten wollte. Sollten die Briefe nicht befördert werden, so soll der Graf wenigstens nicht mein Geheimnis und den ganzen Umfang meiner Erfahrungen wissen.
Ich habe die Briefe abgegeben; ich schob sie zusammen mit einem Goldstück den Zigeunern zu und machte ihnen Zeichen, dass die Briefe aufgegeben werden sollten. Der Mann, der sie an sich nahm, drückte sie ans Herz, verbeugte sich und steckte sie dann in seine Mütze. Mehr konnte ich nicht tun. Ich schlich mich ins Lesezimmer und begann zu studieren. Da der Graf nicht da ist, schreibe ich hier weiter…
Der Graf ist gekommen. Er setzte sich zu mir und sagte in der ruhigsten Weise, indem er zwei Briefe öffnete:
»Das haben mir die Sziganys gegeben und muss ich doch davon Kenntnis nehmen, wenn ich auch nicht weiß, woher die Briefe rühren. Sehen Sie« – er musste die Briefe angesehen haben – »einer ist von Ihnen und für meinen Freund Peter Hawkins; der andere«, er bemerkte beim Öffnen die ihm fremden Zeichen, ein finsterer Zug trat in sein Antlitz und seine Augen funkelten bösartig – »der andere ist ein garstiges Ding, ein Missbrauch von Freundschaft und Gastlichkeit! Er ist nicht unterschrieben. Gut. So geht er uns weiter nichts an.« Und er hielt ruhig Brief und Umschlag an die Flamme der Lampe, bis sie verzehrt waren. Dann fuhr er fort:
»Den Brief an Hawkins werde ich, da er von Ihnen ist, wegschicken. Ihre Briefe sind mir heilig. Sie verzeihen, mein Freund, dass ich versehentlich das Siegel erbrach. Wollen Sie den Brief nicht wider schließen?« Er reichte mir den Brief und übergab mir mit eleganter Handbewegung ein neues Couvert. Ich konnte nichts tun, als neuerdings das Schreiben zu adressieren und ihm schweigend auszuhändigen. Als er aus dem Zimmer trat, hörte ich ihn den Schlüssel leise umdrehen. Einen Augenblick später ging ich zur Türe und fand sie wirklich verschlossen.
Als nach zwei Stunden der Graf wieder ruhig das Zimmer betrat, weckte mich sein Kommen auf, denn ich war auf dem Sofa eingeschlafen. Er war, wie gewöhnlich, sehr höflich und liebenswürdig, und als er bemerkte, dass ich geschlafen habe, sagte er: »So, mein Freund, Sie sind müde? Gehen Sie zu Bette. Da finden Sie am sichersten Ruhe. Ich muss mir leider heute Abend das Vergnügen versagen, mit Ihnen zu plaudern, denn ich habe sehr viel zu tun; also gehen Sie bitte schlafen.« Ich begab mich in mein Zimmer, legte mich zu Bette und schlief ein, merkwürdigerweise ohne Traum. Es gibt auch eine Ruhe der Verzweiflung.
31. Mai. – Als ich am Morgen erwachte, wollte ich mich mit etwas Papier und einigen Umschlägen aus meinem Koffer versehen und sie in meiner Tasche verbergen, um einige Brief zu schreiben und sie vielleicht aufgeben lassen zu können. Aber wieder eine Überraschung, wieder ein Schlag!
Jede Spur von Papier war weg und damit alle meine Notizen, meine Eisenbahnfahrpläne, mein Kreditbrief; in der Tat alles, was mir wirklich nützlich sein könnte, wenn es mir wirklich gelänge zu entkommen. Ich saß und grübelte eine Weile, dann kam mir ein Gedanke und ich suchte nach meinem Handkoffer und in der Garderobe, in der ich meine Kleider aufgehängt hatte.
Mein Reiseanzug ist verschwunden, ebenso mein Überzieher und meine Decke. Ich konnte nirgends eine Spur davon entdecken. Das schien mir wieder eine neue Perfidie zu sein.
17. Juni. – Diesen Morgen, als ich auf dem Rande meines Bettes saß und mein Gehirn zermarterte, hörte ich draußen Peitschenknall und das Stampfen und Scharren von Pferdehufen auf dem felsigen Wege, der zum Schlosshofe führt. Voll Freude eilte ich zum Fenster und sah zwei große Leiterwagen hereinfahren, jeder gezogen von acht schweren Pferden, bei jedem Paar ein Slowake mit mächtigem Hut, breitem, messingbeschlagenem Gürtel, schmutzigem Schaffell und hohen Stiefeln. Ihre langen Stäbe trugen sie in der Hand. Ich rannte zur Türe, mit der Absicht, hinunterzugehen und durch den Haupteingang zu ihnen zu flüchten, für die doch das Tor geöffnet sein musste. Wieder eine Enttäuschung! Die Türe war von außen verschlossen.
Da rannte ich ans Fenster und rief sie an. Sie schauten stupid herauf und deuteten auf mich; dann kam der Hetman der Sziganys herbei, und als er sah, dass sie auf mein Fenster wiesen, sagte er etwas, und alle lachten. Von da ab konnte keine Bemühung meinerseits, kein verzweifeltes Schreien, kein todesbanges Flehen auch nur einen von ihnen veranlassen, den Kopf nach mir zu wenden. Sie wandten sich sichtlich ab. Die Leiterwagen enthielten große, viereckige Kisten mit Handgriffen aus dickem Strick; sie waren offenbar leer, nach der Leichtigkeit zu schließen, mit der die Slowaken mit ihnen herumwarfen, und dem hohlen Gepolter, das sie dabei machten. Als sie alle abgeladen und in einem großen Stapel in einer Ecke des Hofes zusammengestellt waren, erhielten die Slowaken Geld von dem Szigany; sie spuckten darauf, damit es ihnen Glück bringen möchte, und begaben sich dann schläfrig zu ihren Pferden. Bald darauf hörte ich, wie das Klatschen ihrer Peitschen allmählich in der Ferne verhallte.
24. Juni. – Vor Tagesanbruch. – Letzte Nacht verließ mich der Graf frühzeitig und schloss sich in seinem Zimmer ein. Sobald ich frei war, rannte ich die Wendeltreppe hinauf und spähte aus dem Fenster nach Süden. Ich hatte die Absicht, dem Grafen aufzupassen, denn irgendetwas ist im Gange. Die Sziganys sind im Schlosse untergebracht und verrichten irgend eine Arbeit. Ich weiß es gewiss, denn hier und da höre ich, wie aus weiter Ferne, die gedämpften Laute von Spaten und Hacke. Was es auch sein mag, der Zweck der Arbeit ist sicherlich eine grausame Schurkerei.
Etwas weniger als eine halbe Stunde hatte ich am Fenster gestanden, da kroch etwas aus des Grafen Zimmer. Ich lehnte mich zurück, sah aber gespannt hinaus und bemerkte, wie der Mann ganz hinauskletterte. Es war ein neuer Schreck für mich, als ich erkannte, dass er meine Reisekleider trug und über seinen Schultern das unheimliche Bündel, das ich die gespenstischen Frauen kürzlich hatte mitnehmen sehen. Über den Zweck seines Ausfluges war wohl kein Zweifel mehr möglich, aber noch dazu in meinen Kleidern! Das ist sein neuester Trick: er will, dass andere meinen, mich gesehen zu haben, wie ich ihn Städten oder Dörfern eigenhändig meine Briefe aufgab, und dass die Verbrechen, die er verübt, mir zugemutet werden. Es macht mich rasen, wenn ich daran denke, dass er so etwas ungestraft tun kann, während er mich hier eingesperrt hält; ein wirklicher Gefangener, aber ohne den Schutz des Gesetzes, der selbst des Verbrechers Recht und Trost ist. Ich wollte dann auf die Rückkehr des Grafen warten und blieb unverdrossen lange Zeit am Fenster stehen. Plötzlich schien mir, als tanzten einzelne kleine Fleckchen im Mondlicht. Sie waren fein wie Staub, wirbelten umher und bildeten nebelartige Schwärme. Ich sah ihnen mit einer gewissen Ruhe zu, es kam sogar eine Art Behagen über mich. Ich lehnte mich lässig an den Fensterpfeiler zurück, um so bequemer dem lustigen Spiel zusehen zu können.
Etwas jedoch flößte mir Unbehagen ein; es war ein leises, wehes Heulen von Hunden irgendwo tief unten im Tale, wohin aber die Aussicht nicht reichte. Es kam mir vor, als klänge das Heulen immer lauter und als bemühten sich die flatternden Staubwolken, immer neue Gestalten anzunehmen, während sie da im Mondscheine tanzten. Ich fühlte es, wie ich mich gegen die Stimme der Vernunft wehrte; ja meine ganze Seele wehrte sich dagegen, und auch die wiedererwachten Empfindungen hinderten mich daran, ihr zu folgen. Ich wurde einfach hypnotisiert! Rascher und rascher tanzte der Staub und die Mondstrahlen schienen zu zittern; mehr und mehr sammelten sich die Gestalten, bis sie endlich schwankenden Phantomen glichen. Plötzlich erschrak ich, ich erwachte, und im wiedererlangten Besitz meiner Sinne rannte ich schweigend davon. Die Phantome, die sich da allmählich im Mondschein materialisiert hatten, waren die drei gespenstigen Mädchen, denen ich verfallen war. Ich floh und fühlte mich erst in meinem Zimmer etwas sicherer, wo kein Mond schien und die Lampe noch freundlich brannte.
Als ein paar Stunden vorbei waren, hörte ich etwas Entsetzliches aus dem Zimmer des Grafen, etwas wie eine tiefe Wehklage, die rasch unterdrückt wird; dann eine furchtbare Totenstille, die mich mit Schaudern erfüllte. Mit klopfendem Herzen ging ich zur Türe, um sie zu öffnen; aber ich war in meinem Gefängnis eingeschlossen; ich konnte nichts, gar nichts tun. Ich setzte mich hin und weinte.