Loe raamatut: «Im Schatten des Feldmarschalls: Geschichten aus dem Powder-Mage-Universum»

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IM SCHATTEN DES FELDMARSCHALLS BRIAN MCCLELLAN

Geschichten aus dem Powder-Mage-Universum

Ins Deutsche übersetzt von

Johannes Neubert



Die deutsche Ausgabe von DIE POWDER-MAGE-CHRONIKEN:

IM SCHATTEN DES FELDMARSCHALLS – GESCHICHTEN AUS DEM POWDER-MAGE-UNIVERSUM

wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Johannes Neubert;

verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Kerstin Feuersänger;

Korrektorat: Peter Schild; Satz: Rowan Rüster; Cover-Illustration: René Aigner;

Printausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohořelice.

Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe:

IN THE FIELD MARSHAL’S SHADOW: STORIES FROM THE POWDER MAGE UNIVERSE

HOPE’S END copyright © Brian McClellan, 2013. All rights reserved.

THE GIRL OF HRUSCH AVENUE copyright © Brian McClellan, 2013. All rights reserved.

GREEN-EYED VIPERS copyright © Brian McClellan, 2015. All rights reserved.

THE FACE IN THE WINDOW copyright © Brian McClellan, 2014. All rights reserved.

RETURN TO HONOR copyright © Brian McClellan, 2015. All rights reserved.

THE SIEGE OF TILPUR copyright © Brian McClellan, 2015. All rights reserved.

German translation copyright © 2021, by Cross Cult.

Print ISBN 978-3-96658-319-0 (März 2021)

E-Book ISBN 978-3-96658-320-6 (März 2021)

WWW.CROSS-CULT.DE


INHALT

Himmelfahrtskommando

Das Mädchen von Hrusch Avenue

Die grünäugige Viper

Das Gesicht im Fenster

Verlorene Ehre

Die Belagerung von Tilpur


HIMMELFAHRTSKOMMANDO

Achtzehn Jahre vor den Ereignissen aus »Blutschwur«

Captain Verundish dachte darüber nach, sich umzubringen.

Die Pistole lag in ihrem Schoß; der Lauf war geladen, der Hahn gespannt und die Pulverpfanne befüllt.

Es würde ein Leichtes sein, den Lauf in den Mund zu nehmen, die Mündung nach oben auf ihr Gehirn zu richten und abzudrücken. Irgendein armer Infanterist würde das Blut und die Knochenstückchen von der Rückwand ihres Zeltes waschen müssen – oder vielleicht würden sie es einfach nur abbauen und verbrennen. Ihre Leiche würde zurück nach Adro überführt werden, wo sie …

Ach, wieso sich darum kümmern, was danach passierte? Nichts davon würde für sie irgendeine Rolle spielen.

Sie legte ihre Finger um den Griff der Pistole, die einst ihrem Großvater gehört hatte. Der Griff hatte eine glatte, abgenutzte Oberfläche, und sie war froh, dass sie so wenige Angehörige zurücklassen würde, die um sie trauerten. Würden sie überhaupt um sie trauern, wenn sie sich für den feigen Ausweg entschied?

Würde Genevie sich an ihre Mutter erinnern?

Ein Brief lag auf dem Tisch neben ihrem Feldbett. Der Absender war ein junger Mann, der sich zwar dem Gesetz nach als ihr Ehemann bezeichnen konnte, aber abgesehen davon keinerlei Anspruch darauf hatte, sich so zu nennen. Verundish wollte den Brief verbrennen und dessen Inhalt vernichten.

Vor ihrem Zelt grüßte eine bekannte Stimme jemanden. Verundish schob die Pistole unter ihr Kissen und klopfte sich gerade noch die letzten Reste Schießpulver aus dem Schoß, als ein Mann die Zelttür aufwarf.

Captain Constaire betrat das Zelt und zog seinen Hut mit einer schwungvollen Bewegung. Er war ein großer, gertenschlanker Mann; sein langes, braunes Haar hatte er über einer Schulter zurückgebunden, und er hatte die schelmischen Augen eines Spaßvogels. Seine dichten Koteletten reichten bis zu seinen Mundwinkeln, und seine Uniform hing locker von seinem drahtigen Körper.

Er kam zu ihr, beugte sich herunter und küsste sie auf den Mund, was ihre Proteste im Keim erstickte. Einen Moment später küsste sie ihn zurück, und nach viel zu kurzer Zeit riss Constaire sich mit einem Grinsen im Gesicht von ihr los. »Liebes«, sagte er, »ich wollte nur kurz vorbeischauen auf meinem Weg zu General Tamas.«

Verundish zog die Augenbrauen hoch. »Die Beförderung?«

»Ich denke schon.« Constaire richtete sich zu seiner vollen Größe auf, wobei sein Kopf die Spitze ihres Zeltes anhob, und tat so, als würde er sich einen Umhang über den Arm werfen. »Das nächste Mal, wenn wir uns sehen, werde ich Major Constaire sein.«

Verundish lehnte sich auf ihrem Feldbett zurück und betrachtete den Mann.

»Du bist ein Narr.«

»Aber du liebst mich trotzdem.«

»Ich bin keine kluge Frau.«

Er hielt inne, so als spüre er, dass etwas nicht stimmte. »Verie?«

Sie schüttelte leicht den Kopf als eine Warnung, nicht nachzufragen.

Er ignorierte sie.

»Was ist los?«

»Nichts.«

»Sag es mir. Hat er noch einen Brief geschickt?« Seine Augen wanderten zu dem Umschlag auf dem Tisch neben ihrem Feldbett. »Dieser verdammte Mistkerl! Was will er diesmal? Geht es Genevie gut?«

»Es ist nichts«, sagte Verundish leise. Constaire machte es ihr nicht leicht. Es wäre besser, wenn sie keinen Liebhaber hätte, niemanden, der sich ihren Tod zu Herzen nehmen würde. Das würde die Dinge einfacher machen. Sie tat einen tiefen Atemzug und rief sich ins Gedächtnis, dass das hier nur eine Soldatenliebe war. Früher oder später würde der Feldzug enden und sie beide nach Hause zurückkehren. Constaire würde sich eine jüngere Frau suchen, und Verundish würde zurückkehren in ein kaltes Haus mit einem verabscheuungswürdigen Ehemann.

Nun. Sie würde nicht dorthin zurückkehren müssen, wenn sie sich umbrächte.

Constaire ging auf ein Knie. »Lass dich von ihm scheiden«, sagte er. »Heirate mich. Ich werde gleich zum Major ernannt. Wir könnten nach Adopest zurückgehen und Genevie von diesem Monster befreien.«

Oh, dieser Narr. Er streute ihr bloß Salz in die Wunde. »Das meinst du nicht ernst.«

»Doch, tue ich. Todernst.«

Wenn es doch nur so einfach wäre. Aber das Leben, hatte ihre Mutter ihr immer gesagt, war niemals einfach. »Er wünscht sich eine Scheidung noch mehr als ich«, sagte Verundish.

»Perfekt! Beantrage eine Scheidung und heirate mich.«

»Weißt du, wer mein Vater ist?«

Constaire wirkte verblüfft. »Ich glaube, du hattest gesagt, er sei ein Priester.«

»Ja. Er ist der Priester, der uns getraut hat, und er würde die Papiere unterzeichnen müssen, die meine Scheidung rechtskräftig machen.«

Constaire machte ein langes Gesicht und ließ sich nach hinten sinken, bis er auf dem Boden ihres Zeltes saß. »Und er glaubt nicht an Scheidung. Ist es das?«

»Er denkt, dass es eine Sünde gegen Kresimir ist. Er denkt, dass es besser ist, dass ich diese Ehe durchstehe mit einem Mann, der mich betrügt und klaut und lügt und meiner Tochter Schläge androht, als geschieden zu werden.«

»Es tut mir leid, das sagen zu müssen, meine Liebe, aber dein Vater ist ein Narr.«

»Ich weiß. Ich habe ihm das bereits ins Gesicht gesagt. Du bist spät dran für dein Treffen mit dem General. Du gehst jetzt besser.« Sie lehnte sich nach vorne und berührte seine Knie, dann strich sie ihm mit dem Daumen über die Wange. »Komm wieder, wenn du durch bist, und dann feiern wir.«

Constaire verließ das Zelt mit den federnden Schritten eines jungen Mannes, dessen Welt rosig aussah. Verundish behielt ihr Lächeln im Gesicht, bis er weg war, dann ließ sie es fallen wie eine abgenutzte Maske.

Sie hob den Brief auf und las den letzten Absatz.

Dein Vater will immer noch nicht in die Scheidung einwilligen. Ich habe die Absicht, meine Geliebte bis Ende des Jahres zu heiraten. Entweder du sorgst dafür, dass wir geschieden werden, oder du bringst dich um. Wenn ich dich nicht innerhalb von drei Monaten los bin, werde ich das Mädchen an einen starländischen Sklavenhändler verkaufen.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber als sie Constaires Stimme vor ihrem Zelt ihren Namen rufen hörte, starrte Verundish den Brief immer noch an. Sie rührte sich und bemerkte das ferne Donnern der adronischen Artillerie, die auf die gurlische Festung Darjah einhämmerte. Sie konnte den Lärm ihrer Kampfgefährten hören, die sich auf das Abendessen vorbereiteten.

Sie hatte vorgehabt, bei Constaires Rückkehr deutlich weniger anzuhaben. Sie mühte sich zu lächeln. Das war das Mindeste, was sie tun konnte.

Moment. Etwas stimmte nicht. Constaire rief niemals mit ihrem vollen Namen nach ihr. Er war der Einzige in der Armee, der die Frechheit besaß, sie »Verie« zu nennen. Er war der einzige Mann in der Armee, dem sie das durchgehen lassen würde. Und sie konnte sich nicht an das letzte Mal erinnern, dass er gefragt hatte, bevor er ihr Zelt betreten hatte.

»Herein«, sagte sie.

Constaires übliches Lächeln war verschwunden, und seine Augen waren blicklos und gequält, als er hereinkam. Verundish hatte einen ähnlichen Gesichtsausdruck bei Männern gesehen, die bei Kanonenbeschuss eine Gliedmaße verloren hatten oder hatten zusehen müssen, wie ein Freund neben ihnen niedergeschossen wurde.

»Was ist los?«, fragte sie und verstaute ihre eigenen Sorgen in ihrem Hinterkopf. Sie würde heute Nacht noch genügend Zeit haben, sich zu erschießen, nachdem Constaire gegangen war.

»Darf ich mich setzen?«, fragte er. Sein Blick wich ihrem aus.

Verundish erinnerte sich an all die Male, in denen er in ihr Zelt gestürmt war und sie hochgehoben hatte und sie dann beide lachend auf ihrem Feldbett gelandet waren. Ihre Sorge vertiefte sich. »Natürlich.« Sie zog die Decken glatt, wobei sie die geladene Pistole unter ihrem Kissen unauffällig in ein besseres Versteck unter ihrem Feldbett legte.

Constaire setzte sich neben sie auf das Feldbett. Sie nahm seine Hand und bemerkte den starken Kontrast zwischen seiner zarten, weißen Haut und ihren dunklen, rauen Fingern. Constaire hatte in seinem ganzen Leben keinen Tag gearbeitet, aber Verundish machte ihm dafür keinen Vorwurf. Es war seine sorglose Art, die ihn für sie überhaupt erst attraktiv gemacht hatte.

»Sie haben mich dazu ausgewählt, das Himmelfahrtskommando gegen Darjah anzuführen«, sagte Constaire.

Verundish stockte der Atem. »Nein. Ich dachte, du warst für eine Beförderung vorgesehen!«

»Falls ich überlebe, werde ich zum Major befördert.« Ein müder Hauch eines Lächelns huschte ihm über die Lippen und verschwand wieder. Er neigte den Kopf nach vorne wie zum Gebet.

Das Himmelfahrtskommando. Die vorderste Stoßtruppe bei einem Sturmangriff auf eine feindliche Festung. Die Ersten, die durch die Bresche gingen und sich aufgepflanzten Bajonetten, Kanonen und Magie stellten. Mitglieder des Himmelfahrtskommandos überlebten nur selten die erste Salve, geschweige denn die Eroberung der Festung.

»Gibt es nichts, was du tun kannst?«, fragte Verundish.

Constaire schüttelte den Kopf. »Der Befehl kam direkt von General Tamas.« Sein Auge zuckte. »Ich glaube, ihm gefällt nicht, dass mein Vater mir diesen Offiziersposten erkauft hat.«

General Tamas war berüchtigt für seine Überzeugung, dass ein Offiziersrang verdient und nicht erkauft sein sollte. Er setzte Adlige häufig gefährlichen Situationen aus, um sie auf die Probe zu stellen. Seine Ansichten kamen den Bürgerlichen unter seinem Kommando zugute, und die Männer liebten ihn dafür. Aber das hier ging zu weit. Constaire würde sterben.

»Wieso ein Himmelfahrtskommando? Wieso jetzt?«

Constaire betrachtete seine Stiefel. »Feldmarschall Beravich hat befohlen, dass die Stadt unverzüglich eingenommen wird. Ich mag mir gar nicht vorstellen, welche Druckmittel er gegen General Tamas in der Hand hält.«

»Wann ist es so weit?«, fragte Verundish.

»In drei Tagen. Bis dahin verdoppeln wir den Artilleriebeschuss. Die Privilegierten sagen, dass sie eine Schwachstelle in der Mauer entdeckt haben und sie in der Nacht des Angriffs ausnutzen werden. Sie werden eine Bresche schlagen, die gerade groß genug ist, dass wir in die Festung eindringen können.«

Verundish lehnte sich auf ihrem Feldbett zurück. Es war tatsächlich möglich, dass es die Privilegierten-Magier schaffen könnten, mit ihrer mächtigen Elementarmagie endlich eine Bresche in die Mauer zu schlagen. Dennoch war ein Himmelfahrtskommando eine recht weit verbreitete Taktik. Die Gurlaner würden darauf vorbereitet sein.

»Ich sollte fliehen«, sagte Constaire.

»Dann wirst du zum Feigling erklärt werden.«

»Lieber ein lebender Feigling als ein toter Held.«

Verundish drückte seine Hand. »Du würdest nicht weit kommen. Du weißt, was General Tamas von Deserteuren hält. Er würde dich fangen und hängen, und dann wärst du sowohl ein Feigling als auch tot.«

»Ich kann es schaffen«, sagte Constaire. »Ich habe Freunde …« Er verstummte und schien seine Optionen durchzudenken.

»Tu es nicht«, bat Verundish.

Ein Hauch von Zweifel huschte über Constaires Gesicht.

»Bleib hier heute Nacht«, sagte Verundish. »Und versprich mir, dass du bis morgen nichts Unüberlegtes tust.«

Sie nahm Constaire in ihre Arme und dachte, dass sie vielleicht für beide Probleme eine Lösung hatte.


General Tamas war kein Mann, den man verärgern wollte.

Der Sohn eines Apothekers war der erste Bürgerliche, der jemals den Rang eines Generals der adronischen Armee innehatte. Das Volk liebte ihn, und der König respektierte ihn. Er war sowohl ein Taktiker als auch ein Krieger und der einzige Pulvermagier in den ganzen Neun, der eine so hohe Position bekleidete.

Gerüchten zufolge fürchteten ihn sogar die Privilegierten-Magier des königlichen Kabals.

Und zwar zu recht. Pulvermagier konnten sich gewöhnliches Schießpulver einverleiben und dadurch stärker und schneller werden als normale Menschen. Sie konnten ihre Magie dazu nutzen, eine Kugel über ein ganzes Schlachtfeld fliegen zu lassen und ihr Ziel aus mehr als einer Meile Entfernung zu töten. Sie waren einige der effektivsten und fähigsten Killer in der ganzen Armee.

Es war der Morgen nach Constaires Besuch bei Verundish. Sie stand in Habachtstellung in der Ecke von Tamas’ Kommandozelt, mit den Händen an den Seiten, den Beinen zusammen und durchgestrecktem Rücken. Der General war über einen großen Tisch gebeugt, auf dem er eine Geländekarte von Gurla mit den Händen glatt hielt. Seine Augen überflogen das vergilbte Papier mehrere Minuten lang; seine Lippen bewegten sich leicht, während er etwas im Kopf ausrechnete.

»Diese Karte«, sagte er und durchbrach die Stille, die über fünfzehn Minuten angedauert hatte, »ist fast zweihundert Jahre alt.«

»Sir?«, fragte Verundish.

»Zweihundert Jahre alt, Captain. Wir haben die beste Armee der gesamten Welt, und wir kriegen es nicht hin, eine aktuelle Karte von diesem verdammten Gebiet zu besorgen. Kann ich Ihnen helfen, Captain?«

Verundish öffnete den Mund, doch Tamas unterbrach sie, bevor sie etwas sagen konnte.

»Darjah ist eine der ältesten Festungen in ganz Gurla. Die Mauern sind durchzogen von Schutzmagie, und der Boden um die Festung herum ist voller Schutzzauber, die einen Mann töten können, wenn er darauf tritt.« Tamas stieß sich vom Tisch ab und fing an, an einem Ende des Zeltes auf und ab zu gehen.

»Feldmarschall Beravich hat mir gerade mal eine halbe Brigade und nur vier Privilegierten-Magier gegeben. Hundert Mann könnten Darjah gegen uns halten, und der Schah, der sich dort verschanzt, hat über tausend Mann. Und sieben Privilegierte. Sieben!«

Tamas ließ sich in einer Ecke des Zeltes auf einen Stuhl fallen und drehte den Kopf zu Verundish. »Beravich liebt es, mich versagen zu sehen. Ganz besonders, weil es so selten vorkommt. Es interessiert ihn nicht, wie viele Männer dafür sterben müssen, dass es passiert. Also, warum wollten Sie mich sehen?«

Wieso erzählte Tamas ihr das alles? Die meisten Offiziere würden es als unprofessionell ansehen, mit jemandem von niedrigerem Rang so geradeheraus zu sprechen. Verundish räusperte sich.

Tamas hob einen Finger und unterbrach sie wieder. »Ich sollte Ihnen sagen, dass hier den ganzen Morgen lang Soldaten ein- und ausgegangen sind und mich gebeten haben, meinen Befehl zurückzunehmen, dass Captain Constaire das Himmelfahrtskommando anführt. Ich weiß, dass Sie seine Liebhaberin sind. Es ist mir egal, wie beliebt der Mann ist, er wird den Angriff anführen. Jeder hier muss irgendwann sein Leben riskieren. Sind Sie deswegen hier? Um meine Zeit zu verschwenden?«

Das Letzte, was Verundish wollte, war, Tamas’ ohnehin schon schlechte Laune noch zu verschlimmern. Sie zwang sich, keinen Streit mit ihm anzufangen. »Ganz im Gegenteil, Sir. Ich bin hier, um mich als Ersatz für Constaire anzubieten.«

Der Stuhl knarzte, als Tamas sich zurücklehnte und nachdenklich über seinen schwarzen Schnurrbart strich. Einen Moment lang meinte Verundish, sehen zu können, wie sich Tamas’ Gedanken hinter seinen strengen braunen Augen neu formierten, als er sie einzuschätzen versuchte.

»Interessant«, sagte er und erhob sich. »Sie sind eine intelligente, mutige, junge Offizierin. Wenn Sie sich in den kommenden Jahren beweisen, stehen Ihnen wahrscheinlich mehrere Beförderungen bevor. Constaire hingegen ist ein Fatzke. Er hat keinen Wert für mich. Wieso zur Grube sollte ich zulassen, dass Sie an seiner Stelle sterben?«

»Jung« hatte er sie genannt, obwohl Tamas, ein Mann in seinen Vierzigern, nicht mehr als ein Jahrzehnt älter sein konnte als sie.

»Weil ich mich freiwillig gemeldet habe«, sagte Verundish. »Und Sie wissen, dass ein Sturmangriff effektiver ist, wenn er von einem Freiwilligen angeführt wird.«

»Höre ich da aus Ihrer Stimme einen herausfordernden Ton heraus, Captain?«, fragte Tamas. »Nein, beantworten Sie das nicht. Ich habe es immer gehasst, wenn ein vorgesetzter Offizier mich dazu gezwungen hat, mich zwischen meinem Stolz und Unaufrichtigkeit zu entscheiden. Das werde ich Ihnen nicht antun.« Er hielt inne, um etwas Schwarzpulver unter seinen Nägeln zu entfernen. »Vielleicht habe ich die Anweisung von meinen Vorgesetzten, dass Constaire den Angriff anführen soll.«

Verundish spürte, wie ihr Herz ein wenig schneller schlug. So eine Anweisung könnte nur von Feldmarschall Beravich oder dem König persönlich kommen. War Constaire in irgendeine Art von Verschwörung verstrickt? Oder war er ein Bauernopfer in den Ränkespielen irgendeines Adligen?

»Die habe ich aber natürlich nicht«, sagte Tamas und wischte den Gedanken mit einem Lächeln fort. »Darf ich fragen, warum Sie Ihr Leben für Constaire opfern würden? Abgesehen von Ihrer deplatzierten Zuneigung für diesen Narren?«

»Manchmal ist der Angriff erfolgreich, Sir. Und wenn er das sein sollte, steht mir eine sofortige Beförderung zu. Ich wäre eine Heldin, Sir.«

»Das ist verdammt optimistisch von Ihnen«, murmelte Tamas. Er stand auf und gab ihr zu verstehen, dass das Treffen beendet war. »Ich werde darüber nachdenken, Captain«, sagte er. »Sie werden heute Abend Ihre Antwort bekommen.«


Den Rest des Tages fühlte Verundish sich wie benebelt.

Sie hatte einen Ausweg. In zwei Tagen würde sie ein Himmelfahrtskommando durch die Bresche hinein in das Feuer der Musketen und die Magie der Privilegierten führen und fast augenblicklich fallen. Sie würde einen Heldentod sterben und ein Heldenbegräbnis bekommen, und Genevie könnte stolz sein auf ihre Mutter, die sie kaum kannte.

Ihr verhasster Ehemann würde Genevie in die Obhut von Verundishs Vater und Mutter übergeben, und sie würde den Rest ihres Lebens von Verundishs großzügiger Pension leben können.

Falls General Tamas es ihr gestattete, den Angriff anzuführen.

Sie ging gerade durch das Lager und inspizierte ihre Kompanie, als Constaire sie fand.

Ohne ein Wort zu sagen, packte er sie fest am Arm und führte sie hinter den Pavillon eines Obersten, wo sie einigermaßen unter sich waren.

»Was hast du vor?«, forderte sie und schüttelte sich aus seinem Griff los.

»Nein«, zischte er, »was hast du vor?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

Constaires Gesicht war rot vor Wut. In den vier Jahren, in denen sie jetzt gemeinsam auf Feldzug waren, hatte sie ihn noch nie so wütend gesehen. »Ich wurde gerade von General Tamas darüber informiert, dass du dich freiwillig dazu gemeldet hast, meinen Platz in dem Himmelfahrtskommando einzunehmen. Das werde ich nicht erlauben!«

»Es gibt nichts, das du mir nicht erlauben kannst«, sagte sie.

»Hältst du mich für einen Feigling?« Constaire stampfte mit dem Fuß auf. Es war unheimlich kindisch, und Verundish fragte sich, ob er vielleicht etwas Übung darin brauchte, wütend zu sein. »Meinst du etwa, ich schaffe es nicht? Wieso tust du so etwas?«

Sie dachte an all die Gründe, die sie ihm aufzählen könnte, und legte ihm ihren Finger auf die Lippen. Er war ein Feigling, aber jetzt war nicht der richtige Moment, das auszusprechen.

»Ich halte dich nicht für einen Feigling«, sagte sie. »Aber ich weiß, dass du es nicht schaffen wirst.«

»Du würdest an meiner Stelle sterben?«

Sein Gesicht wirkte in diesem Moment so verletzlich, dass Verundish sich fragte, ob er es doch tatsächlich ernst gemeint hatte, als er ihr angeboten hatte, sie zu heiraten. Sie hatte angenommen, dass es einfach nur eine ungestüme Liebeserklärung gewesen war, hinter der keine Substanz gesteckt hatte. Soldaten heirateten nicht untereinander.

»Das würde ich«, sagte sie. Sie erzählte ihm nicht, dass sie sich sicherlich selbst das Leben nehmen würde, wenn es die Gurlaner nicht schaffen sollten.

»Nein. Das kann ich nicht zulassen. Ich mag zwar ein Feigling sein, Verie, aber ich bin nicht feige genug, um dich meinen Platz einnehmen zu lassen.«

»Du hast keine Wahl. Anscheinend hat der General seine Entscheidung getroffen.« Sie war überrascht, dass Constaire vor ihr davon gehört hatte.

Constaire strich seine Uniform glatt. »Ich werde auf der Stelle zum General gehen und fordern, dass er mich den Angriff anführen lässt. Das ist mein Recht!«

»Niemand fordert irgendetwas von Tamas«, sagte sie.

»Ich schon!«

Sie nahm ihn am Arm und legte ihm eine Hand auf die Brust. »Tu das nicht, du Narr. Das Einzige, was du vom General bekommen wirst, ist eine Rüge.« Sie legte ihm wieder einen Finger auf die Lippen. »Ich muss jetzt erst mal meine Angelegenheiten in Ordnung bringen. Komm mich heute Nacht besuchen. Wenn ich in zwei Tagen sterben sollte … nun, dann will ich die Zeit bis dahin genießen.«


Am Morgen vor dem Angriff wurde Verundish noch einmal zu General Tamas bestellt.

Als sie sich seinem Zelt näherte, wurde sie von der Furcht ergriffen, dass er sich dazu entschieden hatte, ihrer Bitte nicht nachzukommen. Dass Constaire doch den Angriff anführen würde und sie sich eine Kugel in den Kopf jagen müsste, um Genevie zu retten.

Als sie ankam, wirkten die beiden Wachen vor dem Zelt des Generals nachdenklich und verschlossen. Einer der beiden kündigte sie an, und sie wurde durchgewinkt.

Sie betrat das Zelt; der Protest, der ihr auf den Lippen lag, erstarb, während sie den Innenraum betrachtete.


Der Schreibtisch des Generals war umgeworfen worden, und der Boden und die Wand des Zeltes waren voller Tinte, Papiere und verstreutem Schießpulver. Der massive Eichentisch, auf dem seine zweihundert Jahre alte Karte gelegen hatte, war in der Mitte durchgebrochen, und ein eiserner Kerzenhalter, der auf seinem Schreibtisch gestanden hatte, war nur noch ein Haufen verbogenes Metall.

General Tamas saß mit überkreuzten Beinen auf einem Stuhl in der Ecke – dem einzigen unzerstörten Möbelstück im Zelt – und betrachtete die Zerstörung mit saurer Miene.

»Sir?«, fragte Verundish.

Er schaute einen Moment hoch, dann wieder zu seinem Schreibtisch. Der Schreibtisch war riesig. Es brauchte bestimmt vier Männer, um ihn zu tragen, und mindestens zwei, um ihn umzuwerfen. Aber Tamas war alleine.

Der General stand auf und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.

»Captain«, sagte er. »Danke, dass Sie da sind. Ich hatte gerade eine Unterhaltung mit dem Privilegierten Zakary, dem neuen Bannwart des königlichen Kabals.«

Es war kein Geheimnis, dass nur der König selbst Tamas und den königlichen Kabal davon abhielt, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen, aber Zakarys Besuch erklärte nicht den kaputten Tisch.

»Hat er das getan, Sir?«, fragte Verundish. Diese Respektlosigkeit machte sie wütend. Niemand hatte das Recht, in Tamas’ Zelt zu kommen und ihn so zu erniedrigen. Er war ein General. Ihr General!

»Was?« Tamas wirkte einen Moment lang aufrichtig verwirrt, als er ihrem Blick zu dem Chaos folgte. »Oh. Nein, das ist erst passiert, als er weg war. Bald wird jemand kommen und das aufräumen. Zakary hat mich besucht, um mir mitzuteilen, dass kein Privilegierter an dem Himmelfahrtskommando auf Darjah heute Nacht teilnehmen wird. Sie werden nur aus der Entfernung Unterstützung leisten.«

Verundish spürte, wie ihr der Atem stockte. Keine Privilegierten? Kein einziger? Bei einem Himmelfahrtskommando war immer ein Privilegierter dabei – normalerweise ein junger und dummer oder ein krankhaft ehrgeiziger, aber immerhin ein Privilegierter. Ohne eigenen Privilegierten würde das Himmelfahrtskommando nichts haben, was sie der gurlischen Magie entgegensetzen konnten, die von den Mauern auf sie herabregnen würde.

Verundish atmete einmal angestrengt durch. Sie würde heute Nacht sterben. Es führte kein Weg daran vorbei. Das war es, was sie wollte. Aber so klar zu wissen, dass ihr Tod sinnlos sein würde …

»Außerdem hat mir Feldmarschall Beravich verboten, am Angriff teilzunehmen«, fuhr Tamas fort. »Normalerweise halte ich mich etwa eine Meile hinter der Front auf, bei der Artillerie, und schieße auf die feindlichen Privilegierten, wenn sie bei der Verteidigung gegen das Himmelfahrtskommando aus der Deckung gehen. Aber es hat ganz den Anschein, als würde selbst das mir verboten werden.«

Tamas blies die Nasenflügel auf, und seine Stimme wurde lauter, während er sprach. »Die verfluchten Idioten wollen mir bloß beim Scheitern zusehen. Sie schicken Männer in den Tod – gute Männer –, nur um mir eins auszuwischen! Diese verdammten Hunde. Wenn ich die Macht hätte, jeden Privilegierten in Adro zu töten, würde ich es augenblicklich tun.«

Verundishs Herz schlug schneller, und sie hatte Angst. Nicht um sich selbst. Nein, ihr Leben war verwirkt. Aber General Tamas war einer der wenigen Generäle in der Armee, der sich aufrichtig um seine Männer zu sorgen schien. Er hatte die Loyalität von Soldaten jedes Dienstgrades und hatte dafür gesorgt, dass die Soldaten unter seinem Kommando Beförderungen nach Verdienst erhalten konnten.

Wenn der königliche Kabal jemals erfahren sollte, dass er solche Dinge sagte, würden sie ihn augenblicklich töten, selbst wenn er in der Gunst des Königs stand.

Tamas schüttelte den Kopf. »Captain, Sinn und Zweck eines Himmelfahrtskommandos ist es, eine Festung mit einem Überraschungsangriff einzunehmen. Es funktioniert nicht häufig, aber es hat schon funktioniert. Aber nicht ohne Privilegierte. Ohne einen Privilegierten schicke ich einfach nur eine ganze Kompanie in den Tod. Fehlschlag garantiert. Aber ich habe meine Befehle.«

»Jawohl, Sir.«

»Und das ist in Ordnung für Sie?«

»Ich werde meine Befehle befolgen, Sir.«

»Ich gebe Ihnen hier die Gelegenheit, es sich noch einmal zu überlegen, Captain.«

»Ich werde den Angriff anführen, Sir.«

Tamas verengte die Augen. »Wieso?«

Wenn die Gurlaner mich nicht töten, muss ich es selbst tun, deswegen. »Das würde ich lieber für mich behalten, Sir.«

»Selbst wenn ich es Ihnen befehle?«

Verundish versteifte sich. »Sie haben die Privatangelegenheiten Ihrer Männer immer respektiert, Sir.«

»Ja. Das habe ich.« Tamas wandte sich ab, um das Chaos zu betrachten, das einmal sein Schreibtisch und Kartentisch gewesen war, und stieß einen langen Seufzer aus. »Sie dürfen wegtreten, Captain. Das Himmelfahrtskommando wird sich bei Sonnenuntergang sammeln und um Mitternacht angreifen. Falls Sie sich noch nicht um Ihre Angelegenheiten gekümmert haben sollten, tun Sie das jetzt.«

»Jawohl, Sir. Vielen Dank, Sir.«

Verundish hielt in der Zelttür inne und wandte sich wieder zu General Tamas. »Sir?«

»Hmmm?«

»Würden Sie mir eine Bitte erfüllen, Sir?«

»Wenn sie im Rahmen bleibt.«

»Sorgen Sie dafür, dass meine Pension nicht an meinen Mann geht. Sorgen Sie dafür, dass sie an meine Tochter geht.«

Tamas dachte einen Moment darüber nach, dann nickte er. »Schreiben Sie das auf und geben Sie den Brief meiner Sekretärin. Ich werde sicherstellen, dass es erledigt wird.«

»Vielen Dank, Sir.«


Die Kompanie, die das Himmelfahrtskommando bilden sollte, versammelte sich, als die Sonne über dem westlichen Rand der Wüste unterging.

Es war ein trauriger Haufen. Die Hälfte der Anwesenden bestand aus Querulanten – Männer und Frauen, die sonst womöglich am Galgen oder jahrelang im Gefängnis gelandet wären, wenn sie sich nicht freiwillig gemeldet hätten. Die andere Hälfte bestand aus ehrgeizigen jungen Soldaten, die entweder dumm oder verzweifelt genug waren, um zu hoffen, dass sie die Nacht überleben und nach der Einnahme der Festung eine Beförderung erhalten würden.

Verundish fragte sich, ob irgendeiner von ihnen wie sie eine zweite Chance erhalten hatte, es sich noch mal zu überlegen.

General Tamas war bereits da, als sie sich sammelten. Er betrachtete sie alle mit hinter dem Rücken verschränkten Händen, den Stoßdegen an der Hüfte und die Pistole im Gürtel. Seine Miene war versteinert und undurchdringlich, doch als der Privilegierte Zakary wenig später vorbeikam, war im Schein der Fackeln deutlich zu erkennen, mit welcher offenen Feindseligkeit Tamas den Privilegierten anschaute.