Loe raamatut: «Seewölfe Paket 22», lehekülg 6

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Es war dieses Bild, das ergreifend und lähmend auf Siri-Tong wirkte. Das Bild der beiden verzweifelten und doch so entschlossenen Söhne am Lager des Vaters, der schwerverwundet und im Fieberkampf mit dem Tode rang.

Die Rote Korsarin konnte nichts dagegen tun, daß ihr Tränen in die Augen stiegen. Dieses Bild des Elends und zugleich der Hoffnung im Halbdunkel der Krankenkammer traf die verwundbarste Stelle ihrer Seele. Doch sie schämte sich der Tränen nicht.

Unvermittelt spürte sie die Hand des Kutschers auf ihrer linken Schulter. Seine Stimme war nur wie ein Hauch.

„Es ist zu früh, um ihn zu weinen, Siri-Tong. Ich will ihn durchbringen, bei Gott, ich will ihn durchbringen!“

Mit einem Lächeln voller Dankbarkeit wandte sich die Rote Korsarin dem ernsten Mann an ihrer Seite zu.

„Ich habe nicht um Hasard geweint“, flüsterte sie. „Es ist das, was ich vor mir sehe, verstehst du?“

Der Kutscher sah sie einen Augenblick schweigend an. Dann nickte er. Siri-Tong verließ die Krankenkammer und blieb für einen Moment vor dem Schott stehen. Es gelang ihr nicht auf Anhieb, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Zu sehr hatte das Gesehene ihre Gedanken in einen tiefen Strudel gerissen.

Aber man durfte auch nicht die Dinge vernachlässigen, die getan werden mußten.

Die Männer versammelten sich im Halbkreis vor dem Großmast, als die Rote Korsarin sie mit auffordernden Handbewegungen zusammenrief. Im Flüsterton berichtete sie über die letzten Ereignisse.

Grimmige Zufriedenheit zeichnete sich in den Gesichtern der Arwenacks ab, als sie erfuhren, daß sich der sehr ehrenwerte Sir Henry als Gefangener an Bord der „Caribian Queen“ befand. Barba hatte ihm nur das Messer an die Kehle zu setzen brauchen, um ihn zum Plaudern zu bringen.

Mit der Versenkung der Kriegsgaleonen „Orion“ und „Dragon“ war das Unternehmen der Adligen-Clique also endgültig gescheitert, zumal die „Centurion“ und die „Eagle“ bereits lange zuvor die Heimreise nach England angetreten hatten.

Die Arwenacks konnten sich das Geschehen jetzt sehr gut zusammenreimen. Und nachträglich zollten sie den beiden aufrechten Kapitänen Rooke und Wavell Hochachtung. Diese Männer waren nach ihrem Geschmack, denn sie hatten nicht mitgespielt, als ein wehrloser Gegner zusammengeschossen worden war.

„Was ist mit den Besatzungen der ‚Orion‘ und der ‚Dragon‘?“ fragte Ben Brighton. „Von ihnen könnte immerhin noch Gefahr drohen.“

Siri-Tong schüttelte den Kopf.

„Das glaube ich nicht“, erwiderte sie. „Ich schätze diese Männer ähnlich ein wie die Besatzungen der ‚Centurion‘ und der ‚Eagle‘. Wer mir nicht gefällt, ist der Kommandant der ‚Dragon‘.“

Ben Brighton nickte nachdenklich.

„Und die restlichen Adligen dürfen wir auch nicht vergessen. Ebensowenig die Halunken aus der John-Killigrew-Meute.“

„Ich meine, wir müssen die gesamte Insel und die Bucht überwachen“, sagte die Rote Korsarin leise. „Daran bin ich in gewisser Weise selbst schuld. Ich habe dem Ersten Offizier der ‚Orion‘ nämlich geraten, sich nach einer größeren Insel umzusehen. Bist du einverstanden, wenn ich eine Gruppe von meiner Crew an Land setzen lasse, damit sie die Insel nach allen Seiten überwacht?“

Ben Brighton hatte nichts dagegen einzuwenden.

„Da ist noch etwas“, sagte er. „Was soll mit Sir John und Sir Henry geschehen?“

Ein harter Glanz trat in die Augen Siri-Tongs.

„Da gibt es für mich nicht viel zu überlegen. Wenn Hasard stirbt, sollen sie an der Rah hängen. Bleibt er am Leben, dann soll er selbst entscheiden, was mit den Kerlen passiert.“

„Einverstanden“, sagte Ben Brighton sofort. Er blickte in die Runde. „Ist jemand anderer Meinung?“

Die Männer schüttelten den Kopf.

„Eines werde ich allerdings mit allen Mitteln verhindern“, sagte die Rote Korsarin.

Der Erste Offizier der „Isabella“ blickte sie stirnrunzelnd an.

„Und das wäre?“

„Ein weiteres Duell. Ich werde nicht zulassen, daß sich Hasard noch einmal zu einem solchen Unsinn hinreißen läßt.“

Ben Brighton nickte.

„Diesmal hast du mich auf deiner Seite, Siri-Tong. Auch ich bin gegen ein Duell. Ich habe eingesehen, daß du von vornherein recht hattest. Aber du mußt Hasard verstehen.“

„Das tue ich, Ben.“ Die Rote Korsarin erhob sich und verabschiedete sich von den Männern.

Wenig später, nachdem sie mit der Jolle auf die „Caribian Queen“ zurückgekehrt war, wurde eine Gruppe ihrer Männer an Land gebracht, die die Überwachung der Insel aufnehmen sollte.

10.

„Warum, zum Teufel, haben wir keine Spektive?“ sagte Sir Robert Monk ärgerlich zischend. „Wenn wir jetzt Spektive hätten, könnten wir genau sehen, was sich abspielt.“

Charles Stewart verschränkte die Arme vor dem Brustkasten, denn er wußte, daß dieser Vorwurf natürlich ihm galt. Er war es gewesen, der sich einen Dreck darum gekümmert hatte, die notwendigen Ausrüstungsgegenstände von der sinkenden „Dragon“ zu bergen.

„Brauchen wir nicht, die Dinger“, entgegnete er grollend. „Was wir sehen müssen, sehen wir auch so.“

Joe Doherty, Stewarts Leibwächter, baute sich in drohender Haltung hinter dem Ex-Kommandanten der „Dragon“ auf. Der grobschlächtige Riese hatte immerhin mitgekriegt, daß sich Sir Robert vorwurfsvoll gegenüber seinem Herrn geäußert hatte. Die Hintergründe dafür begriff Doherty sowieso nicht. Doch ein Wink von Stewart würde genügen, und er schnappte sich diesen adligen Geier und drehte ihm den Hals um.

Aber offenbar schien Stewart derartiges vorerst nicht im Sinn zu haben, und so mußte sich das Monstrum darauf beschränken, seine wüsten Gesichtszüge auf die bewährte und furchterregende Weise zu verzerren.

Es wirkte auch bei Sir Robert. Er verkniff sich weitere Anspielungen auf die nicht vorhandenen Kieker.

Die Männer standen auf der Hügelkuppe einer Insel, durch hohes Buschwerk sichtgeschützt. Zwei, drei winzige Eilande lagen zwischen ihnen und jener Insel, in deren Südbucht die Masten der beiden Schiffe deutlich zu erkennen waren.

Den düsteren Zweidecker hatten sie gesehen, als er von See her die Südbucht der nahen Insel angelaufen hatte. O’Leary hatte den Zweimaster entdeckt, und sofort waren sie mit der Jolle hinter dieser Insel in Deckung gegangen, die sie gerade angesteuert hatten.

Stewart, Monk und O’Leary waren sofort zur Hügelkuppe aufgebrochen, um das weitere Geschehen zu beobachten. Das Monstrum, das wie eine Klette an ihm hing, hatte Stewart nicht zum Zurückbleiben bewegen können. Auch der Hinweis auf die Goldkisten hatte nichts gefruchtet.

Trotz seiner Beschränktheit schien Doherty begriffen zu haben, daß sich hier sowieso niemand die Kisten unter den Nagel reißen und damit verschwinden konnte. Sie waren aufeinander angewiesen, wenn sie noch einer Zukunft entgegensehen wollten.

Stewart wurde es indessen beinahe unangenehm, daß Doherty ihn bewachte wie ein Hofhund seinen Herrn. Zumindest O’Leary und seine Strolche grinsten Insgeheim darüber. Denn wozu, bitte sehr, brauchte ein ausgewachsener Mann einen Leibwächter? So und nicht anders dachten sie wahrscheinlich.

Daß er auf seine Goldkisten aber nicht allein aufpassen konnte, wußte Stewart. Wenn er schlief, brauchte er jemanden, der für ihn wachte. Doherty war der richtige Mann für die Aufgabe. Seine Anhänglichkeit mußte man dafür eben in Kauf nehmen.

Allerdings ergab die Lage durch das Entdecken der beiden Schiffe auch für Charles Stewart völlig neue Aspekte.

Schweigend beobachteten sie, wie der Zweidecker in der Bucht vor Anker ging. Gleich darauf wurde allem Anschein nach ein Boot ausgesetzt, und jemand begab sich an Bord der „Isabella“. Zweifellos war es dieses Teufelsweib, wenn es auch mit bloßem Auge nicht genau zu erkennen war.

Sir Robert Monk wandte sich zu den anderen um.

„Besser konnte es für uns gar nicht kommen“, sagte er frohlockend. „Gentlemen, wir brauchen praktisch nur noch zuzugreifen, und dann haben wir ein Schiff.“

„Stellen Sie sich das nicht so einfach vor“, entgegnete O’Leary. „Wir haben nur eine Handvoll Leute und keine Waffen. Jedenfalls keine richtigen.“

Stewart grinste und klopfte ihm auf die Schulter.

„Man muß sich schon ein bißchen was einfallen lassen, Mister O’Leary. Wie ich unseren verehrten Sir Robert kenne, hat er bereits was auf Lager.“

Sir Robert nickte.

„Wir müssen die Dunkelheit abwarten – nein, noch besser die Nacht, wenn wir sicher sind, daß die meisten an Bord selig schlafen.“ Er kicherte bei der Vorstellung und fuhr dann mit listigem Grinsen fort: „Wir brauchen nur mit ein paar Leuten in völliger Finsternis die ‚Isabella‘ zu entern. Die Deckswachen müssen natürlich im Handstreich überwältigt werden. Dann dringen wir in die Kapitänskammer vor. Dort liegt aller Wahrscheinlichkeit nach der angeschossene Bastard Killigrew.“

„Prächtig!“ rief Stewart begeistert. „Sobald wir den Hundesohn in unserer Gewalt haben, ist alles andere ein Kinderspiel.“

Auch O’Leary setzte eine überzeugtere Miene auf.

„Eins ist aber wichtig“, sagte er. „Wenn wir es so schaffen, wie Sir Robert sagt, dann muß die gesamte Crew von Bord. Außer dem Bastard darf kein einziger von den Mistkerlen an Bord bleiben. Sonst können wir vor Überraschungen niemals sicher sein.“

„Und dann?“ entgegnete Stewart stirnrunzelnd. „Sollen wir mit Ihren paar Leuten diese große Galeone segeln?“

„Nur bis zum nächsten Hafen“, sagte O’Leary. „Das schaffen wir. Und dann können wir jede Menge zuverlässige Leute anheuern.“

„Und die Jagd auf die ‚Lady Anne‘ aufnehmen“, sagte Sir Robert mit einem Nicken. „Ich glaube, Ihr Vorschlag ist gut, O’Leary. Vor Überraschungen müssen wir uns schützen, das stimmt. Da wäre aber auch noch dieser Zweidecker.“

„Den schießen wir leck“, sagte Stewart. „Dann sitzt er auf Grund wie unsere ‚Dragon‘, und die ganze Sippschaft kann sich an Land verziehen.“

„Womit wir den Spieß umgedreht hätten“, sagte Sir Robert zufrieden. „Hat noch jemand etwas hinzuzufügen?“ Er sah die anderen an, doch es gab keine weiteren Vorschläge.

Sorgfältig prägten sie sich die Lage der östlichsten Insel und der zahlreichen Korallenriffs ein. Fest stand, daß sie von Westen her zu der Insel vordringen würden. Wenn Posten aufgestellt waren, würden sie die Seeseite zum Atlantik hin beobachten. Denn von Westen her würde man auf keinen Fall jemanden erwarten – wegen der wirklich unzähligen Korallenriffs und der gefährlichen Untiefen in diesem Bereich der Kleinen Bahama-Bank.

Die Kerle unter dem Kommando von Charles Stewart, Sir Robert Monk und O’Leary warteten bis nach Mitternacht. Allen knurrte der Magen, als sie die Segel setzten. Denn außer ein paar Kokosnüssen hatten sie nichts zu sich nehmen können. Wenn man jedoch davon ausging, daß Hunger ein guter Antreiber war, dann mußte das Unternehmen gelingen.

Sir Robert war voller Hoffnung, nicht zuletzt aus Stolz auf seine Idee.

Eine auflandige Brise strich über die beiden Schiffe, die mit dem Bug nach Südwesten ausgerichtet vor Anker lagen. Nur zeitweise war es stockfinster – immer dann, wenn sich einzelne Wolken oder eine ganze Wolkenbank vor das fast vollkommene Rund des zunehmenden Mondes schoben.

Doch der Südwestwind sorgte dafür, daß jene Zeitabschnitte totaler Finsternis nur äußerst kurz waren.

Smoky, der Decksälteste der „Isabella“, hatte sich auf der Back auf einer Taurolle niedergelassen und strich der Wolfshündin über das Fell. Plymmie war zuverlässig und verhielt sich ruhig – dank der guten Erziehung durch die Zwillinge. Deshalb hatte Ben Brighton zugestimmt, sie an Deck zu lassen. Das übrige Viehzeug, wie Ed Carberry es nannte, mußte unter Deck bleiben. Bei Arwenack, dem Schimpansen, und Sir John, dem Papagei, wußte man nie ganz genau, ob sie nicht plötzlich in ein wildes Gezeter ausbrachen.

Alles war ruhig in der Bucht. Nur das leise Singen des Windes in Wanten und Pardunen und das Schlagen der Wellen gegen die Schiffsrümpfe waren zu vernehmen. Die Tierstimmen, die tagsüber von Land her zu hören gewesen waren, waren jetzt verstummt.

Unvermittelt spürte Smoky, wie sich die Nackenhaare der Wolfshündin sträubten. Im nächsten Moment richtete sie sich auf und witterte nach Westen. Ihre Ohren spielten, und leise begann sie zu knurren.

Der Decksälteste wußte, daß Plymmie alle guten Eigenschaften eines Hütehundes hatte. An erster Stelle stand ihre Wachsamkeit. Ihr Verhalten war nicht etwa eine Laune.

Smoky richtete sich auf, ging leise auf die vordere Balustrade zu und spähte in die Richtung, die Plymmie mit anhaltendem Knurren anzeigte.

Die Bucht wurde von einer langen Landzunge abgeschirmt; die sich von Nordwesten nach Südosten erstreckte. Zu- und Ausgang befanden sich im Südosten der Bucht, wo die „Isabella“ ankerte. Die „Caribian Queen“ lag weiter innen an Steuerbord der „Isabella“.

Als die Wolkendecke aufriß, sah Smoky das Segel, das sich von Westen her dem Zugang der Bucht näherte.

Der Decksälteste reagierte, ohne lange zu überlegen. Ein leiser Zuruf zur Landzunge genügte, um die drei Männer aus der Crew der Roten Korsarin zu alarmieren, die dort postiert waren.

Es dauerte keine Minute, bis gleich darauf alle Arwenacks an Deck versammelt waren und sich hinter das Schanzkleid kauerten. Der Stahl ihrer Waffen schimmerte matt im Mondlicht.

Wenige Augenblicke später waren auch auf der „Caribian Queen“ alle Crewmitglieder hellwach und auf dem Posten.

Die einsame Jolle, die sich von dort draußen der Bucht näherte, segelte auf eine waffenstarrende Festung zu.

Geduckt kauerte O’Leary auf der Achterducht und hielt die Pinne mit verkrampfter Faust. Die gefährlichen Riffe hatten sie überwunden. In der Stille der Bucht mußte auch der Rest leicht zu bewältigen sein.

O’Leary blickte zum Himmel und atmete erleichtert auf. Nur noch Minuten würde es dauern, bis sich eine Wolkenbank vor den Mond schob. Dann konnte das Vorhaben wie geplant abgewickelt werden.

Einen Atemzug später erstarrten der Bootsmann und die übrigen Männer in der Jolle vor Schreck.

„Halt! Wer da?“ ertönte eine energische Männerstimme von der nahen Landzunge.

Stewart und Monk stießen wüste Flüche aus, und auch die anderen verschafften ihrem Schreck durch wütendes Gebrüll Luft. Doch bereits im nächsten Moment überschlugen sich die Ereignisse.

Mündungsblitze zuckten von der Landzunge her auf. Sofort darauf tauchten am Backbord-Schanzkleid der „Isabella“ die Arwenacks auf, und die Musketen in ihren Fäusten begannen Feuer zu spucken.

Joe Doherty, der geduckt neben seinem neuen Herrn hockte, kippte plötzlich außenbords, ohne einen Laut von sich zu geben. Jetzt hämmerten die Musketen auch von der „Caribian Queen“.

O’Leary zog den Kopf ein, halste nach Steuerbord und wollte abdrehen. Es hatte keinen Sinn, das sah er ein.

Unvermittelt sprang Sir Robert Monk mit einem wütenden Schrei auf und wollte O’Leary von der Pinne stoßen. Doch seine Absicht wurde im Ansatz erstickt. Eine Kugel von der „Isabella“ traf ihn wie der Hieb eines Giganten. Robert Monk war bereits tot, als er über Charles Stewart zusammensackte.

Fluchend befreite sich der Ex-Kommandant der „Dragon“ von der Last und wuchtete den Toten kurzerhand über Bord.

O’Leary hatte es unterdessen geschafft, abzudrehen. Mit halbem Wind segelte die Jolle jetzt nach Südosten.

Immer noch peitschten die Schüsse auf den beiden Schiffen, und auch auf der Landzunge luden die Posten zügig ihre Musketen nach. Das gefährliche Surren der Kugeln folgte den Kerlen in der Jolle, und mit wachsender Panik sahen sie die kleinen Fontänen, die das großkalibrige Blei bedrohlich nahe aus dem Wasser riß.

Thomas Lionel Killigrew, der jüngere der beiden ferkelgesichtigen Brüder, schrie plötzlich schrill auf, hielt sich den Kopf mit beiden Händen und schraubte sich von seiner Ducht hoch. Sein Bruder riß ihn zurück, aber das Geschrei wollte kein Ende nehmen.

„Ist nur ein Streifschuß“, rief Simon Llewellyn, sein Bruder.

„Dann soll er das Maul halten, verdammt noch mal!“ brüllte O’Leary. „Sonst fliegt er über Bord!“

Es wirkte. Thomas Lionel verstummte augenblicklich und beschränkte sich auf ein fast lautloses Schluchzen, während er weiter den Kopf unter beiden Händen barg.

Die Schüsse versiegten, nachdem die Jolle zusehends Distanz gewonnen hatte.

„Das wird nichts mehr“, sagte O’Leary, als Stewart sich zu ihm umdrehte. „Die Hunde passen zu scharf auf. Und mit unseren paar Kerlen können wir schlecht gegen sie anstinken.“

„Das ist mir inzwischen auch klar“, sagte Stewart gepreßt.

„Und was jetzt?“ fragte O’Leary.

Charles Stewart rieb sich das Kinn.

„Zurück zu den Grand Cays“, sagte er nach einem Moment. „Vielleicht kann ich die Idioten überreden, mit uns gemeinsam die beiden Schiffe anzugreifen. Wenn wir das schaffen, haben wir nämlich keine Probleme mehr. Dann sind wir wieder beweglich – egal, ob wir in der Karibik bleiben oder wieder nach England segeln.“

O’Leary zog die Schultern hoch. Was die Marine-Affen betraf, war er mehr als skeptisch. Aber er schwieg, denn er wollte Stewart seine Meinung nicht auf die Nase binden.

Die beiden Goldkisten unter der Achterducht waren irgendwie sehr beruhigend. Und eins war sicher: Die Mannschaft hier in der Jolle hörte auf ihn, nicht auf Stewart.

O’Leary steuerte auf die See hinaus und ging auf Nordwestkurs …

ENDE


1.

Ein milchig-blasser Mond erhellte um zwei Uhr am Morgen des 24. August 1594 matt die Insel- und Wasserwelt der Bahamas. Nur eine flache Dünung kräuselte die See. Der Wind wehte handig aus Südwesten und verursachte ein feines Säuseln in den Wipfeln der Palmen und Mangroven. Zikaden zirpten im Dickicht des Eilandes, in dessen Südbucht die „Isabella IX.“ und die „Caribian Queen“ ankerten. Hin und wieder war das monotone Quaken der Frösche zu vernehmen.

Das waren um diese Zeit die einzigen Geräusche, sonst herrschte Grabesruhe an Bord der beiden Schiffe, die durch die lange Wartezeit bedingt war. Der Kutscher hatte den Seewolf operiert und ihm die Kugel aus dem Rücken geholt, die ihm Sir Andrew Clifford heimtückisch verpaßt hatte. Jetzt konnten die Crews der Galeone und des Zweideckers nur abwarten und hoffen, daß sich alles wieder zum Besten wendete.

Hasard lag in der Krankenkammer des Vorschiffs der „Isabella“ – mit hohem Fieber, über dessen Ausgang sich niemand im klaren war, auch der Kutscher und Mac Pellew nicht.

Der Kutscher hatte an Bord der „Isabella“ gewissermaßen das Regiment übernommen und klipp und klar erklärt, wenn auf dem Schiff keine Ruhe gehalten werde, könne er für nichts garantieren. Und doch hatte es eine jähe Unterbrechung und Störung gegeben: durch wildes Musketengeknatter. Eine Jolle, voll besetzt mit wilden Kerlen, hatte sich in die Bucht geschlichen. Sie hatten die Männer der „Isabella“ überrumpeln wollen. Daraufhin hatten die Arwenacks das Feuer auf sie eröffnet und sie in die Flucht geschlagen.

Doch wie nahm der Seewolf diesen Versuch eines Überfalles auf? Hatte er etwas davon bemerkt – oder nahm er Geräusche zur Zeit kaum noch wahr? Nicht einmal der Kutscher wußte darauf eine Antwort zu geben. Alles war dem Zufall überlassen – und dem Schicksal. Wenn Hasard großes Glück hatte, überlebte er die Folgen des Eingriffs. Hatte er Pech, starb er. Sein Leben hing an dem sprichwörtlichen seidenen Faden, der zur Zeit erschreckend dünn war und jeden Augenblick reißen konnte.

Noch während der Fahrt von den Grand Cays zu den Pensacola Cays hatte der Kutscher am 22. August das unmögliche gewagt. Er hatte die Pistolenkugel, die in den Rücken des Seewolfes eingedrungen und dicht vor dem Herzen steckengeblieben war, mit Unterstützung von Mac Pellew und den Zwillingen herausgeholt.

Unter der Hand war ihm Hasard also nicht gestorben, wie er befürchtet hatte. Aber über den Berg war er noch lange nicht, denn seit dem Vormittag hatte das Fieber eingesetzt, und sie hatten ihn anschnallen müssen. Zwar war er noch bewußtlos, aber er bewegte sich hin und her und war unruhig. Sein Gesicht war fahl und schweißüberströmt.

Immer wieder legten ihm die Zwillinge nasse Leinen zur Kühlung über die Stirn. Mit Mac Pellews Hilfe hatte ihm der Kutscher einen Sud eingeflößt, der das Fieber herabmindern und die Abwehrkräfte des Körpers gegen eine Blutvergiftung mobilisieren oder stärken sollte.

Genau das war es, was der Kutscher insgeheim befürchtete. Aus diesem Grund wachten sie alle vier bei Hasard. Die Männer auf den Decks der „Isabella“ bewegten sich auf den Zehenspitzen und verständigten sich in der Zeichensprache miteinander. Sie konnten nichts, absolut gar nichts tun – nur warten und hoffen und beten oder die Hände zu Fäusten ballen. Diese Situation ging ihnen erheblich ans Gemüt, denn sie stellte eine Geduldsprobe ersten Ranges dar, weil die Männer zur völligen Untätigkeit verdammt waren.

Aber nach Mitternacht hatte es dann eine völlig unerwartete, nicht herbeigesehnte Abwechslung gegeben, eine Überraschung übelster Art. Plymmie, die Wolfshündin, hatte als erste etwas davon gespürt – und dann hatte Smoky von der Back aus die heransegelnde Jolle erspäht. Ein leiser Zuruf voraus zur Landzunge hatte genügt, und die dort postierten Wächter aus der Mannschaft Siri-Tongs waren alarmiert. Kurze Zeit darauf waren auch alle Arwenacks an Deck der „Isabella“ gewesen und hatten sich mit schußbereiten Musketen und Tromblons hinter das Schanzkleid gekauert. Auch auf der „Caribian Queen“ hatten sich die Männer in Deckung gehockt.

Als die fremde Jolle auf den Zugang der Bucht zusegelte, brüllte einer der Posten auf der Landzunge: „Halt? Wer da?“

Das Gefluche, das daraufhin in der Jolle einsetzte, war eindeutig. Außerdem schien es sich dem Klang der Stimmen nach um die Kerle der „Lady Anne“ zu handeln, also die Besatzung von Sir John Killigrew.

Sofort eröffneten die Männer der „Isabella“ das Feuer, und sie erzielten auch Treffer. Deutlich war zu sehen, wie von der Jolle zwei Gestalten ins Wasser kippten. Daraufhin drehte die Jolle ab und ergriff die Flucht. Ein paar Schüsse pfiffen noch hinter ihr her, dann trat wieder Stille ein.

Die Rote Korsarin hatte ein Boot abfieren lassen. Juan und Mike Kaibuk, die beiden Bootsgasten, versuchten, die beiden im Wasser der Bucht schwimmenden Toten zu bergen, doch einer war bereits untergegangen. Daß es sich um Sir Robert Monk handelte, hatte keiner von ihnen bemerkt. Der andere hingegen, ein bulliger Kerl, trieb noch in den Fluten. Ihm näherten sich Juan und Mike mit wenigen Riemenschlägen, dann beugte sich Juan aus dem Boot und drehte den mit dem Gesicht und Bauch nach unten Liegenden auf den Rücken.

„Sieh ihn dir an“, murmelte er. „Wirkt er nicht wie ein großer, primitiver Affe?“

„Genau das“, erwiderte Mike. „Und weißt du, um wen es sich bei dem Kerl handelt?“

„Ich glaube, das könnte der Profos von diesem Drecksack Clifford sein. Oder täusche ich mich?“

„Meiner Meinung nach nicht.“

„Was machen wir mit ihm?“

„Fragen wir Siri-Tong“, erwiderte Mike.

Juan ließ den toten Profos – daß sein Name Joe Doherty gelautet hatte, wußten sie nicht – wieder los, die Leiche trieb ein Stück von der Jolle weg. Juan griff nach dem Riemen, sie pullten wieder an und kehrten zur „Caribian Queen“ zurück.

Die Rote Korsarin verzog keine Miene, als sie ihre Meldung vernahm.

„Ich verstehe“, sagte sie nur. „Also, überlassen wir den Hundesohn den Haien. Er hat es nicht anders verdient. Besser wäre gewesen, wenn die Grauen ihn bei lebendigem Leib vertilgt hätten.“

Das klang sehr grausam, aber auch die Männer der „Isabella“ teilten ihre Ansicht, als sie hörten, um wen es sich bei dem Toten handelte.

„Der Hund“, sagte Roger Brighton. „Ein Leuteschinder und Sadist. Gut, daß er abgekratzt ist. Wieder einer weniger von diesem Lumpengesindel.“

Sein Bruder stand mit verkniffener, finsterer Miene bei ihm. Um sie herum hatten sich auf dem Hauptdeck die anderen geschart – Shane, Ferris, Smoky und die ganze Crew bis auf den Kutscher, Mac und die Zwillinge, die auch während der kurzen Knallerei nicht von Hasards Lager gewichen waren.

„Eins ist sicher“, sagte Ben. „Wenn Hasard durch den Überfall gelitten hat oder es noch schlimmer kommt, segeln wir zu der Insel der Grand Cays zurück und rechnen endgültig mit den Kerlen ab. Ihr habt ja auch alle sehr genau erkannt, wer in der verdammten Jolle saß, nicht wahr?“

„Ja“, erwiderte Big Old Shane mit grollender, nur mühsam gedämpfter Stimme. „Stewart und fünfzehn, sechzehn Kerle von der ‚Lady Anne‘. Ganz klar. Schade, daß wir sie nicht alle in die Hölle befördern konnten.“

„Sie hätten nur ein bißchen näher ranzukommen brauchen“, sagte Dan verhalten. „Aber sie hatten nur Blankwaffen.“

„Keine Schußwaffen“, murmelte Matt Davies.

„Oder keine Munition dafür“, meinte Smoky.

„Egal“, sagte Ben. „Tatsache ist, daß ihnen ihr Angriff mißlungen ist. Was haben sie sich denn eingebildet? Daß sie uns einfach überrumpeln können?“

„So haben sie sich das wohl vorgestellt“, brummte Ferris Tucker. „Wahnsinn. Aber sie dachten Wohl, wir sind durch Hasard abgelenkt und merken nichts, wenn sie sich anpirschen und längsseits gehen.“

„Von wegen“, sagte Stenmark mit grimmiger Miene.

Dan schickte einen Blick zur „Caribian Queen“ hinüber. „Achtung-, da kommt Siri-Tong.“

Die Rote Korsarin ließ sich von Juan und Mike zur „Isabella“ übersetzen und enterte an der Jakobsleiter auf. Kaum war sie bei den Arwenacks eingetroffen, fragte sie: „Wie geht es Hasard?“

„Er hat nach wie vor hohes Fieber“, entgegnete Ben.

„Aber irgendwann muß der Sud wirken.“

„Das hoffen wir alle.“

„Stewart, dieser Bastard!“ zischte sie. „Ich habe es gewußt, daß man ihm nicht trauen kann. Dieser Hund! Wenn Hasard stirbt, töte ich den Kerl eigenhändig, das schwöre ich.“

Keiner zweifelte daran, daß sie ihre Drohung wahrmachen würde. Der Haß steckte in ihnen allen, sie warteten nur darauf, etwas unternehmen zu können. Doch vorerst waren sie zum Warten verdammt, zum Warten und Hoffen, zum stillen Fluchen und Beten.

„In der Jolle hat auch O’Leary, der Bootsmann vom Alten, gehockt“, brummte Carberry. „Ich habe nicht so gute Augen wie Dan, aber ich habe ihn erkannt.“

„Und die Ferkelsöhne“, sagte Dan mit wütend verzerrtem Gesicht.

„Thomas Lionel und Simon Llewellyn. Sie waren auch dabei.“

„Der Teufel soll sie holen“, murmelte Al Conroy.

„Hoffentlich tut er’s“, fügte Jeff Bowie hinzu. „Das wäre mir gerade recht.“

„Wie sie hierher gefunden haben, ist mir einigermaßen klar“, sagte die Rote Korsarin. „Nachdem wir die beiden Kriegsgaleonen versenkt hatten, retteten sich alle an Land und teilten sich dort in zwei oder sogar drei Gruppen mit unterschiedlichen Ansichten und Zielen auf. Daß sich Stewart auf die Seite der Killigrew-Mannschaft schlagen würde, leuchtet mir ein. Stewart und O’Leary wollen ihr eigenes Süppchen kochen.“

„Unklar ist aber, was ihr Angriff bezwecken sollte“, sagte Ben. „Wollten sie nun den Alten oder Sir Henry befreien?“

Diese Frage hing unbeantwortet in der Luft. Sir John Killigrew befand sich als Gefangener in der Vorpiek der „Isabella“, Sir Henry, der Duke of Battingham, war an Bord der „Caribian Queen“, wo er vor Angst fast verging und ihm die Knie schlotterten, wenn er Barba nur tief durchatmen hörte.

Mit einem Trick hatte Siri-Tong selbst die wüste Crew der „Lady Anne“ angelockt, indem sie sich als „Sirene“ in dem Lagunensee der Grand-Cay-Insel den Kerlen dargeboten hatte. So waren die Halunken in die Falle gegangen, und die Seewölfe und die Männer der „Caribian Queen“ hatten sie „vereinnahmt“. Dann aber hatte Hasard die zwar verständliche, aber im Endeffekt doch fatale Idee gehabt, sich aus Gründen der Ehre mit Sir Andrew Clifford, Earl of Cumberland, und Sir John Killigrew zu duellieren – am Strand der Inselbucht.

Clifford hatte genau solche Angst gehabt wie jetzt Sir Henry. Schließlich gehörten sie ja auch beide der blaublütigen Clique an, die das Unternehmen in die Karibik organisiert hatte. Clifford war ein Menschenschinder, aber mit dem eigenen drohenden Tod vor Augen hatte ihn die Panik gepackt. Zuerst hatte er sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, zu kämpfen. Dann hatte er sich – feige und hinterhältig – nach wenigen Schritten viel zu früh umgedreht und die ihm ausgehändigte Pistole auf den Rücken des Seewolfes abgefeuert.

Batuti hatte Cliffords Leben mit einem Pfeil ein Ende gesetzt. Aber damit war die Sache längst nicht bereinigt. Hasards Leben stand auf der Kippe. Und sie hatten immer noch Sir John Killigrew am Hals – und den kreischenden, zitternden Sir Henry, den Barba nach dem Gefecht der „Caribian Queen“ gegen die „Orion“ und die „Dragon“ von der gesunkenen „Dragon“ durch einen simplen Trick abgeborgen hatte. Wie sich nun herausgestellt hatte, waren auch die Überlebenden der Schiffe immer noch eine große Gefahr. Besonders Stewart und O’Leary konnten noch viel Unheil anrichten.

„Ich weiß es nicht“, entgegnete die Rote Korsarin auf Bens Frage. „Aber es gibt auch noch eine andere Möglichkeit. Vielleicht haben die Kerle den Wahnsinnsplan verfolgt, Hasard zur Strecke zu bringen.“

„Klar, kann schon sein“, sagte Dan. „Sie wollten also entern und wahrscheinlich die Kapitänskammer der ‚Isa‘ stürmen. Verrückt, ohne Schußwaffen oder entsprechende Munition.“

„Das finde ich auch“, stimmte Carberry ihm zu.

„Nicht so laut, Ed“, sagte Ben.

„Ich flüstere ja auch nur“, brummte der Profos. „Ich möchte wissen, warum dieser idiotische Angriff nur von einer Jolle unternommen wurde, noch dazu nur von den Kerlen der ‚Lady Anne‘.“

„Wegen der Aufsplitterung in Gruppen“, sagte Siri-Tong. „Die Schiffbrüchigen haben sich gegenseitig in die Wolle gekriegt.“

„Das ist auch nur eine Vermutung“, sagte Carberry. „Vielleicht halten sich in der Umgebung noch mehr Jollen auf. Das meine ich.“

„Sie umzingeln uns und kochen uns langsam weich“, sagte Gary Andrews. „Sie landen von der anderen Seite auf der Insel und pirschen sich heimlich an. Unsere Posten müssen auf der Hut sein.“

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