Loe raamatut: «Seewölfe Paket 26», lehekülg 23
ENDE
1.
Es gab nur ganz wenige Außenseiter, die sich auf eigene Faust ihr „Einkommen“ sicherten. Osvaldo und El Sordo gehörten dazu. Dennoch führte auch für sie kein Weg an Bastida vorbei. Bastidas Kneipe war der Hauptumschlagplatz für gestohlenes und geraubtes Gut. Bastida kaufte und zahlte sofort. Er war der wichtigste Hehler von Havanna und diktierte die Preise.
Wehe dem, der sich anderweitig umschaute, um sein Diebesgut abzusetzen! Bastida hatte eine Leibgarde – ein höllisches Quartett, das sich aus Kerlen wie dem schlanken, messergewandten Cuchillo und dem bulligen Gayo zusammensetzte.
Außerdem verfügte der Wirt über eine Schlägertruppe, die wiederum von der Leibgarde befehligt wurde. Wo die „Soldados“ hinlangten, da wuchs kein Gras mehr. Also war es alles andere als empfehlenswert, sich mit Gonzalo Bastida und seiner Organisation anzulegen.
Osvaldo und El Sordo befanden sich wieder auf Beutezug. In der Nacht hatten sie einem Haus, in dem eine reiche Bürgerfamilie gelebt hatte, einen „Besuch“ abgestattet. Am frühen Morgen dieses 10. Juli 1595 hatten sie die gestohlenen Leuchter, Bilder und anderen Wertgegenstände bei Bastida in klingende Münze verwandelt. Einen Teil des Geldes hatte der Dicke gleich wieder eingesackt. Osvaldo und El Sordo hatten Wein und Schnaps bei ihm eingekauft.
Die Weinfäßchen und die Schnapsflaschen befanden sich – gut verpackt und versteckt – auf dem zweirädrigen Karren, den sich die beiden Kerle am Vortag beschafft hatten. Ein Maultier – ebenfalls „requiriert“ – zog das Gefährt. Osvaldo und der Taubstumme waren somit gewissermaßen privilegiert. Nicht jeder Galgenstrick hatte einen Maultierkarren.
Aber auch sonst fühlten sich die beiden als „etwas Besseres“. Sie zählten sich nicht zu dem primitiven Mob, der grölend und polternd in die Häuser eindrang und alles kurz und klein schlug. Schließlich hatte der Mensch so etwas wie ein berufliches Ethos. Osvaldo und El Sordo gingen bei ihrem Werk nahezu lautlos vor und gaben sich allergrößte Mühe, nichts zu zerstören.
Alle Häuser von Havanna standen jetzt leer. Die Bewohner hatten sich in die Residenz zurückgezogen, wo sie sich – vorläufig jedenfalls noch – sicher fühlen durften. Folglich war es ein Kinderspiel, in die Häuser einzudringen und sie vom Dachstuhl bis zum Keller auszunehmen.
Als neuestes „Objekt“ hatten sich Osvaldo und sein taubstummer Kumpan ein Haus am Rande der Stadt ausgesucht. Ein dreistöckiges Gebäude mit Säulenvorbauten und Arabesken über den Fenstern. Osvaldo wußte, wer hier gewohnt hatte: ein sehr wohlhabender Kaufmann mit seiner Familie.
Die beiden Diebe öffneten mit großem Geschick das Schloß des schmiedeeisernen Tores. Dann zerrten sie ihr Maultier samt Karren auf den Hof. Osvaldo gab seinem Kumpan ein Zeichen. El Sordo nickte, daß er verstanden hätte. Er schloß sorgfältig das Tor und folgte Osvaldo zum Haus.
Einige Zeit verwendeten die Kerle darauf, die Haustür aufzuknacken. Sie nickten sich grinsend zu, als die schwere Bohlentür endlich aufschwang. El Sordo gab gutturale Laute von sich und rieb sich die Hände. Osvaldo schlüpfte als erster ins Innere des Hauses.
Sofort registrierte Osvaldo, daß sie sich am richtigen Platz befanden. Dieses Gebäude war noch „unberührt“. Kein anderer Strolch war hier gewesen. Die Spuren eines Einbruches hätte man schließlich sofort gesehen: eingeschlagene Fenster und Türen, offene Schränke, zertrümmertes Geschirr, heruntergerissene Vorhänge, umgekippte Möbel. Doch alles sah ordentlich und sauber aus, als sei das Haus noch bewohnt und seine Eigner hätten sich nur auf einen morgendlichen Spaziergang begeben.
El Sordo drückte hinter sich die Tür zu und schaute sich um. Glucksend wies er auf die schweren Kronlüster und die Möbel in der Eingangshalle. Osvaldo hingegen deutete auf die Gemälde an den Wänden.
„Es sind ein paar wertvolle Stücke darunter“, erklärte er. „Das da ist ein Caravaggio.“
Der Taubstumme verstand sich zwar auf die Kunst, seinem Kumpan die Worte von den Lippen abzulesen. Aber mit dem Ausdruck „Caravaggio“ wußte er nichts anzufangen. Egal. Osvaldo wußte schon, was er sagte. Osvaldo wählte immer die richtigen Dinge aus, die beim Verhökern das meiste Geld brachten.
Raum für Raum durchforschten die beiden Eindringlinge das große, vornehme Haus. Das Silberbesteck, das sie in einer Schublade des Wohnzimmerschrankes entdeckten, entlockte ihnen verzückte Laute. In einem Schlafzimmer des Obergeschosses fanden sie sogar ein paar Goldmünzen, die unter das Bett gerollt waren.
Jemand, wahrscheinlich der Hausherr selbst, hatte sie verloren. Der Mann mußte seine Barschaft hastig zusammengerafft haben. Sicherlich hatte er sie in einen Lederbeutel gesteckt. Dann hatte er mit seiner Familie die Flucht ergriffen – ehe es zu spät dazu war.
Nun, der Señor hätte sich doch etwas mehr Zeit lassen können. Bis hierher war das plündernde Pack noch nicht vorgedrungen. Aber wer sollte das ahnen? In der allgemeinen Panik war es allen nur richtig erschienen, sich schleunigst hinter die schützenden Mauern der Residenz zurückzuziehen, ehe man ihnen die Köpfe einschlug und ihnen die Gurgeln durchschnitt.
El Sordo kicherte vergnügt und drehte jede Münze einzeln in den Fingern um. Osvaldo zählte, was sich da ansammelte.
„Ein Piaster, zwei Dukaten, ein Real und drei Dublonen“, sagte er. „Ausgezeichnet. Davon läßt sich wieder eine Weile leben. Ganz zu schweigen von dem Rest.“
„Rrrrest“, brachte der Taubstumme heraus.
Sie sackten die Münzen ein. Dann begaben sie sich in die Küche hinunter. Hier stießen sie in einem Nebenraum auf Vorräte: Schinken, Käse, Dauerwurst, gekochte Bohnen, Frischgemüse und Früchte. Die Kerle stießen sich mit den Ellenbogen an.
Osvaldo deckte den Tisch, El Sordo holte Wein aus dem Maultierkarren. Er brachte auch Brot mit, das sie als Wegproviant am Morgen bei Bastida gekauft hatten. Bei Bastida gab es eben einfach alles.
El Sordo säbelte mit seinem Messer dicke Schnitten von dem Brot ab. Osvaldo füllte die Becher mit Wein. Sie stießen miteinander an und grinsten sich zu.
„Prost“, sagte Osvaldo. „Und auf ein gutes Gelingen. Hier sind wir ungestört.“
El Sordo leerte seinen Becher. Er stopfte sich Brot und Schinken zwischen die Zähne, kaute flüchtig darauf herum und schluckte alles herunter. Mit einem kräftigen Schluck Wein spülte er nach. Osvaldo hatte die Becher rasch wieder gefüllt.
El Sordo gestikulierte über den Tisch hinweg. Osvaldo lachte.
„Hierbleiben?“ fragte er. „Gleich ein paar Tage?“ Er dachte darüber nach. „Ja, warum eigentlich nicht?“
Wieder widmeten sie sich ihrem Mahl. Dann war es mit einemmal Osvaldo, der den Kopf hob. „He, was ist das?“
„Uhm?“ El Sordo sah ihn fragend an.
„Hörst du das nicht?“
„Hu?“
„Ach, du kannst ja nichts hören“, sagte Osvaldo. Er beschrieb eine wegwerfende Gebärde und richtete sich auf. „Aber da ist was. Es kommt aus dem Keller.“
El Sordo las die Worte von den Lippen seines Spießgesellen ab. Er erhob sich, zückte sein Messer und pirschte zur Tür. Er wandte den Kopf und blickte seinen Kumpan an. „Hm?“
„Ja“, erwiderte Osvaldo. „Wir sehen nach, was da los ist.“ Er stand ebenfalls auf und zog sein Messer. Zu zweit bewegten sie sich auf die Tür zu, hinter der eine Steintreppe nach unten führte.
Sie hatten den Keller des Gebäudes noch nicht durchsucht und das für später aufgehoben. Jetzt erkannte Osvaldo, daß es ein Fehler gewesen war. Irgend jemand versteckte sich da unten im Keller – oder irgend etwas. Um welche Art von Wesen es sich auch handeln mochte, es gab grauenvolle Laute von sich.
Irgendwie beneidete Osvaldo den Taubstummen plötzlich. El Sordo konnte nichts hören, und das war in diesem Moment gut so. Die Laute waren entsetzlich. Stöhnen und Wimmern, Kratzen und Schaben, dann ein langer Seufzer. Osvaldo überlief es eiskalt. Am liebsten wäre er umgekehrt. Aber vor El Sordo wollte er sich keine Blöße geben.
Geduckt schlichen die beiden Diebe in den düsteren Keller hinunter. Die Geräusche wurden lauter. Unheimlich klangen sie von den dicken, feuchten Wänden des Gewölbes wider. Wer gab sie von sich – Mensch oder Tier? Wer war das Geschöpf, das sich im Dunkel verbarg?
Juarez, einer der Kerle aus Alonzo de Escobedos Gefolgschaft, sprach aus, was auch die anderen dachten.
„Ich hab’s satt!“ stieß er wütend hervor. „Mir stinkt die Sache! Ich hau’ ab!“
Mit diesen Worten verließ er einfach den Platz vor den Gefängnismauer. Er drehte sich nicht mehr um und würdigte Alonzo de Escobedo keines Blickes mehr.
„Du bleibst!“ brüllte de Escobedo.
Aber es nutzte ihm nichts. Juarez tat genau das, was vor ihm schon einige andere der Meute getan hatten. Er setzte sich ab. Er wollte seinen Kopf nicht länger hinhalten und sich nicht verheizen lassen. Das Unternehmen erschien aussichtslos.
De Escobedo hatte das Gefängnis stürmen wollen, aber er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der „Wirt“ – das war in diesem Fall der Gefängnisdirektor José Cámpora. Cámpora hielt mit seinen Leuten die Stellung, und die Escobedo-Mannschaft hatte schwer Federn lassen müssen.
So war es dem ehemaligen Stadtkommandanten und Gouverneur de Escobedo zwar gelungen, das Tor der Gefängnismauer aufzubrechen. Aber das war auch schon alles. Der Erfolg dieser nächtlichen Aktion nutzte den Angreifern im Endeffekt wenig. Sie hatten keine Deckung mehr und befanden sich für die Verteidiger des Gefängnisses wie auf einem Präsentierteller, wenn sie den Hof überqueren wollten.
Diese Erkenntnis setzte den Kerlen schwer zu. Sie hatten den rechten Glauben in ihren Anführer de Escobedo verloren. De Escobedo seinerseits wußte nicht recht, wie er die Horde anfassen sollte. Schließlich handelte es sich um Galgenstricke, denen jede militärische Disziplin fremd war.
Zwar war de Escobedo in diesem Augenblick versucht, Juarez eine Kugel in den Rücken zu jagen. Aber er beherrschte sich. Die anderen Kerle sahen ihn derart drohend und angriffslustig an, daß es offensichtlich war: er, de Escobedo, hätte auf jeden Fall den kürzeren gezogen.
Der Sturm auf das Gefängnis lohnte sich nicht. Er kostete zu viele Opfer. De Escobedo hatte sich aus dem Kerker Verstärkung holen wollen. Mit einer großen Bande würde es zu schaffen sein, die Residenz zu erobern. Denn das war sein Endziel. Die Residenz war der Regierungspalast, wer die Residenz hatte, war Gouverneur und hatte die Macht über Havanna und Kuba.
Was aber brachte all das den Galgenstricken und Hundesöhnen ein, die de Escobedo mit Gonzalo Bastidas Hilfe um sich versammelt hatte? Gar nichts. Seit sie das begriffen hatten, gingen die Kerle von der Fahne. Warum sollten sie ihre Knochen noch länger hinhalten? Sie waren doch nicht blöd! Sie gingen auf eigene Faust auf Raubzug.
Ein kleiner, dürrer Kerl, von seinen Kumpanen nur das Wiesel genannt, folgte dem Beispiel von Juarez. Er stand aus seiner Deckung auf und huschte davon, bevor ihn die Gefängniswächter aus ihrer Deckung niederschießen konnten. Die anderen Kerle hasteten hinter ihm her. Juarez war schon ein ganzes Stück weg. Das Wiesel eilte ihm nach. Hinter dem Rücken des Wiesels befanden sich plötzlich an die zwanzig Kerle, er war ungewollt zu ihrem Anführer geworden.
De Escobedo stieß einen Wutschrei aus. Er platzte fast vor Zorn. Mit langen Sätzen jagte er den Kerlen nach, packte das Wiesel am Arm und riß den Kerl zu sich herum.
„Was fällt dir ein?“ schrie er ihn an. „Du hast die Kerle gegen mich aufgewiegelt!“
„Ich?“ zischte der kleine Mann. „Du spinnst wohl! Jeder kann tun und lassen, was er will!“
„Ihr bleibt hier!“ stieß de Escobedo keuchend hervor. Er war im Gesicht rot angelaufen und hatte seine Hände zu Fäusten geballt. „Ihr habt kein Recht, einfach abzuhauen! Das ist Fahnenflucht!“
Die Kerle hatten ihn umringt. Juarez war am Ende der Gasse, in der sie sich befanden, stehengeblieben und hatte sich umgedreht. Jetzt kehrte er zu de Escobedo und seinen Spießgesellen zurück.
„Was sagst du da?“ brüllte einer der Kerle neben dem Wiesel. „Wir sind doch nicht deine Soldaten!“
„Wir sind frei“, sagte ein anderer.
„Wir müssen das Gefängnis stürmen!“ schrie de Escobedo.
Die Kerle lachten. „Stürm du doch!“ rief das Wiesel höhnisch. „Vielleicht hast du Glück!“
„Ihr könnt mich nicht allein lassen!“ brüllte de Escobedo.
Juarez hatte die Gruppe erreicht. Er drängelte sich bis zu de Escobedo durch und schrie: „He! Was ist denn hier los?“
„Wir verduften“, erwiderte das Wiesel. „Aber er will uns zurückhalten!“
„Kommt gar nicht in Frage!“ sagte Juarez grollend. Er war ein großer, muskelbepackter Kerl, von dem es hieß, daß er weder Tod noch Teufel fürchtete. „Wir haben die Schnauze voll von diesem beschissenen Plan!“
„Jawohl, das haben wir“, pflichteten ihm die anderen bei.
„Es ist eure Pflicht, mir zu helfen!“ fauchte de Escobedo.
„Pflicht, so ein Quatsch!“ rief das Wiesel lachend.
„Wir müssen stürmen!“ brüllte de Escobedo.
„Stürm doch selber“, sagte Juarez schroff. „Wir haben ’ne bessere Beschäftigung! Auf uns wartet ’ne Menge Arbeit!“
„Das ist Feigheit vor dem Feind!“ schrie de Escobedo.
„He!“ brüllte einer der Kerle. „Was will dieser Clown eigentlich von uns? Ich laß mich nicht beleidigen!“ Sofort zückte er sein Messer.
Auch das Wiesel und einige andere Kerle hatten plötzlich ihre Messer in den Fäusten. Drohend schoben sie sich auf de Escobedo zu.
Juarez stieß de Escobedo vor die Brust. De Escobedo taumelte zurück und prallte gegen die anderen Kerle. Die Kerle fluchten und fuchtelten mit ihren Messern.
„Mich hat noch keiner einen Feigling zu nennen gewagt!“ stieß Juarez hervor. Seine Augen funkelten gefährlich.
„So hab’ ich das nicht gemeint!“ brüllte de Escobedo.
„Wie denn?“ wollte das Wiesel wissen.
„Wir sind aufeinander angewiesen, gegenseitig, meine ich“, entgegnete de Escobedo rasch.
Juarez lachte verächtlich. „Das denkst du. Aber wir brauchen dich nicht mehr. Du kannst uns den Buckel runterrutschen. Als Bandenführer taugst du nichts. Es bringt uns auch nichts ein, unsere Haut für dich zu Markte zu tragen.“
„Ich werde euch fürstlich belohnen“, erklärte de Escobedo. Vielleicht nutzte dieses Versprechen etwas? Konnte er diese Narren doch noch zur Umkehr bewegen? Er mußte es wenigstens versuchen.
„Wann denn?“ fragte das Wiesel lauernd.
„Wenn wir die Residenz erobert haben.“
„Zu spät“, erwiderte das Wiesel hämisch. „Dann haben die meisten von uns bereits ins Gras gebissen. Nein, der Preis ist zu hoch.“
„Wir brauchen uns bloß in den Häusern zu bedienen“, sagte Juarez. „Da gibt es jede Menge Zeug zu holen.“
„Wertlosen Plunder“, sagte de Escobedo.
„Stimmt nicht“, berichtigte ihn ein anderer Kerl. „Wir wissen schon, was wir mitnehmen müssen.“
„So“, sagte Juarez. „Wir haben schon lange genug geredet. Ich für meinen Teil habe genug Zeit vergeudet.“ Er tippte de Escobedo noch einmal mit dem Finger gegen die Brust. „Und du sei froh, daß wir dich am Leben lassen. Bei deiner großen Klappe kann es dir leicht passieren, daß dir jemand ein Messer zwischen die Rippen steckt.“
„Ja“, bestätigte das Wiesel und musterte de Escobedo aus schmalen Augen. „Versuche bloß nicht, uns nachzustellen. Und noch ein falsches Wort, und du landest in der Gosse.“
Alonzo de Escobedo hatte es die Sprache verschlagen. Diese Hurensöhne, dieses Pack – sie wagten es, so mit ihm umzuspringen! Mit ihm! Aus haßlodernden Augen starrte er ihnen nach. Sie gingen weg und drehten sich nicht mehr nach ihm um. Er konnte jetzt seine Pistole zücken und wenigstens einen von den Strolchen niederschießen. Aber was brachte es ihm ein? Die anderen würden sich auf ihn stürzen und ihn zerreißen. Er hatte keine Chance gegen diese Übermacht.
Das wußten die Kerle genau. Anderenfalls hätten sie nicht gewagt, so dreist aufzutreten. Lumpenpack, verdammtes, dachte de Escobedo und verwünschte die Halunken in die tiefsten Höllenschlünde. Das Gefängnis konnte er vergessen. Er konnte es nicht mehr stürmen, weder auf dem Weg über den Hof noch auf andere Weise.
Alonzo de Escobedo stand plötzlich allein da. Dabei hatte er noch Glück, daß ihn die Galgenstricke nicht getötet hatten. In ohnmächtiger Wut knirschte er mit den Zähnen. Was sollte er jetzt unternehmen? Er war ratlos.
Zum Nachdenken zog sich de Escobedo auf einen Hof zurück, der zu einer kleinen Gruppe von verlassenen Häusern gehörte. In einem der Gebäude lärmten Plünderer. Sie schienen betrunken zu sein und zerschlugen Geschirr. Es krachte, klirrte und polterte, und die Kerle lachten und grölten.
Gesindel, dachte de Escobedo, Dreckskerle.
Und doch war man auf dieses Gesindel angewiesen. Gonzalo Bastida war davon überzeugt, und er hatte recht. Ohne den Mob würde man die Residenz nie erobern. Doch wie regierte man dieses Pack? Bastida schien sich darauf besser zu verstehen. Er hatte ganz einfach mehr Erfahrung im Umgang mit solchen Strolchen.
Alonzo de Escobedo hingegen kannte sich nur mit Befehlsempfängern aus. Er kommandierte, und die Hunde hatten zu kuschen. In diesen Kategorien dachte de Escobedo. Was passierte, wenn die Befehlsempfänger nicht mehr parierten, keine Befehle mehr befolgten oder offen rebellierten, hatte er an der Bucht bei Batabanó erleben müssen. Doch es war ihm noch lange keine Lehre gewesen.
De Escobedo dachte auch weiterhin nur an seinen persönlichen Profit. Er war Gouverneur von Kuba gewesen, und er wollte es wieder werden. Sein Vorgänger, Don Antonio de Quintanilla, hatte ihm vorexerziert, wie man sich bereicherte. Dies wollte sich de Escobedo jetzt, da er endlich wieder auf freiem Fuß war, um keinen Preis nehmen lassen.
Aber alles hatte sich als weitaus schwieriger erwiesen, als sich de Escobedo anfangs vorgestellt hatte. Sein Plan, das Gefängnis zu stürmen und die einsitzenden Gefangenen zu befreien, war bisher nicht verwirklicht worden. Eher war das Gegenteil der Fall. Denn die Wachmannschaft unter José Cámpora, dem Gefängnisdirektor, hatte mit Erfolg und für den Gegner verlustreich jeden Angriff abgeschlagen. Das war das Fazit der Aktion.
Was jetzt? Verbissen überlegte de Escobedo hin und her, aber es wollte ihm keine Alternative einfallen. Die etwa fünfzig Gefängnisinsassen – darunter üble Schlagetots und Gurgelabschneider, die mit dem Galgen rechnen mußten – brauchte de Escobedo dringend zur Verstärkung seines Haufens. Denn nur so konnte er seinen eigentlichen Plan zur Durchführung bringen: die Eroberung der Gouverneursresidenz.
In der Residenz, so hatte de Escobedo den Kerlen verkündet, winke reiche Beute. Tatsächlich aber mußte die Residenz aus einem anderen Grund fallen. Solange sich dort die Miliz und die Bürgerschaft samt der Stadtgarde verschanzt hatten, konnte sich de Escobedo nicht in den Gouverneurssessel hieven. Wollte er die Stadt unter seine Diktatur zwingen, dann mußte als erstes der Widerstand im Palast gebrochen werden.
Erst dann konnte de Escobedo vollendete Tatsachen schaffen und vielleicht sogar Seiner Allerkatholischsten Majestät Philipp II., dem König von Spanien, in Verdrehung der Tatsachen melden, es sei ihm gelungen, für die Krone einen Aufstand in Havanna niederzuschlagen. Gefährliche Mitwisser des wirklichen Geschehens mußten natürlich beseitigt werden. Doch das war das geringste Problem. Es war nicht sonderlich schwierig, ein paar Leute verschwinden zu lassen. Schließlich hatte er in diesem Punkt bereits Erfahrungen.
Dies waren die Vorstellungen von Alonzo de Escobedo. Aber es lief nicht so, wie er das gerne hätte. Das hing in erster Linie mit der „Trutzburg“ von Gefängnis zusammen, an der jeder Angriff abprallte. De Escobedo verfluchte José Cámpora und wünschte ihn zum Teufel. Dieser Bastard hatte ihm alles vermasselt.
Aber da war auch noch der andere Punkt. Er, de Escobedo, hatte ganz einfach eine miese Truppe. Disziplinlose Kerle, Lumpengesindel. Er schob die ganze Schuld, daß es nicht geklappt hatte, auf die Bande. Die Kerle pfiffen darauf, sich blutige Köpfe zu holen, während andere Kerle aus der Unterwelt von Havanna damit beschäftigt waren, kräftig zu plündern, ohne dabei gestört zu werden.
Kurz und gut – an diesem Vormittag also war die Truppe, die de Escobedo gegen das Gefängnis angesetzt hatte, sozusagen zerbröselt. Er mußte es hinnehmen, so schwer ihm das auch fiel. Er hatte es eben mit Galgenvögeln zu tun. Sie gingen von der Fahne, ohne groß darüber nachzudenken. Es gab keinen, der sie dafür bestrafte, keine Miliz, keine Garde, keine Gerichtsbarkeit. In Havanna herrschte Anarchie.
Wie die Ratten brachen sie nun ebenfalls in die Häuser ein und bedienten sich. De Escobedo wünschte ihnen, daß sie stolperten und sich das Genick brachen, daß sie sich gegenseitig die Köpfe einschlugen. Aber das würde wohl kaum der Fall sein. Sie rafften zusammen, was sie ergattern konnten, und setzten es bei Bastida in bare Münze um. Was man hat, das hat man, so lautete ihre Devise.
De Escobedo konnte nichts mehr tun. Er verließ den Hinterhof und kehrte dem Gefängnis den Rücken – ehe Cámpora etwa auf den Gedanken verfiel, mit seinen Leuten auszurücken und ihn festzunehmen. Das hätte ihm noch gefehlt!
Vor Wut kochend, marschierte de Escobedo zum Hafen in die Kaschemme zurück, die dem anderen Rädelsführer gehörte: Gonzalo Bastida. Was sollte er sonst tun? De Escobedo hatte keine andere Wahl.