Seewölfe - Piraten der Weltmeere 148

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 148
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Impressum

© 1976/2015 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-472-2

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Die Kimm war nicht zu sehen.

Es war, als ließe das Meer seine Feuchtigkeit in immer dichteren Schwaden aufsteigen, um auf diese Weise auch noch von der Luft Besitz zu ergreifen. Der morgendliche Dunst trübte die Sicht, legte sich auf die Atemwege und gab den Männern das Gefühl, in einem Käfig von endloser Weite zu treiben.

In der Tat war dieses Meer, ihr vertrautes Element, nun zu einem Gefängnis geworden, das sie nicht mehr freigeben würde.

Der handige Wind aus Norden hatte kaum nachgelassen, seit sie zum letzten Mal die Bucht von Glandore gesehen hatten. Allein der Teufel mochte wissen, wie viele Stunden und Tage das zurücklag. Sicher war nur, daß sich dieser stete ablandige Wind als Mordwerkzeug für die feige Brut in Glandore Castle entpuppte.

Der Nordwest spielte mit den Wellenkämmen und zerfetzte die Schaumkronen, wenn es ihm gefiel. In wogenden Schleiern hing der Nebel über der See, ließ Konturen deutlich werden und im nächsten Moment wieder verschwimmen.

Das Boot trieb lautlos in diesem geisterhaften Wechselspiel. Es war nicht der Wind, der das Knarren der Takelage übertönt hätte. Denn es gab keinen Fetzen Tuch mehr auf diesem Einmaster, dessen schemenhafte Umrisse eins geworden waren mit dem Rhythmus launenhafter Naturgewalt.

Stimmen drangen durch die feuchte Luft, wurden von ihr in übernatürlicher Deutlichkeit getragen. Doch es gab niemanden, der diese Stimmen gehört hätte. Sie waren so unbedeutend geworden wie das Boot, das den Menschen an Bord nur noch fragwürdigen Schutz zu bieten vermochte.

Die Beine eines Mannes ragten über das Steuerbord-Schanzkleid des kleinen Einmasters. Steif wie ein Brett waren diese mageren Beine und von einer zerschlissenen grauen Hose umhüllt. Eine wächserne Farbe hatte von den verkrümmten nackten Füßen grausamen Besitz ergriffen.

Zwei Männer hielten den Toten, der schon zur Hälfte über seinem Grab schwebte. Schwielige Fäuste waren es, die die Oberarme des Leichnams gepackt hatten – so fest, als könnten sie ihn mit ihrer unbedeutenden menschlichen Kraft noch einmal ins Leben zurückrufen.

Das Gesicht des Toten war schmal und eingefallen, die Augen weit aufgerissen, wie im Angesicht eines furchtbaren Schreckens. Seamus Behan und die anderen hatten vergeblich versucht, die Lider des Mannes zuzudrücken. Zu spät hatten sie bemerkt, daß die Totenstarre eingesetzt hatte. Sein schmallippiger Mund war halb geöffnet und merkwürdig verzerrt. Die verkrampften Hände, knöchern fast, schienen einen nicht vorhandenen Halt zu suchen.

Der Mann, der hinter dem Toten stand, war alt und von knochiger Statur, seine Kleidung ebenso dürftig und zerschlissen wie die der anderen. Doch er fror nicht. Sein vom Hunger gezeichneter Körper war jenseits solcher Empfindungen.

Der alte Mann bekreuzigte sich.

Seine Stimme war von erstaunlicher Klarheit: „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes …“

Die schwieligen Fäuste der beiden anderen Männer gaben dem Leichnam einen harten Ruck. Sie wichen zurück und standen für den Augenblick des beklemmenden Schauspiels wie erstarrt.

Mit den Füßen voran tauchte der Tote in die dunklen Fluten. Noch einen kurzen Atemzug lang war sein wächsernes Gesicht zu sehen, dann griffen die schaumgekrönten Wogen in seine Haare, schienen damit spielen zu wollen und schlugen schließlich gischtend zusammen.

Das Seemannsgrab hatte den Toten aufgenommen. Von einem Herzschlag zum anderen, so, wie es sich diese Männer für ihr eigenes Ende stets wünschten. Das nasse Element, mit dem sie vertraut waren wie mit nichts anderem, bedeutete ihnen ebensoviel wie die heimatliche irische Erde. Doch keiner von ihnen hatte sich jemals gewünscht, so zu sterben, wie es sich ihnen allen nun ankündigte. Dies war nicht der Tod für einen aufrechten Mann. Denn grausame Mörderhände hatten ihren Anteil daran.

Die drei Männer, die schweigend am Steuerbord-Schanzkleid verharrten, bekreuzigten sich abermals.

Ihre Füße schienen mit den feuchten Decksplanken verwachsen. Die unkontrollierten Bewegungen des Bootes brachten keinen von ihnen aus dem Gleichgewicht. Fast sein ganzes Leben hatte jeder von ihnen auf diesen Decksplanken zugebracht, und es wäre die natürlichste Sache der Welt gewesen, wenn ihnen auch noch eine weitere Generation gefolgt wäre, für die das einmastige Fischerboot den Mittelpunkt harter Arbeit und entbehrungsvollen Lebens bedeutet hätte.

Aber es sah weiß Gott nicht danach aus, daß von diesen kläglichen Resten eines Bootes jemals wieder ein Netz in die irische See gehängt werden würde.

Seamus Behan, der Eigner und Kapitän des Bootes starrte mit flammendem Blick in die düsteren Fluten. Er versuchte, jenen Punkt festzuhalten, an dem der Tote für immer versunken war.

Seamus war groß und stämmig. Der Seewind hatte seine roten Haare zerzaust. Ein Kamm hatte keine Chance, jemals wieder Ordnung in diesen Haarschopf zu bringen. Behans schwielige Hände suchten vergeblich tastend nach dem breiten Ledergurt, hinter den er stets dann seine Daumen zu haken pflegte, wenn ihm mulmig zumute war. Aber dieser Gurt war nicht mehr da, um sein graues Leinenwams zusammenzuhalten. Die Kerle hatten ihm nur den dünnen Hosengürtel gelassen, damit er noch halbwegs wie ein anständiger Mensch aussah.

Seamus Behan war achtundzwanzig Jahre alt, doch seine Züge waren die eines Vierzigjährigen. Eisgraue Augen standen in einem Gesicht, dessen Furchen von rauhem Seewind und einem kargen Leben gezeichnet waren. Wieder stieg der schmerzliche Gedanke an Eileen in ihm auf – an Eileen und die sechs Kinder, die oftmals die einzige Freude in den langen Jahren eines armseligen Lebens gewesen waren.

Seamus zwang sich mit aller Macht, diese Gedanken nicht zu Ende zu denken. Er wandte sich ab. Sein Vater, der grauhaarige alte Mann, nickte ihm stumm zu. Häufig war es so, als könne Patrick Behan die Gedanken seines Sohnes lesen. In all den Jahren hatten sie jene Art von Verständigung entwikkelt, für die keine Worte nötig waren.

Und jetzt, so schien es, wollte der alte Patrick sagen: Gut so, mein Junge, denke nicht darüber nach. Denke nicht an Liam Collins, den wir dem Meer übergeben mußten. Und denke nicht an das, was hinter uns liegt. Wende dich immer den Dingen zu, die gegenwärtig sind. Nichts anderes hat einen Sinn.

Patrick Behan hatte die gleichen harten Gesichtszüge wie sein Sohn, doch war er ungleich hagerer. Sein graues Haar war stumpf und hing in wilden Strähnen über seinen schmalen Schädel, fast bis auf die Schultern. Mit seinen siebenundfünzig Jahren hatte Patrick Behan ein Alter erreicht, das für seine Landsleute in der Grafschaft Cork den Hauch des Ungewöhnlichen und Unerreichbaren hatte. In diesen Zeiten, in denen die Menschen auf der Insel Irland Hunger litten, würde ein hart arbeitender Mann selten älter als vierzig Jahre. Aber Patrick Behan war trotz seines greisenhaften Alters, trotz des Hungers, den auch er stets erlitten hatte, von ungeheurer Zähigkeit. Für ihn waren alle Entbehrungen eine ständige Herausforderung gewesen, die es zu besiegen gegolten hatte.

Der dritte Mann an Bord hatte den Rang eines einfachen Seemanns. Brendan O’Donovan, gleichfalls rothaarig, klein und krummbeinig, war drei Jahre älter als sein Kapitän. Sein Gesicht, in dem die Augen wie blaßblaue Knöpfe ruhten, spiegelte eine gehörige Portion Gerissenheit. Makrelenschwärme witterte er mit untrüglicher Sicherheit, wie er behauptete. Und wenn es gelang, ein volles Netz an Bord zu hieven, betrachtete er dies als einen Erfolg seiner persönlichen List.

„Wir werden dich nie vergessen, Liam“, sagte O’Donovan mit einem letzten Blick auf die dunklen Wogen. „Niemals!“ O’Donovan sprach Gälisch, seine Muttersprache und die seiner Landsleute. Von fremden Einflüssen nahezu unberührt, hatten die Bewohner Irlands diese guttural klingende keltische Sprache seit Urzeiten bewahrt.

Patrick Behan zog die Schultern hoch, doch es war kein Zeichen dafür, daß er fror.

„Ich werde der nächste sein. Ich fühle es.“

„Hör auf mit dem Unsinn“, knurrte sein Sohn, „solange wir am Leben sind, gibt es Hoffnung. Hast du das nicht immer gesagt?“

Der alte Mann lächelte und entblößte dabei die wenigen Zahnstümpfe, die er noch hatte.

„Recht so, Junge. Aber irgendwann, muß man aufhören, sich was vorzuerzählen. Redmond Flaherty war der erste. Es ist noch nicht lange her, daß wir ihn über Bord werfen mußten. Und jetzt Liam Collins. Gegen die Naturgesetze kann man nichts …“

„Schluß jetzt“, unterbrach ihn Seamus. „Der Kapitän der ‚Cruiscin Lán‘ will solche Reden an Bord nicht mehr hören, alter Mann.“

 

Brendan O’Donovan nickte eifrig. Warnend hob er den Zeigefinger. „Also keine Meuterei, Paddy! Selbst auf einem gottverdammten Wrack ist der Kapitän noch immer der Kapitän.“

Patrick Behan schüttelte müde den Kopf.

„Galgenhumor kann ich nicht leiden, Brendan. Weil es kein echter Humor ist.“

„Na und? Soll ich vielleicht in Tränen ausbrechen, oder was?“

„Er hat recht, Dad“, sagte Seamus Behan, „wenn wir jetzt anfangen, den Kopf hängen zu lassen, können wir am besten gleich in den Teich springen.“

Der alte Behan lehnte sich gegen den Mast, an dem kein einziger Fetzen Tuch mehr hing. Die Augen des alten Mannes hatten jeden Glanz verloren. Da war nichts mehr von der ehernen Willenskraft, die sich sonst stets in diesen Augen spiegelte.

„Ich will euch nicht dreinreden“, murmelte er, „wenn ihr beide glaubt, noch Hoffnung haben zu können, dann kann ich nichts dagegen sagen. Aber für mich ist der Kampf zu Ende. Gegen die See hat keiner eine Chance – nicht mit diesem lächerlichen Klumpen Holz, der einmal die ‚Cruiscin Lán‘ gewesen ist.“

Seamus Behan und Brendan O’Donovan schwiegen betreten. Pessimismus war eine Seite, die der alte Patrick nie so offen gezeigt hatte. Daß er es jetzt plötzlich tat, machte ihre ausweglose Lage auf erschreckende Weise deutlich. Wenn Patrick Behan aufgab, hatte das etwas ungeahnt Schwerwiegendes. Der grauhaarige Alte war immer eine unerschütterliche Stütze gewesen. Und die sollte es auf einmal nicht mehr geben?

Seamus Behan ließ den Blick aus weiten Augen über sein Boot gleiten, als sähe er jetzt zum ersten Mal, was geschehen war.

In der Tat war der Anblick mehr als niederschmetternd. Der Mast ragte wie ein einsamer Zahnstocher in den grauen Morgenhimmel, die Rah hing schief herab – ohne das mehrfach geflickte Segel. Die Schergen Lord McCarthys hatten es hohnlachend über Bord geworfen. Das war unter der Küste gewesen, kaum mehr als zwei Seemeilen südöstlich von Glandore.

Aber sie hatten sich nicht damit begnügt, das Segel herunterzureißen. Mit Axthieben hatten sie das Ruder zerstört, die Fangleinen gekappt und sämtliche Proviantvorräte den Fischen zum Fraß vorgeworfen. Es gab kein Trinkwasser mehr an Bord und nicht einmal einen Napf, in dem man den Regen hätte auffangen können. Ebenso keinen noch so winzigen Fetzen Tuch, aus dem man ein Notsegel hätte knüpfen können.

Ja, Lord McCarthys Halunken hatten an alles gedacht. Außer ihren bloßen Händen und dem bißchen, was sie auf dem Leib trugen, verfügten die Männer an Bord des Fischerbootes über nichts mehr, was ihnen geholfen hätte. Mit diesen bloßen Händen konnten sie keine Fische fangen, um ihren Hunger zu stillen. Jeder von ihnen hätte ein Königreich für ein Stück Schnur und einen Haken gegeben.

Seamus Behan wußte nur zu gut, daß sein Vater recht hatte. Es gab keinen Grund mehr, sich Illusionen vorzugaukeln. Noch trieb das Boot wie eine ruderlose Nußschale in der See, vom Wind und von Meeresströmungen mäßig getrieben. Aber sobald ein Sturm aufkommen würde, war es aus. Dann konnten sie ziemlich sicher sein, daß sie an einem der vielen Riffs vor der südirischen Küste zerschellen würden.

Damit endete dann die Geschichte der „Cruiscin Lán“, des plump aussehenden einmastigen Rahseglers. Schon in der dritten Generation war dieses aus hartem Pitchpine-Holz gebaute Boot von Glandore zum Fischfang ausgelaufen. Wenn keine höhere Gewalt daran gedreht hätte, wäre auch noch eine vierte Generation mit dem soliden Einmaster groß geworden.

„Vielleicht“, sagte Brendan O’Donovan leise, „kriegen wir bald auflandigen Wind. Und dann …“

„Ja, vielleicht.“ Seamus Behan nickte gedankenverloren. Er blickte seinem Vater nach, der sich mit unendlich trägen Bewegungen abwandte und durch die offene Luke unter Deck sinken ließ. Dort unten, dachte Seamus mit einem Anflug von Bitterkeit, hat man einen ruhigen Platz zum Sterben.

Er mußte sich nun selbst abwenden, starrte auf die düstere See hinaus und verkrampfte die Hände über dem Schanzkleid. O’Donovan sollte die Tränen in seinen Augen nicht sehen. Seamus konnte diese Tränen nicht unterdrücken. Wut und Verzweiflung ließen sie emporsteigen. Wut auf die grausamen Unterdrükker, die die Leute von Glandore bis aufs Blut knechteten. Verzweiflung über den eigenen Niedergang, den man hätte voraussehen können, aber vielleicht doch nie vermieden hätte.

Ja, Seamus Behan mußte vor sich selbst zugeben, daß es nur ein kleiner Schritt war, um in die gleiche Niedergeschlagenheit zu verfallen, die bereits von seinem Vater Besitz ergriffen hatte.

Wie viele Tage und Stunden vergangen waren, seit die McCarthy-Schergen sie unter der Küste überfallen hatten, vermochte keiner von ihnen mehr zu sagen. Sie hatten jegliches Zeitgefühl und auch die Orientierung verloren. Redmond Flaherty war als erster an Hunger und Entkräftung gestorben. Dann Liam Collins, und wahrscheinlich hatte der alte Mann recht damit, daß er der nächste sein würde.

Niemand würde jemals die Wahrheit über ihr Schicksal erfahren, denn niemand hatte den grausamen Zwischenfall beobachtet. Sie würden auf Nimmerwiedersehen in der endlosen Weite der irischen See verschwinden – so, wie es Lord Facthna McCarthy in seinen heimtückischen Gedankengängen vorausberechnet hatte.

Nun gut, der Lord hatte es also geschafft, den Aufsässigsten unter den Fischern von Glandore aus dem Weg zu räumen. Sollte er mit diesem Erfolg selig werden. Vielleicht gab es eine überirdische Gerechtigkeit, die ihn strafte. Irgendwann, wenn die Knochen der Behan-Crew auf dem Meeresgrund längst ausgebleicht waren.

Ein seltsames Gefühl von Sehnsucht ergriff den rothaarigen Mann am Schanzkleid des Einmasters, während er auf die dunklen Wogen blickte. Eine trügerische Eingebung begann ihm vorzugaukeln, daß es dort, tief unten, Geborgenheit, Wärme und Ruhe gäbe.

Seamus Behan begriff nicht, daß es die Vorboten des Todes waren, die sich seiner Sinne bemächtigten.

2.

„Affenarsch!“

Schrill keifend tönte es aus der Kapitänskammer.

„Affenarsch! Affenarsch!“

Und helle Stimmen waren zu hören – freudig lachend, voller Begeisterung. Ihre Worte indessen waren fremdartig. Dazwischen immer wieder dieses Keifen, das sich zu grellen Dissonanzen steigerte, je mehr die Kinder lachten.

Philip Hasard Killigrew verharrte einen Moment lang lächelnd, bevor er eintrat.

„Sir John!“

Der große scharlachrote Papagei floh mit erschrockenem Flügelschlag von der Mitte der halb gedeckten Frühstücksback und landete auf dem Schapp im hintersten Winkel der Kammer. Dort legte er seine blau, grün, gelb und rot gemusterten Schwingen glatt, wandte dem Seewolf den Rücken zu und drehte lediglich den Kopf mit vorwurfsvoll rollenden Knopfaugen.

„Solche Worte wirst du ihnen nicht beibringen!“ rief Hasard lachend.

„Miese Kakerlake!“ krächzte Sir John.

Hasard machte Anstalten, sich den vorlauten Vogel zu greifen.

Sir John duckte sich, bereit zu einem weiteren Fluchtversuch.

„Dad, bitte!“ Es war einer der beiden Jungen, der es fast flehentlich rief.

Hasard ließ Sir John in Frieden. Der buntgefiederte Vogel nahm diese Tatsache augenblicklich zur Kenntnis, wiegte sich beruhigt von einer Seite zur anderen und plusterte wohlgefällig seine farbenprächtigen Federn.

Die Söhne des Seewolfs hatten den Papagei längst in ihr Herz geschlossen. Daß sie seine vulgären Schimpfworte nur zum Teil verstanden, hatte seinen guten Grund. Es war noch nicht lange her, daß sie begonnen hatten, die ersten Worte in der englischen Sprache zu lernen. Aber sie lernten mit kindlicher Begeisterung, und mit jedem Tag wuchs ihr Wortschatz. Nur wenn sie allein waren, wenn sie abends in ihrer Koje lagen oder morgens erwachten, nur dann sprachen sie Türkisch oder Persisch. Denn damit waren sie bisher aufgewachsen.

Der Seewolf zwang sich, nicht erst an die Vergangenheit zu denken. Die Gegenwart war wichtig, nichts anderes. Sieben Jahre alt waren die beiden jetzt, und er hatte sie bei sich. Das allein zählte.

Hasard strich den Zwillingen über das schwarze Haar.

„Guten Morgen, Philip. Guten Morgen, Hasard.“ Er sprach betont langsam und deutlich.

Aus leuchtenden blauen Augen blickten sie zu ihm auf, während er sich ihnen gegenübersetzte. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen, und mit ihren sieben Jahren waren sie fähig, schnell zu lernen. In den Wochen, die sie an Bord der „Isabella VIII.“ verbracht hatten, waren sie bereits so weit fortgeschritten, daß sie kaum noch die Zeichensprache brauchten, um sich mit ihrem Vater und den Männern der Crew zu verständigen.

„Guten Morgen, Dad“, sagten die beiden wie aus einem Mund. Sie sprachen sehr sorgfältig, noch mit einem unüberhörbaren Akzent. Doch diese Spuren, die aus ihren ersten sieben Lebensjahren im Orient herrührten, würden bald verwischen. Noch waren sie jung genug, um sich vollends auf den englischen Lebensstil umzustellen. Ihr Äußeres spiegelte die Willenskraft und die Intelligenz, die in ihnen schlummerte. Philip und Hasard waren schlank und geschmeidig. Ihre scharfgeschnittenen Gesichtszüge spiegelten einen Ernst, der für ihr Alter ungewöhnlich war.

Eine Weile sah der Seewolf seine Söhne schweigend und lächelnd an. Er wußte, daß sie zu ihm bereits ein festes seelisches Band geknüpft hatten. Sie brauchten nicht unbedingt Worte, um einander zu verstehen.

Der Seewolf hatte berechtigte Hoffnung, daß die Schwierigkeiten und Gefahren auf der Heimreise nach England überwunden waren. Spanien lag endgültig hinter ihnen. Und auch die gefürchtete Biscaya mit ihren wilden Stürmen hatten sie gemeistert. Was jetzt noch folgte, war eigentlich nicht mehr der Rede wert – gemessen an den Herausforderungen, mit denen die Seewolf-Crew in der Vergangenheit fertiggeworden war. England war schon so nahe, daß man hinspucken konnte.

Und damit war auch die bessere Zukunft für die beiden Söhne des Seewolfs nähergerückt.

Leichtfüßige Schritte wurden aus dem Niedergang zur Kapitänskammer hörbar.

Philip und Hasard sprangen auf.

„Bill, Bill!“ riefen sie begeistert. Sie hatten den Moses an seinen Schritten erkannt, bevor sie ihn sehen konnten.

Dann, als der Moses der Crew die Kapitänskammer betrat, hatte er Mühe, das Gleichgewicht zu bewahren. Die beiden Söhne des Seewolfs tanzten voller Freude um ihn herum. Längst hatten sie Bill, der als Schiffsjunge auf der „Isabella“ angefangen hatte, in ihr Herz geschlossen. Mit dem jungen Mann verband die beiden schon eine echte Freundschaft.

Bill hatte Mühe, das Frühstücksgeschirr heil zum Tisch zu balancieren.

„Philip! Hasard!“ rief der Seewolf. „Setzt euch wieder!“ Er mußte sein Lächeln unterdrücken. Er wußte, daß Vaterstolz in bestimmten Situationen weniger wichtig war als die Notwendigkeit, zivilisierte Lebensgewohnheiten einzuüben. Und er hatte beileibe nicht vor, seine Söhne so zu verwöhnen, daß hochnäsige Gecken aus ihnen wurden.

Bill setzte die Kanne mit heißem Tee ab, daneben eine Schüssel, die mit Schiffszwieback gefüllt war.

Die Söhne des Seewolfs waren gehorsam auf ihre Schemel zurückgerutscht.

„Sir“, sagte der Moses, „der Kutscher läßt ausrichten, daß er den besten Zwieback ausgesucht hat, den er finden konnte.“

„Schon gut“, murmelte der Seewolf, „aber das nächste Mal wird der Kutscher sich diese Mühe sparen. Was die Verpflegung betrifft, gilt an Bord der ‚Isabella‘ noch immer gleiches Recht für alle. Niemand erhält eine Sonderbehandlung. Sag ihm das.“

„Aye, aye, Sir.“ Bill verschwand wieder.

Hasard gönnte sich die Zeit für das gemeinsame Frühstück mit seinen Söhnen. Dann ließ er sie in der Kapitänskammer allein. Er wußte inzwischen, daß sie keinen Unfug anstellen würden.

Beklemmende Luftfeuchtigkeit empfing ihn an Deck. Der Himmel hatte sich hinter einem trüben Vorhang verborgen. Durch Wanten und Pardunen pfiff der Wind, ein handiger Nordwest, der Nebelschwaden mit sich trieb und die weithallenden Stimmen der Männer an Bord auf die kabbelige See hinaustrug.

Auf der Kuhl und auf der Back herrschte rege Betriebsamkeit. Der um Norden pendelnde Wind trieb die Crew zu pausenlosem Einsatz an Brassen und Schoten. Bis auf Großmars- und Vormarssegel war das gesamte Tuch der Galeone gesetzt. Die „Isabella VIII.“ lief mit rauschender Fahrt über Steuerbordbug auf Nordostkurs.

Über die Kuhl dröhnte Ed Carberrys mächtige Stimme. Der bullige Profos war in seinem Element. Mit seinen Sprüchen, die jeder im Schlaf nachbeten konnte, scheuchte er die Männer über die feuchten Decksplanken. Ben Brighton, Bootsmann und Hasards Stellvertreter, gab seine Kommandos vom Achterkastell her. Ben war ein ruhiger und zuverlässiger Mann. Nirgendwo fühlte er sich mehr zu Hause als im rauhen Wetter vor den britischen Inseln.

 

Während Hasard die schmalen Stufen zum Achterkastell erklomm, bemerkte er, daß der Nebel nachzulassen begann. Die Sicht hatte sich geringfügig verbessert, betrug aber kaum mehr als vier, fünf Schiffslängen.

Philip Hasard Killigrew trug sein ledernes Wams über einem hellen Leinenhemd. Der Ledergurt unterstrich seine schmalen Hüften und die breiten, muskulösen Schultern. Hasard war über sechs Fuß groß. Unter seinem schwarzen Haarschopf dominierten zwei eisblaue Augen, die so klar und fest waren wie seine Charaktereigenschaften.

Ben Brighton stand in der Nähe des Ruderhauses, wo er seine Anweisungen an den Rudergänger gab. Pete Ballie, dieser stämmig gebaute und etwas zu klein geratene Mann, hatte graue Augen und blondes Haar. Seine Fäuste hatten das Format von Ankerklüsen. Schon unter Sir Francis Drake hatte er sich mit diesen hart zupackenden Fäusten als Rudergänger bewährt.

Ben Brighton wandte sich Hasard zu, als dieser neben ihm stehenblieb.

„Wir werden den Kurs nicht mehr lange halten können. Der verdammte Nordwest fängt an zu schralen.“

Hasard runzelte amüsiert die Stirn.

„Ich weiß nicht, wo die Probleme liegen sollen, Ben. Oder meinst du, daß uns ein bißchen Zeitverlust schaden könnte?“

„Das will ich damit nicht sagen, aber …“

„Mir scheint, dich hat die gleiche Stimmung gepackt wie die anderen. Wenn es nach euch ginge, müßte die ‚Isabella‘ Flügel haben, damit wir gleich heute abend in England sind.“

Ben Brighton grinste verlegen.

„Nun ja. Irgendwie ist es schon ein merkwürdiges Gefühl, wenn man so dicht vor der Haustür steht. Da packt es einen, ob man will oder nicht.“ Er deutete mit einer Kopfbewegung zur Kuhl. „Den Kerlen da unten kribbelt es in den Fingern und wer weiß noch wo. Der erste Landgang in Old England ist wirklich eine Sache, auf die man sich freuen kann.“

Hasard nickte. „Trotzdem ist die ‚Isabella‘ kein Adler. Jeder von uns sollte froh sein, daß wir sie haben.“

„Ganz gewiß“, pflichtete Ben ihm bei, „wir werden das Beste aus diesem verrückten irischen Wind herausholen.“

Und das war alles andere als schwierig. Denn die achte „Isabella“ war die beste, die die Seewölfe jemals gesegelt hatten. Einer der hervorragendsten Schiffszimmerleute Englands hatte diese Galeone gebaut, die Philip Hasard Killigrew gemeinsam mit seinen Männern erworben hatte. Sie alle hatten ihren Geldanteil in dieses seetüchtige Schiff gesteckt, und keiner von ihnen hatte das bisher bereut.

Im Prinzip war die „Isabella VIII.“ eine Galeone. Doch im Gegensatz zu den Spaniern, die an den Konstruktionsprinzipien ihrer plumpen Seekühe nichts änderten, hatten die Engländer aus ihren seemännischen Erfahrungen gelernt. Irgendwann würden den Dons die Augen übergehen, wenn sie begriffen, daß sie mit ihren Schiffbaumethoden ins Hintertreffen gerieten. Aber das lag wohl nicht an den mangelnden Fähigkeiten spanischer Konstrukteure. Philipp II., so sagte man, hatte sich nie sonderlich für die Seefahrt interessiert. Das Bestehende war für ihn gut genug, wie es schien.

Manchen Don hatten die Seewölfe unterdessen das Fürchten gelehrt. Die „Isabella“ war ein erkennbares Beispiel dafür, welchen hohen Wert die praktische Nutzung gewonnener Erfahrungen hatte. Mit seinem moderneren, viel schlankeren Rumpf war das Schiff der Seewölfe den schwerfälligen spanischen Galeonen überlegen. Sowohl das Vorderkastell als auch das Achterkastell waren wesentlich flacher gebaut, und die überhohen Masten ermöglichten eine größere Segelfläche als üblich. Statt eines Kolderstocks hatte die „Isabella“ ein Ruder. Ferris Tucker, der Schiffszimmermann der Seewolf-Crew, hatte überdies ein Ruderhaus gezimmert, so daß der Rudergänger nicht immer überkommenden Seen ausgesetzt war. Das Schiff hatte zwei große Frachträume unter der Kuhl und einen kleineren unter dem Vordeck. Alle drei waren sie jetzt, nach einer langen Reise, mit kostbaren Schätzen bis obenhin vollgestopft. Als Freibeuter im Dienste Ihrer Majestät, Elisabeth I., kehrten die Seewölfe mit übervollen Händen in die Heimat zurück.

Bestückt war die „Isabella“ an Backbord und Steuerbord mit je acht 17-Pfünder-Culverinen, außerdem gab es vorn und achtern je zwei Drehbassen für eine schnelle zusätzliche Feuerkraft. Die Culverinen hatten überlange Rohre, die eine größere Reichweite und bessere Treffgenauigkeit ermöglichten.

Ben Brighton behielt mit seiner Windvorhersage recht.

Hasard ließ die Galeone abfallen, immer noch über Steuerbordbug segelnd. Dann, als der Wind noch mehr schralte, ging der Seewolf auf Backbordbug. Jetzt mußte nach Nordwesten hin aufgekreuzt werden. Für die Männer an Deck gab es jetzt kaum noch Verschnaufpausen. Der Profos ließ sein Gemisch aus Befehlen und Flüchen in schnellerer Folge auf die Crew herabprasseln. Die Gedanken an Old England gerieten vorläufig zur Nebensache.

Hasard wußte, daß ein direkter Kurs auf England nur bei günstigen südlichen Winden möglich gewesen wäre. Aber die Windverhältnisse der vergangenen Tage hatten dazu geführt, daß sie sich der südirischen Küste näherten, was im Grunde nicht nachteilig war. Sie waren lediglich gezwungen, den Nordwestkurs jetzt strikt einzuhalten. Denn unter der Küste gab es zahlreiche gefährliche Riffs, die bei plötzlich einsetzendem auflandigem Wind zur tödlichen Falle werden konnten. Ben Brighton hatte recht: dieser verrückte irische Wind war in der Tat unberechenbar.

Der Seewolf blieb auf dem Achterkastell.

Vereinzelt einsetzende Böen begannen, die Nebelschwaden zu zerfasern. Die Sicht wurde etwas besser, doch die Kimm blieb nach wie vor hinter einem trübgrauen Vorhang verborgen.

Unvermittelt tönte die helle Stimme Bills aus dem Ausguck im Großmars.

„Deck! Mastspitze Steuerbord voraus!“

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