Loe raamatut: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 557»
Impressum
© 1976/2019 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-95439-964-2
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Burt Frederick
Old Donegals Wunschbaum
Am Schwarzen Meer scheint sein Traum in Erfüllung zu gehen
Ein kühler Wind stieß in den Talkessel und zerriß die Nebelschwaden. Der Reiter ließ sich aus dem Sattel gleiten. Er leinte sein Pferd an. Die Haltebalken umgaben den Platz wie ein achteckiges Geländer. Die düsteren kleinen Holzhäuser ringsum hatten verschwommene Konturen. Der vom Wind getriebene Nebel strich über sie hinweg. Der Reiter eilte auf jenes Haus zu, das als einziges eine überdachte Veranda hatte. Er trat ein, ohne zu klopfen. Als Bote hatte er das Recht.
Sergej Garianidse saß am Tisch und schaufelte gebratenen Speck mit Eiern in sich hinein. Das prasselnde Kaminfeuer verbreitete Behaglichkeit.
„Setz dich, Wano“, sagte Garianidse kauend und ohne aufzublicken. „Du hast gute Neuigkeiten, nehme ich an.“
„Eine Dubas liegt seit gestern abend im Hafen von Otschamtschire“, antwortete der Reiter und zog sich einen Schemel heran. „Eine Dubas mit nichts als Engländern an Bord, Gospodin! Es sieht so aus, als ob sie Ausrüstung und Proviant brauchen.“
Die Hauptpersonen des Romans:
Sergej Garianidse – Der ehemalige Angehörige der Geheimpolizei Iwans des Schrecklichen flieht vor seiner eigenen Vergangenheit, wofür er allen Grund hat.
Dato Laseischwili – Der reiche Kaufherr bewirtet die Arwenacks mit einem georgischen Gastmahl, daß denen die Augen übergehen.
Josef Uschguli – Er hat gerade sein hundertfünfzigstes Lebensjahr beendet, und das löst bei Old O’Flynn eine Reaktion aus.
Old O’Flynn – Für Josef Uschguli ist er „ein junger Mann“, was er auch gerne sein möchte, nur hängt sein Leben bereits an einem seidenen Faden.
Philip Hasard Killigrew – Der Seewolf hält die kleine Hafenstadt am Schwarzen Meer für ein Paradies, aber die Hölle liegt gleich nebenan.
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
1.
Garianidse blickte auf. Er war ein untersetzter Mann mit kantigem Schädel. Das dunkelblonde Haar trug er kurzgeschnitten. Der sichelförmige, äußerst buschige Schnauzbart verlieh seiner Miene einen stetigen Ausdruck von Geringschätzigkeit.
Über der hakenförmigen Nase standen zwei eisgraue Augen, die jedem Gesprächspartner das Gefühl gaben, keine Geheimnisse vor diesem Mann haben zu können. Bekleidet war Garianidse mit dem gewohnten weißen Leinenzeug, das er in der Hüfte mit einem Ledergürtel straffte. Unter dem Tisch hatte er die Beine mit den schweren Schaftstiefeln ausgestreckt.
Sergej Garianidse war Georgier – wie Wano, sein Verbindungsmann in Otschamtschire, dem kleinen Hafen an der Schwarzmeerküste.
Garianidse legte Messer und Gabel nieder und grinste. „Mein lieber Wano“, er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, „du darfst mir glauben, daß ich einiges erlebt habe – in der Zeit, in der ich dem russischen Zarenreich dienen durfte. Ich bin mit den absonderlichsten Begebenheiten konfrontiert worden. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Phantasie Menschen entwickeln, wenn sie sich in einer Notlage befinden. Einmal hatte ich einen Burschen zu verhören, der einen Mordanschlag auf Zar Iwan geplant hatte. Und was meinst du, was dieser Unglückswurm behauptete?“ Garianidse beugte sich vor und hieb mit der Faust auf den Tisch. „Nun, was meinst du?“
Wano zog die Schultern hoch. „Ich – ich weiß – es nicht“, stotterte er, obwohl er wußte, daß sein Gegenüber Zaghaftigkeit nicht leiden konnte. Er hatte der Opritschnina angehört, der berüchtigten Geheimpolizei Iwans des Schrecklichen. Nach dem Tod des Zaren war Garianidse in den Kaukasus zurückgekehrt, wo er nun seinerseits ein Schreckensregiment führte.
„Ich nehme an“, fuhr Wano mit unsicherer Stimme fort, „daß der Beschuldigte sich eine Geschichte ausgedacht hat, die an den Haaren herbeigezogen war.“ Wano war ein kräftig gebauter schwarzhaariger Mann mit dichtem Vollbart. Obwohl furchtlos, fühlte er sich in Garianidses Nähe stets klein und unbedeutend.
„Mehr als das, Wano, viel schlimmer.“ Der ehemalige Opritschninamann ließ sich wieder gegen die Stuhllehne sinken. „Dieser elende Bastard hat bei seiner Ehre geschworen, daß seine Mutter eine Hexe sei. Bei seiner Ehre! Stell dir so etwas vor! Die Ehre eines Meuchelmörders! Es folgte dann seine Behauptung, aufgrund erblicher Veranlagung ebenfalls vom Teufel besessen zu sein. Für seine Missetaten sei er folglich nicht selbst verantwortlich, sondern man müsse seine Mutter bestrafen, oder den Gehörnten persönlich. Nun“, Garianidse lachte rauh, „meine Männer und ich haben uns diesen Unsinn eine Weile angehört, und dann haben wir den Kerl an den Armen aufgehängt und ihm die Beine langgezogen. Du kannst dir nicht vorstellen, mit welcher Eile der Teufel aus ihm ausfuhr!“ Er lachte schallend und hieb sich vor Vergnügen auf die Schenkel.
Wano erschauerte. Er zwang sich, mitzulachen. Pflichtgemäß fragte er: „Und was ist aus dem Mann geworden?“
Garianidse beruhigte sich schnaufend. Er wedelte wegwerfend mit der Hand. „Gemeinsam mit dem Teufel verließ ihn auch die Seele. Ich persönlich hätte eine Gerichtsverhandlung mit Todesurteil lieber gesehen. Aber mit der Folter ist das so eine Sache. Man verschätzt sich sehr leicht. Kerle, die robust aussehen, sind die reinsten Schwächlinge, und die kleinen Dürren sind oft die zähesten, die man sich nur vorstellen kann.“ Er richtete sich auf dem Stuhl auf, stützte die Ellenbogen auf die Tischkante und faltete die Hände unter dem Kinn. „Verzeih mir mein Abschweifen, verehrter Berichterstatter. Hast du verstanden, was ich damit ausdrücken wollte?“
„Ja, Gospodin“, erwiderte Wano. Er wußte, daß der Bandenführer es liebte, mit dem russischen Wort für „Herr“ angeredet zu werden, weil es ihn an seine Zeit bei der Opritschnina erinnerte.
Niemals wäre Garianidse nach Georgien zurückgekehrt, wenn nach dem Tod Iwans im Jahr 1584 im russischen Reich nicht geänderte Verhältnisse eingekehrt wären. Fjodor, der unfähige Sohn Iwans des Schrecklichen, war ein Nichts. Die Regentschaft führte dessen Schwager Boris Godunow, und es mehrten sich die Stimmen, die davon sprachen, daß Boris über kurz oder lang zum Zaren gekrönt werde.
„Gut“, sagte Garianidse und nickte. „Dann versuche also nicht erst, mir Geschichten aufzutischen, die du erfunden hast.“
Wano verspürte einen Stich. Die Verdächtigung war für ihn ungeheuerlich.
„Ich schwöre, daß meine Meldung der Wahrheit entspricht“, sagte er mit bebender Stimme. „Ich habe nichts erfunden. Warum sollte ich so etwas tun?“
„Weil du in den letzten sechs Monaten keine verwertbaren Informationen geliefert hast“, sagte der Bandenführer kalt. „Du stehst unter einem gewissen Zwang. Du weißt, daß ich mir bald einen anderen suchen werde, der deinen Posten übernimmt. Ich trage die Verantwortung für dreiundvierzig Männer. Was wir brauchen, sind regelmäßige Einkünfte – sprich, lohnende Objekte.“
„Aber gerade daran denke ich doch dauernd!“ rief Wano mit einem Unterton von Verzweiflung. „Und nun habe ich endlich eine bedeutende Nachricht, und Sie unterstellen mir …“
Garianidse schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.
„Also gut, ich will nicht ungerecht sein“, sagte er versöhnlich. „Man soll einen Mann nicht zum Lügner erklären, bevor er den Mund aufgetan hat. Ich werde zuhören. Sprich!“ Er griff nach einer fertig gestopften Tonpfeife, die er von Kaufleuten mit Verbindungen zu westlichen Ländern erbeutet hatte.
Der scharfe, doch würzige Geruch des Tabaks wehte Wano entgegen, während Garianidse die Kienspanflamme mit schmatzenden Zügen in den Pfeifenkolben sog.
„Ich habe bis spät in die Nacht beobachtet und herumgehorcht“, sagte der Vollbärtige. „Und dann bin ich sofort aufgebrochen, ohne mir Schlaf zu gönnen.“
„Versteht sich von selbst“, brummte Garianidse hinter dichtem Rauch. „Weiter!“
Wano mußte alle innere Kraft aufbieten, um seinen Unwillen nicht zu zeigen.
„Nur einige Engländer haben gestern abend nach dem Vertäuen das Schiff verlassen“, fuhr er fort. „Sie haben Schewardnadses Hafenschenke aufgesucht und unseren köstlichen georgischen Wein genossen.“ Stolz klang aus den Worten Wanos, und Stolz spiegelte auch das Lächeln des Bandenführers. Nach Wanos Eindruck schien er nun endlich besänftigt zu sein.
„Wie viele Männer waren in der Schenke?“ fragte Garianidse.
„Sechs, Gospodin. Einer von ihnen war allerdings gebürtiger Spanier, aber er hat sich den Engländern angeschlossen.“
„Todfeinde, die sich verbünden.“ Garianidse nahm die Pfeife aus dem Mund und betrachtete sie, wie er sie in der rechten Hand hielt. „Da muß wirklich etwas Tiefgreifendes geschehen sein, wenn sich ein Spanier auf die Seite von Engländern schlägt.“
„Ich verstehe nicht, Gospodin.“
„Spanien und England, mein Lieber“, sagte Garianidse mit väterlicher Überlegenheit, „befinden sich im Kriegszustand. Und ich glaube, die Engländer gewinnen immer mehr an Einfluß auf den Weltmeeren. Ihre Königin ist ein eisernes Weib. Eine, die den spanischen Philipp das Fürchten gelehrt hat. Nun, das ist aber nicht unsere Welt.“ Der frühere Opritschninamann hängte sich die Pfeife wieder in den Mundwinkel. „War der Kapitän mit in der Schenke?“
„Nein, Gospodin. Aber ich habe seinen Namen in Erfahrung gebracht. Er heißt Philip Hasard Killigrew. Sir Philip Hasard Killigrew.“
Garianidse zog die Brauen hoch und stieß einen Pfiff aus. „Ein Mann von Adel?“
„Seine Königin soll ihn zum Ritter geschlagen haben.“
„Was hat ein Mann wie er auf einer verlausten russischen Dubas im Schwarzen Meer zu suchen?“
„Darüber konnte ich noch keine genauen Erkenntnisse gewinnen, Gospodin. Wie gesagt: Die Engländer haben erst gestern abend in Otschamtschire vertäut.“
„Hm. Wie stark ist die Crew insgesamt?“
„Ungefähr fünfundzwanzig Mann. Es mag einer mehr oder einer weniger sein. Ich kann mich da nach der kurzen Zeit nicht festlegen.“
Garianidse winkte ungeduldig ab. „Weiter! Was noch?“
„Es heißt, daß sie den russischen Zweimaster erbeutet haben. Sie wollen das Osmanische Reich durchquert haben und suchen einen Wasserweg, der ins Mittelmeer führt.“
Garianidse schmatzte an seinem Pfeifenmundstück. Der Tabak war verglüht. Er fluchte, als er sich die Zunge verbrannte. Wütend hob er das Rauchutensil und wollte es ins Kaminfeuer schleudern. Dann besann er sich des Seltenheitswerts dieser Tonpfeifen und legte sie behutsam auf den Tisch.
„Haben sie Handelsware bei sich?“ fragte er.
„Nach dem Tiefgang der Dubas scheinen die Laderäume zumindest nicht leer zu sein. Mit Waffen sind sie außerdem hervorragend ausgerüstet.“
Die Miene des georgischen Bandenführers erhellte sich weiter. Er stand auf, umrundete den Tisch mit dumpf polternden Schritten und klopfte seinem Verbindungsmann auf die Schulter. „Gute Arbeit, Wano, wirklich gute Arbeit. Darauf laß uns anstoßen. Ich bin sicher, dein Einsatz wird sich lohnen.“
Wano strahlte vor Freude, als Garianidse mit einer Flasche und zwei Gläsern zurückkehrte und sich ihm wieder gegenübersetzte. Der Bandenführer schenkte die Gläser halbvoll mit dem glasklaren Schnaps. Wano nahm sein Glas, prostete seinem Gegenüber zu und leerte es mit einem Zug. Er wußte, Garianidse liebte Leistungsvermögen dieser Art.
„Die Engländer haben einen weiten Weg hinter sich“, sagte Wano. „Es war vom Persischen Golf und von Arabien die Rede, von Ostafrika und vom Indischen Ozean. Und wie fromme Pilger sehen sie nicht gerade aus. Ich halte es für denkbar, daß sie auf ihrem Weg einiges an Beute eingesackt haben.“
Abermals stieß Sergej Garianidse einen Pfiff aus.
„Du könntest recht haben!“ rief er begeistert. „Nach allem, was ich von den Engländern gehört habe, sollen sie wahre Teufelskerle sein.“ Er grinste. „Natürlich nicht mit uns zu vergleichen. Aber – immerhin! Als Freibeuter zwacken sie den Spaniern ganze Schiffsladungen von Gold ab.“
„Vielleicht sind auch unsere Englischmänner in Otschamtschire solche Freibeuter“, sagte Wano, durch den Alkohol bereits ein wenig von Hemmungen befreit.
„Vielleicht“, entgegnete Garianidse und nickte. Er schenkte nach, diesmal dreiviertelvoll. Wieder wurden die Gläser in einem Zug geleert. Der Bandenführer hängte die Arme über die Stuhllehne und streckte die Beine lang aus, am rechten Tischbein vorbei. Unvermittelt verdüsterte sich seine Miene. „Es könnte aber auch andere Gründe für ihre Anwesenheit geben“, murmelte er.
Wano erschrak, zeigte es aber nicht. „Nicht, daß ich wüßte, Gospodin. Sie wollen in Otschamtschire ihre Vorräte ergänzen und dann weiter, den Weg ins Mittelmeer suchen.“
Garianidse schnellte hoch. Seine Augen waren plötzlich zu Schlitzen verengt.
„Das ist zu einfach“, zischte er. „Es muß mehr dahinterstecken. Solche lächerlichen Gründe reichen mir nicht.“ Mit zwei schnellen Schritten war er bei seinem Zuträger.
Wano war zusammengezuckt. Er wollte zurückweichen, doch er schaffte es nicht mehr.
„Nein!“ rief er keuchend. „Sie können doch nicht …“
Seine Stimme erstarb in einem Gurgeln, als ihn Garianidse am Kragen packte und mit der einen Faust mühelos vom Schemel hochzog. Wano beging nicht den Fehler, sich aus dem eisenharten Griff befreien zu wollen. Dadurch würde er Garianidses Jähzorn nur noch mehr anfachen. Dieser unvorhersehbare Stimmungsumschwung, wie man ihn allen Georgiern nachsagte, war bei ihm auf eine besonders gefährliche Art ausgeprägt.
„Rede!“ sagte Garianidse fauchend. „Spuck die Wahrheit aus, du Wurm! Du arbeitest für zwei Seiten und versuchst ein doppeltes Spiel mit mir. Habe ich recht? Die Engländer sind in Wirklichkeit Spitzel, die man mir auf den Hals schickt. Diesem Hundesohn Boris Godunow traue ich alles zu. Und du bist im Auftrag dieser elenden Ketzer hier, um mich einzulullen. Sobald ich eine Maßnahme gegen sie durchführe, wie du das gern möchtest, gerate ich in eine Falle!“ Er packte fester zu und schüttelte den nicht gerade schwächlichen Mann, daß dessen Kopf vor und zurück wippte.
„Nein!“ schrie Wano. „Das ist nicht wahr! Ich habe alles gesagt, was ich weiß! Und ich habe nichts hinzugefügt!“
Seine Stimme wurde schrill vor Angst, als Garianidse mit beiden Fäusten zupackte, ihn von dem Schemel wegzog und mit dem Rücken gegen die Wand neben der Eingangstür stieß. Es krachte dumpf.
„Sei still!“ brüllte Garianidse mit zornschwellenden Schläfenadern. Er versetzte dem Boten klatschende Ohrfeigen, die wie eine Serie von Schüssen klangen. Wanos Schreie versickerten in einem Wimmern, als der Bandenführer begann, seine Wut in ihn hineinzuhämmern. Die Fäuste Garianidses waren wie Eisenklötze.
Wano versank in eine Woge von Schmerz. Seine Rippen schienen unter den Schlägen zu brechen. Die Lippen platzten auf, das rechte Auge schwoll zu. Dennoch unternahm er nicht den geringsten Versuch, sich zu wehren. Er wußte: Sobald Garianidse auch nur den Ansatz von Gegenwehr spürte, würde er seinen unterlegenen Gegner totschlagen.
Der Bandenführer hielt erst inne, als Wano mit verquollenem und blutendem Gesicht auf dem Boden lag und nicht mehr imstande war, sich zu rühren. Garianidse versetzte dem nun endgültig Wehrlosen einen Stiefeltritt, und Wano krümmte sich mit einem erstickten Schmerzenslaut.
Er war einer Ohnmacht nahe, doch sein Peiniger hatte die Hiebe mit voller Absicht so bemessen, daß sie ihm die Gnade der Bewußtlosigkeit nicht gewährten.
„Ich gebe dir noch eine Chance“, sagte der ehemalige Scherge Iwans des Schrecklichen eisig. „Du reitest nach Otschamtschire zurück. Jetzt, sofort. Du hast achtundvierzig Stunden Zeit, mir brauchbare Hinweise zu liefern. Wenn du in dieser Frist nicht wieder hier bist, weiß ich, daß du für die Gegenseite arbeitest. Dann werde ich dich jagen und dich töten.“
Die Angst verlieh Wano die Kraft, sich trotz seiner tobenden Schmerzen ins Freie zu schleppen und auf den Rücken des Pferdes zu ziehen. Er wußte, daß Sergej Garianidse seine Drohung wahrmachen würde, wenn er seinen irrwitzigen Verdacht bestätigt sah.
Seit seiner Rückkehr aus dem Reich des Iwan Grosny litt Garianidse unter einem Verfolgungswahn, der an Besessenheit grenzte. Als Opritschninamann mußte er sich schlimme Dinge geleistet haben, daß er jetzt ständig das Auftauchen von Rächern erwartete.
Wano lag mit dem zerschundenen Gesicht auf der Mähne seines Pferds. Er mußte sich am Hals des Tiers festklammern, als er den verborgenen Talkessel im Kaukasus verließ.
2.
September 1597.
Dieses Hafenstädtchen an der Küste des Tschernoye More war vom Klima begnadet. Subtropische Pracht entfaltete sich an dieser Küste, an den Rändern der Stadt beginnend. So weit das Auge reichte, nach Norden und nach Süden, erstreckten sich Palmenhaine und Plantagen von Zitronenbäumen. Außerdem gab es jene kleinwüchsigen Orangen, die man Mandarinen nannte. Auch Tee wurde angebaut.
Dabei waren Hasard und seine Begleiter sicher, daß diese Fruchtbarkeit des Landes und die Milde des Klimas nur ein Teil jenes Reichtums waren, der den Wohlstand Georgiens insgesamt bedeutete.
Philip Hasard Killigrew, Dan O’Flynn und Don Juan de Alcazar verließen den kleinen Hafen, den die Bürger von Otschamtschire in einer gut geschützten Bucht gebaut hatten. Zurück blieb das farbenfrohe Bild der überwiegend einmastigen Fischerboote und Frachtsegler.
Über eine ausgetretene Steintreppe erstiegen die drei Männer die höhergelegene nördliche Landzunge. Üppig wucherndes Pflanzenwerk ließ den Eindruck einer grünen Wand entstehen, die den Hafen begrenzte. Ein gepflasterter Spazierweg führte einerseits bis zur seewärtigen Spitze der Landzunge und andererseits bis in die Stadt.
Unwillkürlich blieben Hasard und seine Begleiter stehen. Die Menschen in diesem paradiesisch anmutenden Land schienen begriffen zu haben, welche Vorzüge sie genossen. Der Pflasterweg auf der Landzunge erfüllte keinen praktischen Zweck, außer jenem, daß man sich von hier aus an der Schönheit der Umgebung satt sehen konnte.
Da war das Meer, dessen blauschwarze Fluten im strahlenden Sonnenschein unter wolkenlosem Himmel nahezu unbewegt waren. Nur in der Ferne, vor der westlichen Kimm, zeigten sich feine Linien von Schaumkronen.
Die laue Brise, die über der Küste spielte, vermochte das Uferwasser nur in träge Bewegung zu versetzen. Sachte umspielte es jene in Jahrtausenden plattgeschliffenen grauschwarzen Steine, die den breiten Küstenstreifen anstelle von Sand bedeckten. Es war ein Bild von eigentümlichem Reiz, es hatte etwas Düsteres und zugleich Heiteres.
Jenseits der Palmenhaine und Zitronenplantagen erhob sich landeinwärts das mächtige Massiv des Kaukasus – noch von morgendlichem Dunst umhüllt und scheinbar zum Greifen nahe.
Die Stadt Otschamtschire übertraf an Farbenpracht noch die Boote im Hafen. Häuser aus Holz, aber auch aus Stein gemauert, gruppierten sich an den Hängen und in den Senken der hügeligen Küstenregion. Fassaden und Giebel waren in heiteren Farben gestrichen, Palmen und Plantagen überschatteten die großzügig angelegten Straßen und Gassen mit ihren Blätterdächern.
„Hier könnte man in Versuchung geraten“, sagte Don Juan beeindruckt.
Hasard und Dan sahen ihn an.
„In Versuchung, hierzubleiben?“ fragte der Seewolf.
Der Spanier nickte.
„Denke an deine ehelichen Pflichten“, mahnte Dan lächelnd. „Solche Gedanken darfst du dir nicht erlauben – geschweige denn äußern.“
„Mit ‚man‘ habe ich natürlich nicht mich selbst gemeint“, sagte Don Juan. „Ich kann mir nur vorstellen, wie andere in diesem herrlichen Land empfinden.“
Hasard klopfte ihm auf die Schulter. Sie lachten und setzten ihren eben begonnenen Erkundungsgang in die Stadt fort.
In der Nähe des Hafens und auch in den weiter stadteinwärts gelegenen Straßen waren die Läden bereits geöffnet. Handwerker begannen mit ihrer Arbeit. Auffallend war die große Zahl älterer Menschen, die in der Geschäftigkeit des Morgens ruhende Punkte waren. In heiteren Wortwechsel vertieft, standen sie in kleinen Gruppen beieinander oder hatten sich auf hölzernen Sitzbänken vor den Wohnhäusern niedergelassen.
Viele freundliche Grüße galten den Männern, die mit dem russischen Zweimaster eingetroffen waren. Ihre Ankunft mußte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen haben. Nahezu jeder in der kleinen Stadt schien bereits von ihnen gehört zu haben.
Die Männer betrachteten die kunstvoll geschwungenen Schriftzeichen über den Eingängen der Läden. Die Buchstaben waren ihnen ebenso unbekannt wie die Sprache, die sie schon am Vorabend gehört hatten.
„Georgisch“, erklärte Dan O’Flynn, während sie die Schriftzeichen einer Bäckerei betrachteten. „Dieses Land hat immer seine Eigenständigkeit bewahrt, obwohl es im Laufe der Jahrhunderte von den unterschiedlichsten Invasoren heimgesucht wurde.“ Er deutete zu den Zwiebeltürmen einer Kirche am Ende der Straße. „Übrigens gilt diese Eigenständigkeit auch für die Kirche des Landes. Seit dem vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung sind die Georgier Christen. Sie haben ihre eigene georgischorthodoxe Kirche.“
Hasard und Don Juan stießen anerkennende Pfiffe aus. Dan bewies wieder einmal, wie oft und gründlich er seine Nase in jene Folianten gesteckt hatte, die bei ihren Beutezügen gegen die Spanier ganz am Rande mit eingesackt worden waren. Mit eben dieser Gründlichkeit hatte Dan auch seine Kenntnisse als Navigator bereits auf der „Isabella“ immer weiter vervollständigt.
Auf dem Platz bei der Kirche begegneten sie einem schwarzgekleideten Geistlichen mit wallendem Bart. Es zeigte sich, daß der Kirchenmann ein wenig Englisch sprach.
„Wir suchen einen Händler, der in der Lage ist, unser Schiff neu auszurüsten“, sagte Hasard. „Gibt es jemanden, den Sie uns empfehlen können?“
„Aber ja!“ rief der Geistliche, und seine Augen blitzten vor Freude. „Wenden Sie sich an Dato Laseischwili. Er ist der größte Kaufherr am Ort und hat es am allerwenigsten nötig, jemanden zu übervorteilen. Natürlich sind auch alle anderen Handelsleute in Otschamtschire ehrlich und korrekt. Aber bei Laseischwili können Sie absolut sicher sein.“ Der Schwarzgekleidete beschrieb ihnen den Weg durch die Straßen und Gassen.
Kontorhaus und Lagerei des Kaufmanns Laseischwili befanden sich im südlichen Teil der Stadt, nicht einmal weit vom Hafen entfernt. Das Handelshaus mit seinen verschiedenen Gebäuden und Innenhöfen nahm die gesamte Südseite des Straßenzuges ein.
Auf der anderen Seite der gepflasterten Straße standen einfache zweigeschossige Wohnhäuser, die sich nur durch ihre Fassadenfarben unterschieden. Zweifellos hatte Laseischwili hier seine Schreiber, die Lagerhalter und die Transportarbeiter mit ihren Familien untergebracht. In der Tat ein Handelsmann, der sich ein kleines Imperium aufgebaut hatte.
Hasard und seine Begleiter betraten die Eingangshalle des großen Kontorhauses, das dreigeschossig aus lehmfarbenen Ziegelsteinen gebaut war. Schlichtheit und Zweckmäßigkeit bestimmten das Äußere des Gebäudes. Da gab es keine überflüssigen Schnörkel und Verzierungen.
Don Juan betätigte einen Glockenzug aus schwerem Messing, und irgendwo in der Tiefe eines Korridors läutete es. Keine Minute verging. Ein Bediensteter erschien im Eilschritt und hieß die Besucher mit einer knappen Verbeugung willkommen.
Der Mann war schlank, mittelgroß und schwarzhaarig wie die meisten Leute, die sie in der Stadt gesehen hatten. Seine Kleidung war der täglichen Kontorarbeit angepaßt und aus robustem grauem Leinen. Die hemdartige, geknöpfte Jacke war mit einem Ledergürtel in der Hüfte gerafft.
Hasard erklärte sein Anliegen auf Englisch. Der Bedienstete schüttelte bedauernd den Kopf. Hasard versuchte es noch einmal auf Spanisch und schließlich auf Französisch. Es nutzte nichts. Der Georgier erwiderte etwas in seiner Heimatsprache und dann auf Russisch.
Diesmal waren es Hasard und seine Gefährten, die durch ein Achselzucken zu erkennen geben mußten, daß sie nichts verstanden. Der Bedienstete gab mit Gesten zu verstehen, daß sie warten sollten, bis er jemanden benachrichtigt hatte, der sich mit ihnen verständigen konnte.
Der Jemand, so zeigte sich wenig später, war nicht irgendwer. Es war der Hausherr persönlich, der sich in die Halle begab, um seine Gäste zu begrüßen. Dato Laseischwili hätte sich im Grunde nicht einmal vorzustellen brauchen.
Noch während er im Korridor mit erstaunlicher Behendigkeit herbeieilte, schlossen die Männer von der Dubas aus seinem Auftreten und seiner Haltung, daß er niemand anders als der Kopf des Unternehmens sein konnte – und das, obwohl seine Kleidung so einfach war wie die seines Bediensteten, der ihm mit zwei Schritten Abstand folgte, ein Notizbrett mit auf geklemmtem Papier, Feder und zugekorktem Tintenfaß waagerecht vor sich her tragend.
Dato Laseischwili strahlte vor Freude. Als er noch fünf, sechs Yards entfernt war, breitete er die Arme zum Willkommenszeichen aus. Er war nur mittelgroß. Sein fülliger Körper ließ ihn, kleiner wirken, als er war. Eine leuchtende Halbglatze über schwarzem Haarkranz krönte seinen runden Kopf. In dem bartlosen, etwas glänzenden Gesicht sprühten die dunklen Augen Heiterkeit und Lebensfreude.
„Seien Sie mir gegrüßt, Gentlemen!“ rief der Handelsherr in fast akzentfreiem Englisch. Er ergriff die Rechte des Seewolfs mit beiden Händen, schüttelte sie und begrüßte auf die gleiche Weise auch Dan O’Flynn und Don Juan de Alcazar. Nichts an dieser Herzlichkeit wirkte aufgesetzt oder übertrieben.
Laseischwili legte die Hände zusammen und trat einen Schritt zurück. „Ich bin Dato Laseischwili, und ich bin beglückt, Ihnen zu sagen, welches große Vergnügen Sie mir mit Ihrem Besuch bereiten. Ich wäre unaufrichtig, wenn ich behaupten würde, von Ihrer Anwesenheit in Otschamtschire noch nicht gehört zu haben. Und – offen gestanden – ich habe ein wenig darauf gehofft, Sie als meine Gäste empfangen zu dürfen. Eben dann, als mein Mitarbeiter um sprachliche Hilfe bat, wußte ich, daß der Moment gekommen ist.“ Abermals breitete er die Arme aus. „Seien Sie meine Gäste – Sie und Ihre gesamte Schiffsmannschaft!“
„Aber“, sagte der Seewolf verdutzt blinzelnd, „das können wir doch nicht annehmen, Mister Laseischwili. Wir haben lediglich vor, ein paar Ausrüstungsgegenstände und Proviant bei Ihnen einzukaufen.“
Der georgische Kaufmann lachte volltönend. „Sie meinen, das würde den Aufwand meinerseits nicht rechtfertigen? Irrtum! Sie befinden sich in Georgien. Ich betrachte mich Ihnen gegenüber als Repräsentant dieses großartigen Landes, und ich halte es für meine Pflicht, Ihnen einen nachhaltigen Eindruck von meiner Heimat zu verschaffen. Wenn also einer von Ihnen freundlicherweise den Rest der Crew verständigen würde, wäre ich dankbar.“
Don Juan erklärte sich bereit, zu gehen. Hasard und Dan blieben bei ihrem Gastgeber, dem ihre Bewirtung wichtiger zu sein schien als alles Geschäftliche. Laseischwili diktierte seinem Schreiber eine lange Liste von Vorbereitungen, die getroffen werden sollten, dann eine Liste der Speisen und Getränke, die aufzutischen waren, und schließlich die längste Liste von allen – jene der einzuladenden Verwandten, Freunden und Nachbarn.
„Die Georgier sind für ihre Gastfreundschaft berühmt“, flüsterte Dan O’Flynn dem Seewolf zu. „Daß es allerdings eine so gewaltige Gastfreundschaft ist, hätte ich auch nicht gedacht.“
Hasard lächelte. Er konnte nicht antworten, denn Laseischwili war mit seinem Diktat fertig und wandte sich ihm zu. Der Schreiber eilte davon, seine Schritte hallten durch den Korridor.
„Unser kleines Fest zu Ihren Ehren“, sagte der Kaufmann, „wird im Freien stattfinden. Ich nehme an, Sie sind damit einverstanden. Unser mildes Klima läßt es auch nachts nie so kalt werden, daß man das Gefühl haben müßte, sich in den Schutz von geschlossenen Wänden zurückziehen zu müssen.“
„Nachts?“ sagte Hasard unwillkürlich. „Heißt das …“ Er biß sich auf die Zunge. Natürlich hieß es das. Wenn sie erst einmal ein richtiges Gelage begonnen hatten, würden Laseischwili und seine Landsleute es nicht schon am frühen Abend abbrechen.
„Oh, lassen Sie sich überraschen!“ rief der Handelsherr und klatschte fröhlich in die Hände. „Die georgischen Nächte sind noch viel schöner als die Tage. Sie werden begeistert sein, Gentlemen, glauben Sie mir.“ Er faltete die Hände vor dem Bauch und lächelte einen Moment. „Wenn Sie einverstanden sind, können wir das Geschäftliche während der Vorbereitungen für unsere kleine Mahlzeit regeln. Wir brauchen uns dann später nicht mehr damit zu belasten.“
Hasard und Dan wechselten einen Blick und nickten dann. Sie folgten dem Georgier in dessen Privatkontor, einen holzgetäfelten Raum mit wuchtigen Aktenschränken, einem Schreibtisch und Sesseln, die mit Rinder- oder Büffelhaut bespannt waren.
Tasuta katkend on lõppenud.