Palliativgesellschaft

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Palliativgesellschaft
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Palliativgesellschaft

Schmerz heute


Inhalt

Algophobie

Zwang zum Glück

Überleben

Sinnlosigkeit des Schmerzes

List des Schmerzes

Schmerz als Wahrheit

Poetik des Schmerzes

Dialektik des Schmerzes

Ontologie des Schmerzes

Ethik des Schmerzes

Der letzte Mensch

Anmerkungen

Der Schmerz allein unter allen Körpergefühlen ist für den Menschen gleichsam ein schiffbarer Strom mit nie versiegendem Wasser, der ihn ins Meer führt. Die Lust erweist sich überall da, wo der Mensch ihr Folge zu geben trachtet, als eine Sackgasse.

Walter Benjamin

Algophobie

Nenne mir dein Verhältnis zum Schmerz, und ich will Dir sagen, wer Du bist!1 Dieser Spruch von Ernst Jünger lässt sich auf die Gesellschaft als ganze übertragen. Unser Verhältnis zum Schmerz verrät, in welcher Gesellschaft wir leben. Schmerzen sind Chiffren. Sie enthalten den Schlüssel zum Verständnis der jeweiligen Gesellschaft. So hat jede Gesellschaftskritik eine Hermeneutik des Schmerzes zu leisten. Werden Schmerzen allein der Medizin überlassen, verfehlen wir ihren Zeichencharakter.

Heute herrscht überall eine Algophobie, eine generalisierte Angst vor Schmerzen. Auch die Schmerztoleranz sinkt rapide. Die Algophobie hat eine Daueranästhesierung zur Folge. Jeder schmerzhafte Zustand wird vermieden. Verdächtig sind inzwischen auch Liebesschmerzen. Die Algophobie verlängert sich ins Gesellschaftliche. Konflikten und Kontroversen, die zu schmerzhaften Auseinandersetzungen führen könnten, wird immer weniger Raum gegeben. Die Algophobie erfasst auch die Politik. Konformitätszwang und Konsensdruck nehmen zu. Die Politik richtet sich in einer Palliativzone ein und verliert jede Vitalität. Die »Alternativlosigkeit« ist ein politisches Analgetikum. Die diffuse »Mitte« wirkt palliativ. Anstatt zu streiten und um bessere Argumente zu kämpfen, ergibt man sich dem Systemzwang. Eine Postdemokratie macht sich breit. Sie ist eine palliative Demokratie. Daher fordert Chantal Mouffe eine »agonistische Politik«, die schmerzhafte Auseinandersetzungen nicht scheut.2 Zu Visionen oder einschneidenden Reformen, die schmerzen könnten, ist die palliative Politik nicht fähig. Lieber greift sie zu kurzwirkenden Analgetika, die systemische Dysfunktionen und Verwerfungen nur verschleiern. Die palliative Politik hat keinen Mut zum Schmerz. So setzt sich das Gleiche fort.

Der heutigen Algophobie liegt ein Paradigmenwechsel zugrunde. Wir leben in einer Gesellschaft der Positivität, die sich jeder Form von Negativität zu entledigen sucht. Der Schmerz ist die Negativität schlechthin. Auch die Psychologie folgt diesem Paradigmenwechsel und geht von der negativen Psychologie als »Psychologie des Leidens« zur »Positiven Psychologie« über, die sich mit Wohlbefinden, Glück und Optimismus beschäftigt.3 Negative Gedanken sind zu vermeiden. Sie sind unverzüglich durch positive Gedanken zu ersetzen. Die Positive Psychologie unterwirft selbst den Schmerz einer Leistungslogik. Die neoliberale Ideologie der Resilienz macht aus traumatischen Erfahrungen Katalysatoren für Leistungssteigerung. Es ist sogar vom posttraumatischen Wachstum die Rede.4 Das Resilienztraining als seelische Kraftübung hat aus dem Menschen ein möglichst schmerzunempfindliches, permanent glückliches Leistungssubjekt zu formen.

Die Glücksmission der Positiven Psychologie und das Versprechen einer medikamentös herstellbaren Dauerwohlfühloase sind einander verschwistert. Die US-amerikanische Opioid-Krise hat paradigmatischen Charakter. An ihr ist nicht nur die materielle Gier einer Pharmafirma beteiligt. Ihr liegt vielmehr eine verhängnisvolle Annahme zur menschlichen Existenz zugrunde. Allein eine Dauerwohlfühl-Ideologie kann dazu führen, dass Medikamente, die ursprünglich in der Palliativmedizin eingesetzt wurden, im großen Stil auch an Gesunde verabreicht werden. Nicht zufällig bemerkte der US-amerikanische Schmerzexperte David B. Morris schon vor Jahrzehnten: »Die heutigen Amerikaner gehören wahrscheinlich zur ersten Generation der Erde, die ein schmerzfreies Dasein als eine Art Verfassungsrecht ansieht. Schmerzen sind ein Skandal.«5

Die Palliativgesellschaft fällt mit der Leistungsgesellschaft zusammen. Der Schmerz wird als ein Zeichen der Schwäche gedeutet. Er ist etwas, das es zu verbergen oder wegzuoptimieren gilt. Er verträgt sich nicht mit der Leistung. Die Passivität des Leidens hat keinen Platz in der vom Können beherrschten Aktivgesellschaft. Der Schmerz wird heute jeder Möglichkeit des Ausdrucks beraubt. Er ist dazu verurteilt zu verstummen. Die Palliativgesellschaft lässt nicht zu, den Schmerz zu einer Passion zu beleben, zu versprachlichen.

Die Palliativgesellschaft ist ferner eine Gesellschaft des Gefällt-mir. Sie verfällt einem Gefälligkeitswahn. Alles wird geglättet, bis es Wohlgefallen auslöst. Like ist das Signum, ja das Analgetikum der Gegenwart. Es beherrscht nicht nur die Sozialen Medien, sondern alle Bereiche der Kultur. Nichts soll wehtun. Nicht nur die Kunst, sondern das Leben selbst hat instagrammable zu sein, das heißt frei von Ecken und Kanten, von Konflikten und Widersprüchen, die schmerzen könnten. Vergessen wird, dass der Schmerz reinigt. Von ihm geht eine kathartische Wirkung aus. Der Kultur der Gefälligkeit fehlt die Möglichkeit der Katharsis. So erstickt man in den Schlacken der Positivität, die sich unter der Oberfläche der Gefälligkeitskultur ansammeln.

In einem Kommentar zu Auktionen moderner und zeitgenössischer Kunst heißt es: »Ob Monet oder Koons, ob Modiglianis beliebte Liegeakte, ob Picassos Frauengestalten oder Rothkos sublime Farbfelder, selbst überrestaurierte Pseudo-Leonardos-Trophäen auf dem obersten Preisniveau müssen offenbar auf den ersten Blick einem (männlichen) Künstler zuzuordnen und gefällig bis zur Banalität sein. Langsam schließt zumindest auch eine Künstlerin in diesen Kreis auf: Louise Bourgeois setzte einen neuen Rekord für eine gigantische Skulptur. 32 Millionen für Spider aus den Neunzigerjahren. Aber selbst Riesenspinnen sind eben weniger bedrohlich als ungeheuer dekorativ.«6 Bei Ai Weiwei wird selbst die Moral so verpackt, dass sie zum Like animiert. Moral und Gefälligkeit treffen sich in einer gelungenen Symbiose. Die Dissidenz verkommt zum Design. Jeff Koons hingegen inszeniert eine moralfreie, ostentativ dekorative Kunst des Gefällt-mir. Die einzig sinnvolle Reaktion gegenüber seiner Kunst ist, wie er selbst hervorhebt, »Wow«.7

Die Kunst wird heute mit aller Gewalt ins Korsett des Gefällt-mir eingezwängt. Diese Anästhesierung der Kunst macht auch nicht Halt vor den alten Meistern. So werden sie sogar mit dem Modedesign kurzgeschlossen: »Begleitet wurde die Schau ausgesuchter Porträts von einem Video, das demonstrierte, wie gut sich zeitgenössische Designer-Kleider und historische Gemälde etwa von Lucas Cranach dem Älteren oder Peter Paul Rubens farblich aufeinander abstimmen lassen. Und natürlich fehlte nicht der Hinweis, dass es sich bei historischen Porträts um eine Vorform der heutigen Selfies handele.«8

Die Kultur der Gefälligkeit hat vielfältige Ursachen. Sie geht zunächst auf die Ökonomisierung und Kommodifizierung der Kultur zurück. Die Kulturprodukte geraten immer stärker unter den Zwang des Konsums. Sie müssen eine Form annehmen, die sie konsumierbar, das heißt gefällig macht. Diese Ökonomisierung der Kultur geht mit der Kulturalisierung der Ökonomie einher. Konsumgüter werden mit kulturellem Mehrwert versehen. Sie versprechen kulturelle, ästhetische Erlebnisse. So wird das Design wichtiger als der Gebrauchswert. Die Konsumsphäre dringt in die Kunstsphäre. Konsumgüter präsentieren sich als Kunstwerke. Dadurch vermischen sich Kunst- und Konsumsphäre, was zur Folge hat, dass nun die Kunst sich ihrerseits der Konsumästhetik bedient. Sie wird gefällig. Ökonomisierung der Kultur und Kulturalisierung der Ökonomie verstärken einander. Eingerissen wird die Trennung zwischen Kultur und Kommerz, zwischen Kunst und Konsum, zwischen Kunst und Werbung. Künstler geraten selbst unter den Zwang, sich als Marken zu etablieren. Sie werden marktkonform und gefällig. Die Kulturalisierung der Ökonomie betrifft auch die Produktion. Die postindustrielle, immaterielle Produktion macht sich die Formen künstlerischer Praxis zu eigen. Sie hat kreativ zu sein. Die Kreativität als ökonomische Strategie lässt aber nur Variationen des Gleichen zu. Sie hat keinen Zugang zum ganz Anderen. Ihr fehlt die Negativität des Bruches, die schmerzt. Schmerz und Kommerz schließen einander aus.

 

Als die Kunstsphäre, scharf getrennt von der Konsumsphäre, ihrer eigenen Logik folgte, erwartete man von ihr keine Gefälligkeit. Künstler hielten sich vom Kommerz fern. Adornos Diktum, die Kunst sei »Fremdheit zur Welt«9, hatte noch seine Gültigkeit. Die Wohlfühlkunst ist demnach ein Widerspruch. Die Kunst muss befremden, stören, verstören, ja auch schmerzen können. Sie hält sich anderswo auf. Sie ist zu Hause im Fremden. Gerade die Fremdheit macht die Aura des Kunstwerkes aus. Der Schmerz ist der Riss, durch den das ganz Andere Einzug hält. Gerade die Negativität des ganz Anderen befähigt die Kunst zu einem Gegennarrativ zur herrschenden Ordnung. Die Gefälligkeit hingegen setzt das Gleiche fort.

Die Gänsehaut ist, so Adorno, das »erste ästhetische Bild«.10 Sie bringt den Einbruch des Anderen zum Ausdruck. Das Bewusstsein, das nicht zu erschauern vermag, ist ein verdinglichtes. Es ist unfähig zur Erfahrung, denn diese ist »in ihrem Wesen der Schmerz, in dem das wesenhafte Anderssein des Seienden gegenüber dem Gewohnten sich enthüllt«.11 Auch das Leben, das jeden Schmerz ablehnt, ist ein verdinglichtes. Allein das »vom Anderen Angerührtsein«12 erhält das Leben lebendig. Sonst bleibt es in der Hölle des Gleichen gefangen.

Zwang zum Glück

Der Schmerz ist ein komplexes, kulturelles Gebilde. Seine Präsenz und Bedeutung in der Gesellschaft hängen auch von Herrschaftsformen ab. Die vormoderne Gesellschaft der Marter hat eine sehr innige Beziehung zum Schmerz. Ihre Machträume sind geradezu von Schmerzensschreien erfüllt. Der Schmerz dient als Herrschaftsmittel. Das düstere Fest, das grausame Ritual der Marter, die prunkvollen Inszenierungen des Schmerzes stabilisieren die Herrschaft. Gemarterte Körper sind Insignien der Macht.

Im Übergang von der Gesellschaft der Marter zur Disziplinargesellschaft verändert sich auch das Verhältnis zum Schmerz. In Überwachen und Strafen weist Foucault darauf hin, dass die Disziplinargesellschaft den Schmerz in einer diskreteren Form einsetzt. Er wird einem disziplinarischen Kalkül unterworfen: »Nicht mehr so unmittelbar physische Bestrafungen, eine gewisse Diskretion in der Kunst des Zufügens von Leid, ein Spiel von subtileren, geräuschloseren und prunkloseren Schmerzen […]: binnen weniger Jahrzehnte ist der gemarterte, zerstückelte, verstümmelte, an Gesicht oder Schulter gebrandmarkte, lebendig oder tot ausgestellte, zum Spektakel dargebotene Körper verschwunden. Verschwunden ist der Körper als Hauptzielscheibe der strafenden Repression.«13 Gemarterte Körper passen nicht mehr in die Disziplinargesellschaft, die auf industrielle Produktion ausgerichtet ist. Die Disziplinarmacht fabriziert gelehrige Körper als Produktionsmittel. Auch der Schmerz wird in die Disziplinartechnik integriert. Die Herrschaft unterhält weiterhin eine Beziehung zum Schmerz. Gebote und Verbote werden mittels Schmerz dem Gehorsamssubjekt eingeprägt, ja in dessen Körper verankert. In der Disziplinargesellschaft spielt der Schmerz noch eine konstruktive Rolle. Er formt den Menschen als Produktionsmittel. Er wird aber nicht mehr öffentlich zur Schau gestellt, sondern in geschlossene Disziplinarräume wie Gefängnisse, Kasernen, Anstalten, Fabriken oder Schulen verschoben.

Die Disziplinargesellschaft hat grundsätzlich ein affirmatives Verhältnis zum Schmerz. Als »Disziplin« bezeichnet Jünger jene »Form, durch die der Mensch die Berührung mit dem Schmerze aufrechterhält«.14 Gerade Jüngers »Arbeiter« ist eine Figur der Disziplin. Er härtet sich am Schmerz ab. Das heroische Leben, das »ununterbrochen mit ihm [dem Schmerz] in Fühlung zu bleiben strebt«, ist auf »Stählung« gerichtet.15 Das »disziplinierte Gesicht« ist »geschlossen«. Es besitzt »einen festen Blickpunkt«, während das »feine Gesicht« eines empfindsamen Individuums »nervös, beweglich, veränderlich« und »den verschiedenartigsten Einflüssen und Anregungen« unterworfen ist.16

Ins heroische Weltbild gehört notwendig der Schmerz. In einem mit Der Gegenschmerz betitelten futuristischen Manifest von Aldo Palazzeschi heißt es: »Je größer die Menge an Lachen ist, die ein Mensch im Schmerz zu entdecken vermag, um so tiefgründiger ist dieser Mensch. Man kann nicht aus innerstem Herzen lachen, wenn man nicht vorher tief im menschlichen Schmerz gegraben hat.«17 Der heroischen Weltanschauung zufolge ist das Leben so einzurichten, dass es jederzeit für die Begegnung mit dem Schmerz »gerüstet« ist. Der Körper als Ort des Schmerzes wird einer höheren Ordnung unterworfen: »Dieses Verfahren setzt freilich eine Kommandohöhe voraus, von der aus der Leib als ein Vorposten betrachtet wird, den der Mensch aus großer Entfernung im Kampf einzusetzen und aufzuopfern vermag.«18

Jünger setzt die heroische Disziplin der Empfindsamkeit des bürgerlichen Subjekts entgegen, dessen Körper kein Vorposten, kein Mittel zum höheren Zweck ist. Sein empfindsamer Körper ist vielmehr ein Selbstzweck. Er verliert jenen Bedeutungshorizont, der den Schmerz als sinnvoll erscheinen ließe: »Das Geheimnis der modernen Empfindsamkeit beruht nun darin, daß sie einer Welt entspricht, in der der Leib mit dem Werte selbst identisch ist. Aus dieser Feststellung erklärt sich das Verhältnis dieser Welt zum Schmerz als zu einer vor allem zu vermeidenden Macht, denn hier trifft der Schmerz den Leib nicht etwa als einen Vorposten, sondern er trifft ihn als die Hauptmacht und als den wesentlichen Kern des Lebens selbst.«19

Im postindustriellen, postheroischen Zeitalter ist der Körper weder Vorposten noch Produktionsmittel. Der hedonistische Körper, der ohne jeden Bezug zum höheren Zweck sich selbst gefällt und sich selbst genießt, entwickelt im Gegensatz zum disziplinierten Körper eine ablehnende Haltung gegenüber dem Schmerz. Ihm erscheint der Schmerz ganz sinn- und nutzlos.

Das Leistungssubjekt von heute unterscheidet sich grundsätzlich vom Disziplinarsubjekt. Es ist auch kein »Arbeiter« im Jüngerschen Sinne. In der neoliberalen Leistungsgesellschaft weichen Negativitäten wie Gebote, Verbote oder Bestrafungen Positivitäten wie Motivation, Selbstoptimierung oder Selbstverwirklichung. Disziplinarräume werden durch Wohlfühlzonen ersetzt. Der Schmerz verliert jeden Bezug zur Macht und Herrschaft. Er wird zu einer medizinischen Angelegenheit entpolitisiert.

Sei glücklich heißt die neue Herrschaftsformel. Die Positivität des Glücks verdrängt die Negativität des Schmerzes. Als positives emotionales Kapital hat das Glück für eine ungebrochene Leistungsfähigkeit zu sorgen. Selbstmotivation und Selbstoptimierung machen das neoliberale Glücksdispositiv sehr effizient, denn die Herrschaft kommt ohne jeden großen Aufwand aus. Der Unterworfene ist sich nicht einmal seiner Unterworfenheit bewusst. Er wähnt sich in Freiheit. Ohne jeden Fremdzwang beutet er sich freiwillig in dem Glauben aus, dass er sich verwirkliche. Die Freiheit wird nicht unterdrückt, sondern ausgebeutet. Sei frei erzeugt einen Zwang, der verheerender ist als Sei gehorsam.

Im neoliberalen Regime nimmt auch die Macht eine positive Form an. Sie wird smart. Im Gegensatz zur repressiven Disziplinarmacht schmerzt die smarte Macht nicht. Die Macht wird gänzlich vom Schmerz abgekoppelt. Sie kommt ohne jede Repression aus. Unterwerfung vollzieht sich als Selbstoptimierung und Selbstverwirklichung. Die smarte Macht operiert seduktiv und permissiv. Da sie sich als Freiheit gibt, ist sie unsichtbarer als die repressive Disziplinarmacht. Auch die Überwachung nimmt eine smarte Form an. Wir werden permanent dazu aufgefordert, unsere Bedürfnisse, Wünsche und Vorlieben mitzuteilen und unser Leben zu erzählen. Totalkommunikation und Totalüberwachung, pornografische Entblößung und panoptische Überwachung fallen in eins. Freiheit und Überwachung werden ununterscheidbar.

Das neoliberale Glücksdispositiv lenkt uns vom bestehenden Herrschaftszusammenhang ab, indem es uns zur seelischen Introspektion zwingt. Es sorgt dafür, dass jeder sich nur noch mit sich selbst, mit seiner eigenen Psyche beschäftigt, statt die gesellschaftlichen Verhältnisse kritisch zu hinterfragen. Das Leiden, für das die Gesellschaft verantwortlich wäre, wird privatisiert und psychologisiert. Zu verbessern sind nicht gesellschaftliche, sondern seelische Zustände. Die Forderung nach Optimierung der Seele, die in Wirklichkeit eine Anpassung an Herrschaftsverhältnisse erzwingt, verschleiert gesellschaftliche Missstände. So besiegelt die positive Psychologie das Ende der Revolution. Nicht Revolutionäre, sondern Motivationstrainer betreten die Bühne und sorgen dafür, dass kein Unmut, ja keine Wut aufkommt: »Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise in den 1920er Jahren mit ihren extremen gesellschaftlichen Gegensätzen gab es viele Arbeitervertreter und radikale Aktivisten, die die Exzesse der Reichen und das Elend der Armen anprangerten. Im 21. Jahrhundert hingegen verbreitete eine ganz andere und zahlreichere Brut von Ideologen das Gegenteil − dass in unserer zutiefst ungleichen Gesellschaft alles gut wäre und es für jeden, der sich darum bemühte, noch viel, viel besser würde. Motivatoren und andere Vertreter des positiven Denkens hatten für die Menschen, die aufgrund des sich ständig umwälzenden Arbeitsmarkts vor dem wirtschaftlichen Ruin standen, eine gute Botschaft: Heißt jede auch noch so beängstigende ›Veränderung‹ willkommen und seht sie als Chance.«20

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