Loe raamatut: «Die böse Macht»
Die Perelandra-Trilogie
Dritter Band
Die böse Macht
C. S. Lewis
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
eISBN 9783865064301
© 2005 für diese Ausgabe by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Vollständige, ungekürzte Ausgabe. Übersetzung von Walter Brumm
Neubearbeitung von Nicola Volland
© der deutschen Übersetzung: Thienemann Verlag, 1990
THAT HIDEOUS STRENGTH previously published in paperback
by Voyager 2000. First published in Great Britain by John Lane
(The Bodley Head) Ltd 1945
Copyright © C. S. Lewis Pte Ltd 1945
Einbandgestaltung: BrendowCreativ, Moers
Titelmotiv: GettyImages, München
Inhalt
Cover
Titelseite
Impressum
Vorwort
1 Verkauf von Universitätsgelände
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2 Abendessen beim Vizerektor
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3 Belbury und St. Anne’s on the Hill
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4 Die Beseitigung von Anachronismen
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5 Flexibilität
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6 Nebel
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7 Der Pendragon
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8 Mondschein über Belbury
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9 Der Kopf des Sarazenen
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10 Die eroberte Stadt
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11 Der Kampf beginnt
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12 Nacht in Wind und Regen
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13 Sie haben den Zorn der Himmelstiefen
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14 Das wahre Leben ist Begegnung
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15 Die Herabkunft der Götter
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16 Bankett in Belbury
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17 Venus in St. Anne’s
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Vorwort
Ich habe dieses Buch ein Märchen genannt, damit nicht diejenigen, die keine fantastische Literatur mögen, von den ersten beiden Kapiteln zum Weiterlesen verführt werden und sich dann hinterher enttäuscht beklagen. Wenn Sie fragen, warum ich – wenn ich über Zauberer, Teufel, pantomimische Tiere und planetarische Engel schreiben will – dennoch mit ganz alltäglichen Szenen und Personen beginne, dann antworte ich, dass ich damit nur der Form des herkömmlichen Märchens folge. Wir erkennen diese Form nicht immer sogleich, weil die Hütten und Schlösser, die Holzfäller und Könige uns heute ebenso fern liegen wie die Hexen und Ungeheuer, mit denen das Märchen dann fortfährt. Doch den Menschen, die die Geschichten ersonnen und sich als Erste daran erfreut haben, waren diese Dinge ganz und gar nicht fremd. Sie waren für diese Leute sogar wirklicher und alltäglicher, als Bracton College für mich ist: denn viele deutsche Bauern hatten selbst grausame Stiefmütter, während ich an keiner Universität ein College wie Bracton angetroffen habe. Dies ist eine unglaubliche Geschichte über Teufelswerk, doch dahinter steht eine ernste Absicht, die ich in meinem Buch Die Abschaffung des Menschen darzustellen versucht habe. In der Geschichte sollte gezeigt werden, wie der äußere Rand dieses Teufelswerks das Leben eines gewöhnlichen und geachteten Berufsstandes berührt. Meinen eigenen Beruf habe ich selbstverständlich nicht deshalb gewählt, weil ich etwa dächte, Universitätslehrer erlägen einem solch verderblichen Einfluss eher als andere, sondern weil mein eigener Beruf der einzige ist, den ich gut genug kenne, um darüber schreiben zu können. Ich habe mir eine sehr kleine Universität ausgedacht, weil das für einen Roman bestimmte Vorteile bietet. Edgestow hat, abgesehen von der Größe, keinerlei Ähnlichkeit mit Durham, einer Universität, mit der ich nur Angenehmes verbinde.
Einen der zentralen Gedanken dieser Erzählung verdanke ich Gesprächen, geführt mit einem wissenschaftlichen Kollegen, einige Zeit bevor ich in Olaf Stapledons Werken auf eine ähnliche Anregung stieß. Sollte ich in diesem Punkte irren, so ist Herr Stapledon doch so reich an Einfällen, dass er ohne weiteres einen davon ausleihen kann; und ich bewundere seinen Einfallsreichtum (wenn auch nicht seine Philosophie) so sehr, dass ich mich einer Anleihe keineswegs schäme.
Wer gerne mehr über Numinor und den Wahren Westen erfahren möchte, muss (leider!) die Veröffentlichung dessen abwarten, was bislang nur in den Manuskripten meines Freundes J. R. R. Tolkien existiert.
Der vorliegende Roman spielt irgendwann in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Er beschließt die Trilogie, deren erster Band Jenseits des schweigenden Sterns und deren zweiter Band Perelandra war, kann aber auch für sich gelesen werden.
Magdalen College, Oxford
C. S. Lewis
Weihnachtsabend 1943
1 Verkauf von Universitätsgelände
»Und drittens wurde die Ehe eingesetzt«, murmelte Jane Studock vor sich hin, »damit jeder des anderen Gesellschaft, Stütze und Trost sei.« Seit ihrer Schulzeit war sie nicht mehr in der Kirche gewesen, bis sie vor einem halben Jahr dort die Ehe geschlossen hatte, und die Worte des Gottesdienstes hafteten ihr noch immer im Gedächtnis.
Durch die offene Tür konnte sie die winzige Küche der Wohnung sehen und das laute, unangenehme Ticken der Uhr hören. Sie war gerade aus der Küche gekommen und wusste, wie ordentlich es dort war. Das Frühstücksgeschirr war gespült, die Tücher hingen über dem Herd, und der Boden war aufgewischt. Die Betten waren gemacht und die Zimmer aufgeräumt. Den einzigen Einkauf, der an diesem Tag nötig war, hatte sie getätigt, und es war erst eine Minute vor elf. Sie musste sich nur noch selbst ein Mittagessen und den Tee bereiten, ansonsten hatte sie bis sechs Uhr nichts mehr zu tun, selbst wenn sie davon ausging, dass Mark zum Abendessen nach Hause käme. Aber heute war im College eine Sitzung anberaumt. Sehr wahrscheinlich würde Mark zur Teestunde anrufen und sagen, dass die Sitzung länger als erwartet dauere und er im College werde essen müssen. Die Stunden, die vor ihr lagen, waren leer wie die Wohnung. Die Sonne schien, und die Uhr tickte.
»Gesellschaft, Stütze und Trost«, sagte Jane bitter. In Wahrheit hatte die Ehe sich als eine Tür erwiesen, die aus einer Welt voller Arbeit und Kameradschaft, Frohsinn und Geschäftigkeit in eine Art Einzelhaft geführt hatte. In den Jahren vor ihrer Heirat hatte sie nie so wenig von Mark gesehen wie in den vergangenen sechs Monaten. Selbst wenn er zu Hause war, sprach er fast nie. Immer war er entweder müde oder in Gedanken. Solange sie Freunde gewesen waren, und auch später als Liebespaar, hatten sie geglaubt, das Leben sei zu kurz für all das, was sie einander zu sagen hatten. Aber nun … Warum hatte er sie überhaupt geheiratet? Liebte er sie noch? Dann musste Liebe für Männer etwas ganz anderes sein als für
Frauen. War es die bittere Wahrheit, dass all die endlosen Gespräche, die ihr selbst vor der Ehe als das eigentliche Medium der Liebe erschienen waren, für ihn nicht mehr als ein Vorspiel gewesen waren?
»Schon wieder bin ich drauf und dran, einen Tag zu vertrödeln«, tadelte sie sich. »Ich muss etwas arbeiten.« Damit meinte sie ihre Doktorarbeit über den Dichter John Donne. Sie hatte vorgehabt, auch als verheiratete Frau ihre wissenschaftliche Karriere fortzusetzen; dies war einer der Gründe, warum sie, wenigstens auf absehbare Zeit, keine Kinder haben wollten. Jane war keine sehr originelle Denkerin; sie hatte vorgehabt, besonderes Gewicht auf Donnes ›triumphale Aufwertung des Körpers‹ zu legen. Sie glaubte noch immer, ihre einstige Begeisterung für diesen Gegenstand werde wieder erwachen, wenn sie erst alle ihre Aufzeichnungen und Bücher hervorgeholt und sich ernsthaft an die Arbeit gemacht hätte. Doch zunächst einmal, vielleicht um den Arbeitsbeginn ein wenig hinauszuschieben, drehte sie eine Zeitung um, die auf dem Tisch lag, und überflog die letzte Seite.
In dem Augenblick, in dem sie das Bild sah, fiel ihr der Traum ein. Sie erinnerte sich nicht nur an den Traum, sondern auch daran, wie sie aus dem Bett gekrochen war und eine endlos lange Zeit im Sitzen auf die ersten Anzeichen des Morgens gewartet hatte; aus Angst, Mark könnte wach werden und sich unnötig aufregen, hatte sie kein Licht gemacht; dennoch kränkte sie das Geräusch seines gleichmäßigen Atems. Er hatte einen ausgezeichneten Schlaf. Nur eins schien im Stande, ihn wach zu halten, nachdem er zu Bett gegangen war, und auch das nicht lange.
Der Schrecken dieses Traums wird sich wie die Schrecken der meisten Träume mit dem Erzählen verflüchtigen, aber um der folgenden Ereignisse willen muss er festgehalten werden.
Zu Anfang hatte sie nur ein Gesicht gesehen. Es war ein fremdländisches Gesicht, bärtig und eher gelb, mit einer Hakennase. Seine Miene machte Angst, weil sie selbst Angst ausdrückte. Der Unterkiefer hing herab, und die Augen stierten wie die Augen eines Menschen, der im Augenblick unter dem Eindruck eines jähen Schockes steht. Nur schien dieses Gesicht einem stundenlangen Schock ausgesetzt. Dann sah
sie allmählich mehr. Das Gesicht gehörte einem Mann, der zusammengekauert in der Ecke eines kleinen viereckigen Raumes mit weiß getünchten Wänden hockte und offenbar darauf wartete, dass diejenigen, in deren Gewalt er sich befand, hereinkommen und ihm irgendetwas Schreckliches antun würden. Schließlich wurde die Tür geöffnet, und ein recht gut aussehender Mann mit grauem Spitzbart kam herein. Der Gefangene schien in ihm einen alten Bekannten wieder zu erkennen, und sie setzten sich zusammen und begannen zu sprechen. In allen Träumen, die Jane bisher geträumt hatte, verstand man entweder, was die Traumgestalten sagten, oder man hörte es nicht. Aber in diesem Traum – und das machte ihn außerordentlich realistisch – wurde das Gespräch auf Französisch geführt, und Jane verstand einzelne Brocken, keineswegs alles, genau wie es im wirklichen Leben gewesen wäre. Der Besucher erzählte dem Gefangenen etwas, das dieser anscheinend als gute Nachricht betrachten sollte. Und der Gefangene blickte zuerst auch mit einem Hoffnungsschimmer in den Augen auf und sagte: »Tiens … ah … ça marche«, aber dann wurde er unsicher und schien seine Meinung zu ändern. Der Besucher redete weiter mit leiser, gleichmäßiger Stimme auf ihn ein. Er war ein gut aussehender Mann von einer eher kühlen Art, er trug einen Kneifer, in dessen Gläsern sich das Licht spiegelte und seine Augen verbarg. Dies und die beinahe unnatürliche Vollkommenheit seiner Zähne mach-ten auf Jane einen irgendwie unangenehmen Eindruck. Dieser wurde noch verstärkt von der wachsenden Unruhe und schließlich dem Entsetzen des Gefangenen. Jane konnte nicht verstehen, was der Besucher dem Mann vorschlug, aber sie hörte heraus, dass der Gefangene zum Tode verurteilt worden war. Was immer der Besucher ihm anbot, es schien den anderen mehr zu ängstigen als der Gedanke an die Hinrichtung. An diesem Punkt verlor der Traum allen Anschein von Wirklichkeitsnähe und wurde zu einem gewöhnlichen Albtraum. Der Besucher rückte seinen Kneifer zurecht, lächelte weiter sein kühles Lächeln und fasste den Kopf des Gefangenen mit beiden Händen. Er drehte ihn mit einem scharfen Ruck herum und schraubte ihn ab – wie einen Taucherhelm. Der Besucher nahm den Kopf des Gefangenen mit, und dann ging alles durcheinander. Der Kopf stand zwar noch immer im Mittelpunkt des Traums, aber jetzt war es ein ganz anderer Kopf – ein Kopf mit einem wallenden weißen Bart, der über und über mit Erde bedeckt war. Er gehörte einem alten Mann, den irgendwelche Leute in einer Art Friedhof ausgruben – einem alten Briten, einer Art Druiden in einem langen Umhang. Jane dachte sich anfangs nicht viel dabei, weil sie glaubte, es sei ein Leichnam. Doch plötzlich merkte sie, dass dieses alte Ding zum Leben erwachte. »Passt auf!«, rief sie in ihrem Traum. »Er lebt. Halt! Halt! Ihr weckt ihn.« Aber die Leute kümmerten sich nicht um sie. Der ausgegrabene alte Mann richtete sich auf und begann, in einer Sprache zu reden, die ein wenig wie Spanisch klang. Und dies erschreckte Jane aus irgendeinem Grund so sehr, dass sie erwachte.
Das war der Traum, nicht schlimmer, aber auch nicht besser als viele andere Albträume. Doch es war nicht die bloße Erinnerung daran, die das Wohnzimmer vor ihren Augen verschwimmen ließ, sodass sie sich rasch setzen musste, um nicht hinzufallen. Die Anwandlung hatte einen anderen Grund. Dort, auf der Rückseite der Zeitung, war der Kopf, den sie im Albtraum gesehen hatte: der erste Kopf (wenn es überhaupt zwei gewesen waren) – der Kopf des Gefangenen. Mit äußerstem Widerwillen nahm sie die Zeitung vom Tisch. »Alcasans Hinrichtung«, lautete die Überschrift, und darunter hieß es: »Wissenschaftlicher Blaubart kommt unter die Guillotine«. Sie erinnerte sich undeutlich, den Fall verfolgt zu haben. Alcasan war ein bekannter Radiologe in einem Nachbarland – arabischer Abstammung, wie es hieß –, der seine Frau vergiftet und damit seine glänzende Karriere zerstört hatte. Daher also kam ihr Traum. Sie musste sich dieses Zeitungsfoto – der Mann hatte wirklich ein sehr unangenehmes Gesicht – angesehen haben, bevor sie zu Bett gegangen war. Aber nein, das konnte nicht sein. Die Zeitung war von diesem Morgen. Nun, dann hatte sie wohl vorher schon einmal ein Bild gesehen und es wieder vergessen – wahrscheinlich vor Wochen, als der Prozess begonnen hatte. Es war albern, sich so darüber aufzuregen. Und jetzt zu Donne. Mal sehen, wo waren wir stehen geblieben? An der zweifelhaften Stelle am Schluss der Alchimie der Liebe:
Nicht auf Verstand bei Frauen hoffe;
an Süßigkeit und Witz im besten Falle reich,
sind sie doch nur beseeltem Wachse gleich.
»Nicht auf Verstand bei Frauen hoffe.« Gab es Männer, die wirklich Frauen mit Verstand wollten? Aber darum ging es nicht. »Ich muss wieder lernen, mich zu konzentrieren«, sagte Jane zu sich selbst, und dann: »Habe ich wirklich schon früher ein Bild von diesem Alcasan gesehen? Angenommen …«
Fünf Minuten später schob sie ihre Bücher beiseite, ging zum Spiegel, setzte ihren Hut auf und verließ das Haus. Sie wusste nicht genau, wohin sie wollte. Irgendwohin, nur fort aus diesem Zimmer, dieser Wohnung, diesem ganzen Haus.
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Mark ging unterdessen zum Bracton College hinunter und dachte an ganz andere Dinge. Er bemerkte nichts von der morgendlichen Schönheit der kleinen Straße, die ihn von dem höher gelegenen Vorort, in dem er und Jane wohnten, zur Stadtmitte und zum Universitätsviertel von Edgestow hinabführte.
Obwohl ich in Oxford studiert habe und Cambridge sehr schätze, finde ich Edgestow schöner als beide. Zum einen, weil es so klein ist; kein Hersteller von Autos oder Würstchen oder Marmeladen hat die ländliche Umgebung der kleinen Stadt bisher industrialisiert. Und auch die Universität selbst ist winzig. Außer Bracton und dem auf der anderen Seite der Eisenbahnlinie gelegenen Frauencollege aus dem neunzehnten Jahrhundert gibt es nur zwei Colleges: Northumberland, das flussabwärts von Bracton am Ufer des Wynd steht, und Duke’s gegenüber dem Kloster. Bracton nimmt keine Studienanfänger auf. Es wurde um dreizehnhundert gegründet, um den Lebensunterhalt zehn gelehrter Männer zu sichern, deren Pflichten darin bestanden, für Henry de Bractons Seele zu beten und die Gesetze Englands zu studieren. Die Zahl der Dozenten ist allmählich auf vierzig angestiegen, von denen nur sechs Juristen sind und von denen vermutlich keiner mehr für Bractons Seele betet. Mark Studdock war Soziologe und vor fünf Jahren auf einen Lehrstuhl dieses Fachs berufen worden. Er begann, allmählich Fuß zu fassen. Wenn er daran gezweifelt hätte (was er nicht tat), so wäre er beruhigt gewesen, als er vor der Post mit Curry zusammentraf und sah, wie selbstverständlich Curry mit ihm zusammen zum College ging und über die Tagesordnung der bevorstehenden Sitzung diskutierte. Curry war der Vizerektor von Bracton.
»Ja«, sagte Curry. »Es wird verteufelt lange dauern; wahrscheinlich nach dem Abendessen noch weitergehen. Die Obstruktionisten werden nach Kräften Zeit vergeuden. Aber das ist zum Glück alles, was sie können.«
Dem Ton von Studdocks Antwort war nicht zu entnehmen, wie ungemein wohltuend er Currys Gebrauch des Pronomens ›wir‹ empfunden hatte. Noch bis vor kurzem war er ein Außenseiter gewesen, der die Aktivitäten von ›Curry und seiner Clique‹ mit ehrfürchtiger Scheu und ein wenig verständnislos beobachtet und bei Sitzungen kurze, nervöse Ansprachen gehalten hatte, die den Gang der Ereignisse niemals beeinflussten. Jetzt gehörte er dazu, und aus ›Curry und seiner Clique‹ waren ›wir‹ oder ›das Fortschrittliche Element‹ am College geworden. Das war alles ziemlich plötzlich gekommen und schmeckte immer noch süß.
»Sie glauben also, es wird durchgehen?«, sagte Studdock.
»Ganz sicher«, antwortete Curry. »Wir haben den Rektor, den Schatzmeister und alle Chemiker und Biochemiker auf unserer Seite. Pelham und Ted habe ich bearbeitet, von ihnen ist nichts zu befürchten. Außerdem habe ich Sancho eingeredet, er wisse, worum es gehe, und sei dafür. Bill der Blizzard wird wahrscheinlich wüten, aber wenn es zur Abstimmung kommt, wird er sich auf unsere Seite schlagen müssen. Übrigens habe ich Ihnen noch nicht gesagt, dass Dick dabei sein wird. Er ist gestern Abend gekommen und hat sich gleich an die Arbeit gemacht.«
Studdock überlegte verzweifelt, wie er verbergen könnte, dass er nicht wusste, wer Dick war. Im letzten Augenblick fiel ihm ein sehr unbedeutender Kollege mit Vornamen Richard ein.
»Telford?«, fragte er verwundert. Er wusste sehr gut, dass Telford nicht der Dick sein konnte, den Curry meinte, und darum gab er seiner Frage einen leicht belustigten und ironischen Unterton.
»Lieber Himmel! Telford!«, sagte Curry und lachte. »Nein. Ich meine Lord Feverstone – Dick Devine, wie er früher hieß.«
»Der Gedanke an Telford kam mir auch ein bisschen komisch vor«, sagte Studdock und stimmte in das Lachen ein. »Es freut mich, dass Feverstone kommt. Ich kenne ihn noch gar nicht, wissen Sie.«
»Nun, dann wird es höchste Zeit«, sagte Curry. »Hören Sie, kommen Sie heute zum Abendessen zu mir. Ich habe ihn auch eingeladen.« »Mit Vergnügen«, sagte Studdock wahrheitsgemäß. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich nehme an, dass Feverstones Position sicher ist, oder?«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Curry.
»Nun, Sie werden sich erinnern, dass darüber geredet wurde, ob jemand, der so viel abwesend ist, seinen Lehrstuhl hier behalten kann.« »Ach, Sie meinen Glossop und all diesen Schwindel. Das hat nichts zu bedeuten. Haben Sie es nicht für blanken Unsinn gehalten?«
»Unter uns gesagt, ja. Aber ich gebe zu, wenn ich öffentlich erklären müsste, warum jemand, der fast immer in London ist, weiterhin einen Lehrstuhl in Bracton haben sollte, würde ich mich nicht ganz leicht tun. Die wahren Gründe sind das, was Watson Imponderabilien nennen würde.«
»Da bin ich anderer Meinung. Ich hätte nichts dagegen, die wahren Gründe öffentlich zu erläutern. Ist es für ein College wie dieses nicht wichtig, einflussreiche Verbindungen zur Außenwelt zu haben? Es ist nicht ausgeschlossen, dass Dick im nächsten Kabinett sitzt. Schon bisher war Dick dem College von London aus nützlicher als Glossop und ein halbes Dutzend andere von der Sorte, die ihr ganzes Leben hier herumsitzen.« »Ja. Das ist natürlich der springende Punkt. Trotzdem wäre es schwierig, das in dieser Form bei einer Sitzung des Kollegiums vorzubringen.«
»Da ist übrigens etwas«, sagte Curry in einem etwas weniger vertraulichen Ton, »das Sie über Dick wissen sollten.«
»Was denn?« »Er hat Ihnen den Lehrstuhl verschafft.«
Mark schwieg. Er ließ sich nicht gern daran erinnern, dass er einmal nicht nur außerhalb des Progressiven Elements gestanden hatte, sondern sogar außerhalb des Colleges. Curry war ihm keineswegs immer sympathisch. Er genoss das Zusammensein mit ihm nicht auf diese Weise.
»Ja«, sagte Curry. »Denniston war Ihr Hauptrivale. Unter uns gesagt, vielen Leuten gefielen seine Arbeiten besser als die Ihren. Aber Dick bestand die ganze Zeit darauf, dass Sie der richtige Mann für uns seien. Er ging hinüber zum Duke’s College und hat alles über Sie in Erfahrung gebracht. Er war der Meinung, es komme darauf an, den Mann zu finden, den wir wirklich brauchen, zum Teufel mit den Arbeiten und der Qualifikation. Und ich muss sagen, er hat Recht gehabt.«
»Sehr freundlich von Ihnen«, sagte Studdock mit einer ironischen Verbeugung. Er war überrascht über die Wendung, die das Gespräch genommen hatte. In Bracton war es, wie vermutlich in den meisten anderen Colleges, seit jeher ein ungeschriebenes Gesetz, dass man in der Gegenwart eines Mannes niemals die Umstände erwähnte, die zu seiner Ernennung geführt hatten, und Studdock hatte bis zu diesem Augenblick nicht daran gedacht, dass auch dies eine der Traditionen sein könnte, die das Progressive Element abschaffen wollte. Auch war ihm bisher nie in den Sinn gekommen, seine Wahl könnte von etwas anderem als der Qualität seiner Arbeiten abhängig gewesen sein. Und erst recht nicht, dass sie eine so knappe Angelegenheit gewesen war. Er hatte sich inzwischen so an seine Position gewöhnt, dass der Gedanke eine seltsam zwiespältige Empfindung in ihm wachrief, etwa so, als habe er entdeckt, dass der eigene Vater einst beinahe eine andere Frau geheiratet hätte.
»Ja«, fuhr Curry fort, der inzwischen einen anderen Gedankengang verfolgte. »Heute sieht man, dass wir mit Denniston nicht gut gefahren wären. In keiner Weise. Damals war er natürlich ein brillanter Mann, aber inzwischen scheint er mit seiner Verteilungstheorie und all diesem Zeug völlig entgleist zu sein. Ich habe gehört, dass er möglicherweise in einem Kloster enden wird.«
»Ein Dummkopf ist er nicht gerade«, sagte Studdock.
»Ich bin froh, dass Sie Dick kennen lernen werden«, sagte Curry. »Wir haben jetzt keine Zeit, aber es gibt da etwas, das ihn betrifft und das ich mit Ihnen besprechen wollte.« Studdock sah ihn fragend an.
»James und ich und ein paar andere«, sagte Curry mit gedämpfter Stimme, »haben uns gedacht, dass er der neue Rektor werden sollte. Aber wir sind da.« »Es ist noch nicht zwölf«, sagte Studdock. »Wie wär’s, wenn wir auf ein Glas ins Bristol gingen?«
Also gingen sie ins Bristol. Ohne diese kleinen Aufmerksamkeiten wäre es nicht einfach gewesen, die Atmosphäre zu erhalten, in der das Progressive Element sich bewegte. Das belastete Studdock stärker als Curry, der unverheiratet war und das Gehalt eines Vizerektors bezog. Aber das Bristol war ein sehr angenehmes Lokal. Studdock bestellte einen doppelten Whisky für seinen Begleiter und ein kleines Bier für sich.