Loe raamatut: «Vertuschter Skandal»
Studienreihe der Landesbeauftragten
für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt
Sonderband
Florian Steger, Carolin Wiethoff und Maximilian Schochow
Vertuschter Skandal
Die kontaminierte Anti-D-Prophylaxe in der DDR
1978/1979 und ihre Folgen
mitteldeutscher verlag
Umschlaggestaltung unter Verwendung einer Graphik „Hepatitis nach Anti-D“ (Quelle: BArch, Bestand DQ 1/11705) und eines Ausschnitts „Anlage zur Gütevorschrift 14/76 (ARp 08/30/12-08)“ (Quelle: BArch, Bestand DQ 1/11705).
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2017
© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
ISBN 978-3-95462-829-2
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Geleitwort
Einleitung
1 Auftreten von Hepatitiserkrankungen nach der Anti-D-Immunprophylaxe und die Suche nach den Verantwortlichen
1.1 Hintergründe der Erkrankungen und erste Ermittlungen
1.1.1 Die Ereignisse 1978: Erkrankung der Spender und Anti-D-Produktion
1.1.2 Massenhaftes Auftreten von Erkrankungen in allen Bezirken der DDR im Frühjahr 1979
1.1.3 Mecklingers Anzeige und erste Befragungen der Staatsanwaltschaft
1.1.4 Einholen eines Sachverständigengutachtens
1.2 Das Ermittlungsverfahren
1.2.1 Ergebnisse der Vernehmungen und strittige Punkte
1.2.2 Auf dem Weg zur Anklage
1.3 Anklage, Hauptverhandlung und Urteil
1.3.1 Die Anklage
1.3.2 Die Hauptverhandlung
1.3.3 Das Urteil
1.4 Berufung gegen das Urteil und Abmilderung der Strafen
2 Situation der betroffenen Frauen in der DDR 1978/1979–1990
2.1 Information der Frauen und ärztliche Behandlung
2.1.1 Staatliche Weisungen zum Umgang mit den Frauen
2.1.2 Kritik aus der Bevölkerung
2.1.3 Erste Schritte: Untersuchung und Einweisung von Betroffenen ins Krankenhaus
2.1.4 Der stationäre Aufenthalt
2.1.5 Medizinische Betreuung und Leberpunktionen
2.2 Festlegung von Ausgleichszahlungen
2.2.1 Rechtliche Grundlagen des Schadensausgleichs
2.2.2 Anweisungen des Ministeriums für Gesundheitswesen
2.2.3 Regelungen der Staatlichen Versicherung
2.2.4 Forderungen der Betroffenen
2.2.5 Neuregelung der Ausgleichszahlungen
2.2.6 Weitere Beschwerden
2.3 Staatlicher Umgang mit Strafanzeigen aus der Bevölkerung
2.4 Fehler bei der Erfassung und Konsequenzen
2.5 Staatlicher Umgang mit chronischen Erkrankungen und Konsequenzen für die Erkrankten
2.5.1 Anzahl der langfristigen Erkrankungen
2.5.2 Dispensairebetreuung und Begutachtung
2.5.3 Versorgung oder Forschung?
2.5.4 Einschnitte in die Lebensplanung
3 Von der Wiedervereinigung bis heute
3.1 Auf dem Weg zu einem eigenständigen Entschädigungsgesetz
3.1.1 Situation der Betroffenen nach der Wiedervereinigung
3.1.2 Große Anfrage der SPD
3.1.3 Gespräche in den Bundesländern und Diskussionen im Bundestag
3.1.4 Stagnation und Regierungswechsel
3.2 Das Anti-D-Hilfegesetz
3.3 Weitere Kritikpunkte nach dem Anti-D-Hilfegesetz
3.3.1 Verfassungsbeschwerde und Petitionen
3.3.2 Politisches Engagement zur Verbesserung des Anti-D-Hilfegesetzes
3.3.3 Kritik der Betroffenen an Forschungsprojekten
3.4 Ausblick: Entwicklungen bis heute
4 Schluss
5 Quellen und Literatur
5.1 Quellen
5.2 Literatur
Autorenverzeichnis
Ebenfalls in der Studienreihe der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt erschienen
Fußnoten
Geleitwort
Die Zusammenhänge und Hintergründe des hallischen Arzneimittelskandals von 1978/1979 sowie die Folgen für die betroffenen Frauen aufzuarbeiten, ist das Ziel dieser wissenschaftlichen Untersuchung. Die Aufgabe der Landesbeauftragten für Stasi-Unterlagen besteht in der Aufarbeitung der Vergangenheit, die von der Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR und politischer Einflussnahme belastet ist. Dazu gehören zunehmend auch Themen der Gesundheitspolitik.
Der Vorstand des Deutschen Vereins Anti-D HCV-Geschädigter e. V. wandte sich im Jahr 2014 an mich als Landesbeauftragte und bat mich um Unterstützung. In unseren Gesprächen wurde deutlich, dass die Frauen nicht nur an den Folgen des Geschehens von 1978/1979 leiden. Sie leiden auch darunter, dass sie immer wieder zu Objekten von Begutachtung und Beurteilung geworden sind. Die nahezu zeitgleiche Infektion eines „homogenen Patientinnenkollektivs“ ist objektiv ein bedeutsamer Gegenstand für Forschungsarbeit. Die Frauen fühlen sich bis heute hauptsächlich als Gegenstand von Forschung und fragen zu Recht, ob mehrfache äußerst schmerzhafte Untersuchungen an ihnen selbst und teilweise an ihren Kindern wirklich der Diagnose oder nicht eigentlich zuerst der Forschung dienten, über die sie nicht informiert worden waren.
Bis 1989 gehörte es zur Gesundheitspolitik, die Frauen zu isolieren und nicht über das Ausmaß der Krankheitsfälle in der DDR zu informieren. Die Frauen und ihre weitgehend noch unbekannte Erkrankung wurden zum Gegenstand staatlicher Untersuchung, staatlicher Verheimlichung und teilweise staatlicher Entschädigung. Die Frauen wurden auch innerhalb ihrer Aufgaben in der Gesellschaft als Mütter und als Arbeitskräfte unter Druck gesetzt, perfekt zu funktionieren. Viele betroffene Frauen haben sich von Beginn an gegen die Unterstellung von Simulation verwehren müssen. Als schwer erkrankte Patientinnen mussten sie sich immer wieder für ihre Rechte einsetzen und gegen Widerstände und Verharmlosung ankämpfen.
Erst seit 1990 war es ihnen möglich, eigene Interessensvertretungen zu bilden. Seitdem arbeiten die Frauen daran, die Hintergründe ihrer Geschichte aufzuarbeiten und zu verstehen.
Die vorliegende Arbeit ist die erste wissenschaftliche Aufarbeitung des Geschehens, die unter Einbeziehung der betroffenen Frauen entstanden ist. Die Frauen stellten den Wissenschaftlern ihre Unterlagen zur Verfügung. Dieser Beitrag unternimmt es, den Umgang mit dem hallischen Arzneimittelskandal bis in die Gegenwart hinein zu untersuchen und damit auch einen Beitrag zur aktuellen Debatte um die Fragen der Entschädigung und Anerkennung der betroffenen Frauen zu leisten.
In den Gesprächen mit den Frauen ist mir klar geworden, dass sie in den Debatten um die gesetzlichen Regelungen ihrer Entschädigung durch den Deutschen Bundestag zwar auch Hilfe und Unterstützung erfahren haben, dass ihre Unzufriedenheit mit der Praxis dieser Regelungen aber dennoch anhält. Deshalb haben sie auch Gesprächsbedarf angemeldet. Der Eindruck mangelnder Anerkennung ihrer Lebenssituation bleibt unter anderem dadurch bestehen, dass die Begutachtung der Schädigung von ihnen scharf zu kritisieren ist und Einkommenseinbußen aufgrund von Erkrankungen und Leistungsminderungen nicht berücksichtigt werden.
Diese Arbeit ist ein Gesprächsbeitrag, um einem breiten Publikum ein besseres Verständnis dieser komplizierten Materie zu ermöglichen.
Ich danke den betroffenen und vielfach engagierten Frauen für ihr Vertrauen.
Ich danke Professor Florian Steger, Carolin Wiethoff und Maximilian Schochow für ihre Einfühlung und ihre Genauigkeit. Ich hoffe sehr, dass dieser Band den Frauen den Respekt der Gesellschaft zeigen kann und dass diese unabhängige Forschungsarbeit allen Beteiligten eine gute Grundlage für weitere Beratungen sein wird.
Birgit Neumann-Becker
Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes
der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt
Einleitung
„Im Februar 1979 erhielt ich eine Zwangseinweisung in ein Krankenhaus, nachdem eine Blutkontrolle angeordnet und durchgeführt worden war. Den Grund für die Einweisung erfuhr ich nicht. Es ging mir verdammt schlecht. Beim Betreten des Krankenzimmers sahen mich elf Frauen an. Ein Bett war nur noch frei. Ich erinnere mich an einen Raum, der nur ein freihängendes Waschbecken zur Verfügung hatte. Ohne Vorhang, ohne Sichtschutz. Es war ein eher dunkler Saal mit spärlicher Beleuchtung. Die Seuchenstation erstreckte sich über die gesamte Ebene des Obergeschosses und umfasste mehrere Zimmer. Die Infektionsstationen im gesamten Land waren zu diesem Zeitpunkt gefüllt.“1 Nach acht Wochen wurde die Autorin, die unter dem Pseudonym Britt Brandenburger die Ereignisse aus dem Jahr 1979 veröffentlichte, ohne Aufklärung und ohne Diagnose aus dem Krankenhaus entlassen. Den Grund für ihre Zwangseinweisung, den wochenlangen Krankenhausaufenthalt und die Untersuchungen erfuhr Britt Brandenburger erst 1995 durch einen Zufall: Sie wurde 1978 mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert. Nach der Geburt ihrer ersten Tochter im Herbst 1978 hatte sie ein Serum zur Anti-D-Immunprophylaxe erhalten, das mit dem Hepatitis-C-Virus kontaminiert war.2 Sie wusste 17 Jahre nichts über ihre Hepatitis-C-Infektion und hatte in diesem Unwissen 1980 bei der Geburt ihrer zweiten Tochter den Virus auch auf ihr Kind übertragen. Wie Britt Brandenburger ging es vielen Frauen in der DDR. Sie wurden zwangsweise von ihren Familien getrennt, meist mehrere Wochen auf Isolierstationen festgehalten und – zumindest zunächst – ohne Aufklärung medizinisch betreut. Die Zahlen über die tatsächlichen Infektionen infolge der Anti-D-Immunprophylaxe differieren. Fest steht, dass in den Jahren 1978 und 1979 mehrere tausend Ampullen mit dem kontaminierten Serum verwendet wurden und damit ein großer Kreis von Frauen potenziell mit Hepatitis C infiziert worden war.3
Eine Anti-D-Immunprophylaxe oder Rhesusprophylaxe wird auch heute noch schwangeren Frauen verabreicht, die eine andere Rhesusgruppe als ihr Kind aufweisen. Neben den Blutgruppen A, B und 0 gibt es weitere Blutgruppenmerkmale wie das Rhesussystem. 1940 hatten Karl Landsteiner (1868–1943) und Alexander Solomon Wiener (1907–1976) das Erythrozyten-Antigen-System entdeckt.4 Rhesus-positive Individuen besitzen dieses System und damit spezielle Proteine auf der Zellmembran der Erythrozyten, den roten Blutkörperchen. Rhesus-negative besitzen das Erythrozyten-Antigen-System nicht. Der Name Rhesusfaktor geht auf die Verwendung von Erythrozyten aus dem Blut von Rhesusaffen für die Gewinnung der ersten Testseren zurück. Bei Rhesus-negativen Müttern, die ein Rhesus-positives Kind bekommen, tritt eine Rhesus-Inkompatibilität auf. Dabei bildet der Rhesus-negative Organismus Antikörper gegen die Rhesus-positiven Erythrozyten. Diese Antigen-Antikörper-Reaktion kann zu einer lebensbedrohlichen Situation führen. Daher erhalten diese Frauen während und unmittelbar nach der Schwangerschaft sowie nach einem Schwangerschaftsabbruch oder einer Fehlgeburt eine Prophylaxe mit Anti-D-Immunglobulinen. So werden die fremden Erythrozyten zerstört. Die Prophylaxe wurde in der Bundesrepublik Deutschland in den späten 1960er Jahren eingeführt.5 In der DDR war sie 1970/71 von einer Forschungsgruppe unter der Leitung des Obermedizinalrats (OMR) Dr. Wolfgang Schubert (* 1924) entwickelt worden. Für die Entwicklung des Präparats und die Einführung in die Praxis wurde Schubert 1976 mit dem Nationalpreis der DDR ausgezeichnet. Er war Ärztlicher Direktor des Bezirksinstituts für das Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale). Unter seiner Leitung wurde der Impfstoff für die gesamte DDR hergestellt. Für die Produktion des Impfstoffs erhielt das Bezirksinstitut für das Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) humanes Plasma geeigneter Spender von den anderen Bezirksinstituten der DDR.6
Im Frühjahr 1978 hatte Schubert die Information des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen Neubrandenburg erhalten, dass im Bezirk Neubrandenburg mehrere Plasmaspender erkrankt waren. Das Plasma der erkrankten Spender war bereits an das Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) geliefert und dort zu zwei Chargen mit je etwa 1.000 Ampullen Anti-D-Immunglobulin verarbeitet worden.7 Vor diesem Hintergrund stand Schubert vor der Alternative, die kontaminierten Chargen Anti-D-Immunglobulin zu vernichten und den Produktionsverlust durch Importe aus dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW) zu ersetzen.8 Oder er konnte die fraglichen Chargen zurück in den Produktionsprozess geben. Der Direktor des Staatlichen Kontrollinstituts für Seren und Impfstoffe, Professor Dr. Friedrich Oberdoerster (1915–1984),9 hatte einen Import ausgeschlossen und Schubert für die Lieferung des Wirkstoffs verantwortlich gemacht. Daraufhin fasste Schubert einen folgenreichen Entschluss: Die beiden bereits fertiggestellten Chargen wurden zu einer neuen Charge umgearbeitet.10 Anschließend wurden die Chargen beim Staatlichen Kontrollinstitut für Seren und Impfstoffe zur Prüfung eingereicht, ohne darauf hinzuweisen, dass die verdächtigen Plasmen darin verarbeitet worden waren. Das Staatliche Kontrollinstitut gab die Chargen frei und das Anti-D-Immunglobulin wurde in den Bezirken der DDR verteilt.11
Ende Dezember 1978 häuften sich in der DDR Meldungen über erkrankte Frauen, die eine Anti-D-Immunprophylaxe erhalten hatten. Die Betroffenen klagten unter anderem über Oberbauchbeschwerden, Appetitlosigkeit sowie verfärbten Urin und zeigten Symptome einer Hepatitis. Der Gesundheitsminister der DDR, Obermedizinalrat (OMR) Professor Dr. Ludwig Mecklinger (1919–1994),12 hielt die Anti-D-Prophylaxe für die Ursache der Erkrankungen und ließ die verdächtigen Chargen Mitte Januar 1979 sperren.13 Zudem ordnete er an, dass alle Frauen, die seit dem 1. September 1978 eine Anti-D-Prophylaxe erhalten hatten, erfasst und medizinisch überwacht werden sollten.14 Sofern die Frauen erhöhte Blutwerte oder Symptome einer Hepatitis aufwiesen, wurden sie ins Krankenhaus zwangseingewiesen und von ihren Säuglingen, Kindern und Partnern getrennt. Im März 1979 meldeten die Krankenhäuser, dass auch Frauen erkrankt waren, die den Wirkstoff aus nachfolgenden Chargen des Anti-D-Immunglobulins erhalten hatten. Bei erneuter Kontrolle des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) stellte sich heraus, dass durch Wiederverwendung einer Waschflüssigkeit diese Chargen kontaminiert worden waren. Auch diese Chargen wurden gesperrt.15 Bis Anfang September 1979 erkrankten mehrere tausend Personen, darunter auch infizierte Kontaktpersonen.16 Der Gesundheitsminister reagierte mit mehreren Anweisungen an die Bezirksärzte und erstattete Anzeige gegen Schubert und den Leiter der Technischen Kontrollorganisation des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale).17 Daraufhin leitete die Generalstaatsanwaltschaft der DDR ein Ermittlungsverfahren gegen die beiden ein.
Das Hepatitis-C-Virus wurde erst Ende der 1980er Jahre entdeckt und erhielt seinen Namen. Zuvor war lediglich bekannt, dass es neben der Hepatitis A und B weitere Typen gab, die allgemein unter dem Begriff Non-A-Non-B-Hepatitis zusammengefasst wurden.18 Bei vielen Frauen, die in der DDR mit der kontaminierten Prophylaxe infiziert worden waren, wurde die Erkrankung chronisch und verlief mit jahrelangen Beschwerden. Diese betrafen nicht nur die Leber, sondern äußerten sich als sogenannte extrahepatische Manifestationen in Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Gelenkschmerzen, Gefäßerkrankungen sowie psychischen Beschwerden.19 Eine öffentliche Debatte zu den Ereignissen von 1978/1979 wurde in der DDR nicht geführt. Der Prozess gegen die Beschuldigten verlief unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Infektionen wurden als Impfschaden bewertet und nach der Zweiten Durchführungsbestimmung zum „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen“ (GÜK) vom 27. Februar 1975 behandelt.20 Einige Frauen erhielten Entschädigungsleistungen. Auch Lohnausgleichszahlungen wurden in den folgenden Jahren vorgenommen. Mitte der 1990er Jahre waren Verbände der Betroffenen entstanden, der Bundesverband Anti-D-geschädigter Frauen e. V. und der Deutsche Verein HCV-Geschädigter e. V. Diese forderten von der Bundesregierung eine Entschädigung und eine öffentliche Anerkennung. Im Jahr 2000 wurde von der rot-grünen Bundesregierung das Anti-D-Hilfegesetz erlassen, welches „die unbefriedigende Situation“ der Betroffenen verbessern sollte.21 Das Anti-D-Hilfegesetz gewährte einem Teil der Frauen eine Einmalzahlung sowie monatliche Renten. Die Voraussetzung für den Bezug einer Rente und den Erhalt einer Einmalzahlung wurde an die Minderung der Erwerbsfähigkeit geknüpft und nach dem jeweiligen Grad gewährt.22
Durch zahlreiche Initiativen der Betroffenen-Verbände rückten die Ereignisse der Jahre 1978/1979 in die Öffentlichkeit. Die persönlichen Schilderungen von Britt Brandenburger trugen dazu ebenso bei23 wie ein Film der beiden Journalistinnen Anne Mesecke und Ariane Riecker aus dem Jahr 2012. Unter Rückgriff auf Archivalien und Zeitzeugeninterviews stellten sie die Geschichte aus journalistischer Sicht dar.24 Der Film entstand für den Rundfunk Berlin-Brandenburg in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Er hat eine breite Resonanz gefunden, so auch bei sächsischen Ärzten, die ihn für „absolut entbehrlich“ halten, da er „fachlich historisch unzureichend und theatralisch politisch“ sei.25 Eine erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den rechtlichen Aspekten nach der Wiedervereinigung wurde von Elke Beatrice Käser in ihrer juristischen Dissertation vorgelegt.26 Dennoch fehlt bisher eine wissenschaftliche Arbeit, die sich umfassend mit den Ereignissen auseinandersetzt und diese kritisch in den Blick nimmt.
Die Kontamination von Anti-D-Immunglobulin-Chargen mit Hepatitis-C-Viren ist nicht auf die DDR beschränkt. Zwischen 1977 und 1978 wurden in Irland unwissentlich Chargen mit Hepatitis-C-Viren verwendet. Eine 1996 eingesetzte Untersuchungskommission kam zu dem Ergebnis, dass das Blutplasma einer einzigen erkrankten Person zu der Kontamination geführt hatte.27 Vor diesem Hintergrund ist die wissenschaftliche Bearbeitung der Geschichte der Hepatitis-C-Infektionen, des Strafprozesses und des Umgangs mit den betroffenen Frauen in der DDR notwendig, die den politischen Kontext beachtet. Das Gesundheitswesen der DDR war staatlich organisiert und unterstand dem direkten Einfluss der SED. Mit Mecklinger war erstmals ein SED-Mitglied Gesundheitsminister.28 Die Ereignisse aus den Jahren 1978/1979 zeigen, dass neben dem Gesundheitsminister weitere Personen aus dem Bereich des Gesundheitswesens als politische Akteure handelten. In jüngst veröffentlichten Arbeiten zu den geschlossenen Venerologischen Stationen in der DDR wurde herausgearbeitet, wie stark die Medizin in der DDR politisiert war. Danach beschränkten sich die Akteure bei ihrem Handeln nicht nur auf eine bloße Übernahme politischer Vorgaben. Sie prägten das politische System selbst durch ihre Normen, die sie in der alltäglichen Praxis anwandten.29 Der Alltag in den geschlossenen Venerologischen Stationen war durch Zwangseinweisungen, Isolation und Terror geprägt. Die Patientinnen in den geschlossenen Venerologischen Stationen wurden ohne Aufklärung und gegen ihren Willen über mehrere Wochen zwangsweise behandelt.30 Auch die Frauen, die durch eine kontaminierte Prophylaxe infiziert worden waren, wurden plötzlich, zum Teil in Unkenntnis über den Grund, monatelang von ihren Familien getrennt. Sie wurden von einer politisierten Medizin versorgt und teilweise für wissenschaftliche Forschungsprojekte eingesetzt. So ist danach zu fragen, welche persönlichen Folgen die Ereignisse für sie und ihre Angehörigen hatten. Zudem waren die infizierten Frauen direkt von den Maßnahmen des staatlichen Gesundheitswesens betroffen, die näher untersucht werden sollen. Inwiefern wurde durch staatliche Institutionen reagiert und wie wurde dabei mit den Frauen umgegangen? Untrennbar hängt damit die Frage nach einer fürsorglichen Verantwortungspflicht vonseiten des medizinischen Personals, aber auch vonseiten staatlicher Institutionen zusammen. Dabei gilt es nach einer umfassenden Aufklärung der Patientinnen ebenso zu fragen wie nach der anschließenden medizinischen Versorgung. Hier ist auch zu fragen, inwiefern die ärztliche Behandlung von Forschungsinteressen geleitet war und ob diese transparent kommuniziert wurden.
Eine Trennung zwischen ökonomischer Entwicklung und dem Gesundheitswesen in der DDR kann ebenso wenig vorgenommen werden wie die Trennung von politischem Unrecht und den medizinischen Folgen für die Betroffenen.31 Aktuelle Forschungen hierzu belegen, welche Konsequenzen eine politische Verfolgung auf den weiteren Lebensweg der Betroffenen hatte.32 Eine zentrale Rolle kommt dabei dem Ministerium für Staatssicherheit zu, das Einfluss auf den Bereich des Gesundheitswesens hatte.
So war gerade unter den Ärztinnen und Ärzten der DDR eine informelle Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit besonders ausgeprägt – insbesondere im Bereich der Psychiatrie und der Sportmedizin.33 Dabei kam vor allem den Bezirksärzten eine wesentliche Rolle zu.34 Es hat sich gezeigt, dass Ärztinnen und Ärzte in leitenden Funktionen von der Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit profitierten, indem sie sich Vorteile für ihre Forschung und für die medizinischen und biotechnischen Entwicklungen ihrer Kliniken beschafften.35 Denn das Gesundheitswesen war stark unterfinanziert und blieb trotz der Aufwertung der Sozialpolitik Anfang der 1970er Jahre bei der Mittelzuteilung benachteiligt.36 Die Ereignisse der Jahre 1978/1979 sind von diesem Mangel geprägt, da das Spenderplasma rar war und das Staatliche Kontrollinstitut für Seren und Impfstoffe einen Import aus dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (NSW) abgelehnt hatte. Das Ministerium für Staatssicherheit war auch in die Ermittlungen involviert, wie es zu der Kontamination der Chargen gekommen war. Es nahm Einfluss auf die Ermittlungen und begleitete das Strafverfahren.
Die vorliegende Arbeit ist wie folgt gegliedert: Im ersten Kapitel werden die Hintergründe des Geschehens dargestellt. So stehen das Auftreten von Hepatitiserkrankungen nach der Anti-D-Prophylaxe und die Suche nach den Verantwortlichen im Vordergrund. Offiziell ermittelte die Staatsanwaltschaft Halle (Saale) in enger Zusammenarbeit mit der Generalstaatsanwaltschaft Berlin. Das Ermittlungsverfahren endete schließlich mit einer nicht-öffentlichen Anklage. Schubert und der Leiter der Technischen Kontrollorganisation des Bezirksinstituts für Blutspende- und Transfusionswesen Halle (Saale) wurden zu Gefängnisstrafen, die zur Bewährung ausgesetzt wurden, verurteilt. Die ausgewerteten Akten des Ermittlungsverfahrens geben Aufschluss über die Hintergründe der Erkrankungen, aber auch über den Umgang mit den beiden Beschuldigten und über die Einschätzung der Angelegenheit durch die Verantwortlichen in der DDR. Hier stehen folgende Fragen im Vordergrund: Wusste das Ministerium für Gesundheitswesen von der Kontamination der Chargen? Welche Rolle spielten die zuständigen Prüfinstanzen wie das Staatliche Kontrollinstitut für Seren und Impfstoffe? Wie wurde die Verantwortung der beiden Beschuldigten gewertet und zu welcher Einschätzung kommen wir heute? Welche Rolle hatte das Ministerium für Staatssicherheit bei den Ermittlungen?
Im zweiten Kapitel wird auf die Situation der betroffenen Frauen eingegangen. Wie wurden die Frauen 1979 und auch danach über die Ereignisse und die Folgen für ihre Gesundheit aufgeklärt? Wie sahen der Krankenhausaufenthalt und die ärztliche Behandlung der Frauen aus? Hatten sie die Möglichkeit einer freien Arztwahl und welche Rechte hatten sie in Bezug auf die ärztliche Behandlung? Zum anderen stellt sich die Frage nach einer materiellen Entschädigung der Frauen durch die DDR. Die Erkrankungen wurden in der DDR als Impfschäden erfasst, und es wurden nach dem „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen“ (GÜK) Ausgleichszahlungen gewährt. Hier war auch die Staatliche Versicherung der DDR involviert, welche die Zahlungen vornahm. Neben den unmittelbaren Maßnahmen des Ministeriums für Gesundheitswesen und der sich daraus ergebenden Situation für die Betroffenen wird auch nach langfristigen Erkrankungen gefragt. Wie wurden die Frauen bei längerer Erkrankung ärztlich behandelt und finanziell unterstützt? Dabei stellt sich insbesondere die Frage nach der ärztlichen Versorgung und dem Forschungsinteresse der beteiligten Ärztinnen und Ärzte. Inwiefern war die ärztliche Behandlung von Forschungsinteressen geleitet und welche Rolle spielten in diesem Zusammenhang staatliche Institutionen? Inwiefern waren die Untersuchungen notwendig für eine Heilung oder Verbesserung der gesundheitlichen Situation der Frauen? Wurden Untersuchungen an den Frauen vorgenommen, die ausschließlich der Forschung dienten?
Im dritten Kapitel wird auf die Situation der Frauen nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung eingegangen. Die Frauen waren mit einem neuen politischen System konfrontiert, das sie nicht kannten. Sie konnten sich zusammenschließen, ihre Interessen bündeln und sich aktiv für ihre Rechte einsetzen. Vor allem aber konnten sie die Öffentlichkeit über das ihnen geschehene Unrecht aufklären. Untersucht wird, wie die Frauen mit einer chronischen Erkrankung für ihre Anerkennung und Entschädigung kämpften, und wie diese durch politische Initiativen unterstützt wurden. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang ihre Versorgung in der DDR? In diesem Teil wird dargestellt, welche Schwierigkeiten für die betroffenen Frauen nach der deutschen Wiedervereinigung auftraten und welche Streitpunkte zwischen den Frauen und der Bundesregierung bestanden. In einem Schlusskapitel werden die Ergebnisse zusammengeführt und diskutiert.
Für die Untersuchung der Fragen standen zahlreiche Quellen zur Verfügung. Zum einen konnten wir auf die Akten der Staatsanwaltschaft Halle (Saale) zurückgreifen, die einen Einblick in das Ermittlungsverfahren und die Ursachen der kontaminierten Anti-D-Prophylaxe geben. Ergänzt wurden diese durch Akten der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU), die Aufschluss über die Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit in dieser Hinsicht ermöglichen. Die Situation der Betroffenen in der DDR konnten wir anhand von Dokumenten rekonstruieren, die uns von den Frauen zur Verfügung gestellt wurden. Zudem haben wir den Bestand des Ministeriums für Gesundheitswesen (DQ 1) im Bundesarchiv Berlin ausgewertet, um Fragen zur ärztlichen Behandlung, den Ausgleichszahlungen und der Forschung an den Patientinnen zu beantworten. Der Bestand DQ 1 beinhaltete zudem zahlreiche Eingaben von Frauen an die staatlichen Stellen der DDR in den Jahren 1979 bis 1989/90. Die Ereignisse nach der Wiedervereinigung lassen sich anhand der uns zur Verfügung gestellten Schriftstücke des Deutschen Vereins HCV-Geschädigter e. V. rekonstruieren. Den gesamten Quellenbestand haben wir quellenkritisch ausgewertet. Darüber hinaus haben wir die Methode der Oral History genutzt und mit betroffenen Frauen narrative Interviews durchgeführt. Diese haben uns einen Einblick in die individuellen Erfahrungen und die persönliche Situation gegeben.37 Zudem wurden von betroffenen Frauen Fragebögen ausgefüllt, die von uns ebenfalls kritisch ausgewertet wurden. Wir haben versucht, alle Akteure anzusprechen und mit ihnen ein Gespräch zu führen. Leider standen nicht alle Verantwortlichen gleichermaßen als Gesprächspartner zur Verfügung.
Wir haben uns entschlossen, einige Namen von Ärzten nicht zu anonymisieren, da sie in Medienberichten und vorangegangenen Publikationen mehrfach öffentlich gemacht worden sind und in Datenbanken eingesehen werden können. Allen Zeitzeugen, die mit uns ein Interview führten, haben wir Anonymität zugesichert. An diese Vereinbarung werden wir uns halten. Zur Wahrung der Persönlichkeitsrechte werden alle Namen real existierender oder bereits gestorbener Personen aus den Archivunterlagen des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), der Staatsanwaltschaft Halle (Saale) (StA Halle (Saale)) sowie des Bundesarchivs (BArch) vollständig anonymisiert. Damit sind Rückschlüsse auf die Identität dieser Personen nicht möglich.
Für die Begleitung des Projekts und die finanzielle Unterstützung möchten wir uns bei der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Frau Birgit Neumann-Becker, bedanken. Dank gilt darüber hinaus dem Leitenden Oberstaatsanwalt Halle (Saale), Herrn Jörg Wilkmann, der uns durch die Einsicht in die Akten eine detaillierte Betrachtung des Ermittlungsverfahrens ermöglicht hat. Besonders bedanken möchten wir uns bei den betroffenen Frauen, die das Projekt initiierten, mit uns Interviews geführt und uns umfassendes Material zur Verfügung gestellt haben. Dank gilt darüber hinaus Frau Nadine Wäldchen, Frau Silvia Fischer und Frau Nicole Adam für ihre vielfältige Unterstützung.