Loe raamatut: «Anstandsfesseln»
Carrie Fox
Anstandsfesseln
– ein erotischer Roman –
Carrie Fox
ANSTANDSFESSELN
ELYSION-BOOKS
1. Auflage: Juni 2017
VOLLSTÄNDIGE AUSGABE
ORIGINALAUSGABE
© 2017 BY ELYSION BOOKS GMBH, LEIPZIG
ALL RIGHTS RESERVED
UMSCHLAGGESTALTUNG: Ulrike Kleiner
www.dreamaddiction.de FOTO: © Bigstockphoto/
LAYOUT &WERKSATZ: Hanspeter Ludwig
www.imaginary-world.de LEKTORAT: Inka-Gabriela Schmidt www.inwisch.de
ISBN (vollständiges Ebook) 978-3-96000-0631
ISBN (vollständiges Buch) 978-3-96000-0624
Inhalt
DIE ZWILLINGE
ZUCKERWATTE UND ACHTERBAHN
LUST UND ENTTÄUSCHUNG
DIE FATA MORGANA
WILLKOMMEN IN DER VIRTUELLEN WELT
DIE VERLORENE TASCHE
DAS WUNDERSPIELZEUG
GEHEIME GEWALT
WIE EIN MAGNET
DIE ENTFÜHRUNG
ALLES WIRD GUT
LIEBE IST FÜR ALLE DA
DIE ZWILLINGE
Vanessa hielt ein kleines Holzschild in der Hand. Es war etwas schmaler als ein Briefumschlag, mit abgerundeten Ecken und weiß lackiert. Auf ihm geschraubt befanden sich drei Zierhaken aus Chrom. »home« stand in geschwungener Schrift über den Haken. Beim Shopping hatte sie diese auffallend gut verarbeitete Schlüsselleiste gefunden. Sie hatte verdeckt in einem Stapel voller Kleinteile auf dem Wühltisch eines Kaufhauses gelegen. Es war ein Schnäppchen, ein günstiges Kleinod. Es würde sich gut in ihrem Flur machen. Der Schriftzug vermittelte ihr so etwas wie ein Gefühl, das sie beibehalten musste. »Home« … es war ihr Zuhause und die Geborgenheit galt es, als heimelige Empfindung festzuhalten. Sie wusste schon genau, wo sie es hinhängen wollte und hatte alles vorbereitet. Sie legte das Schild auf den Boden und nahm Ingos Bohrmaschine in die Hand. Das Teil wog schwer wie ein gefüllter Bratentopf, zum Glück war die Maschine handlicher. Dann setzte sie den Bohrer an. Das laute Aufheulen der Maschine kam einem startenden Porsche gleich und ließ ihre Fingerspitzen prickeln. Vorsichtig und zitternd probierte sie, in die Wand zu kommen und rutschte prompt ab. Mist, sie hatte die Wandoberfläche beschädigt. Ein kurzer, schräg verlaufender Kratzer war entstanden. Gottseidank verdeckt das Schlüsselbrettchen den Schaden auf der Wand, dachte sie und beschloss, sich mehr ins Zeug zu legen. Sie verstärkte den Druck ihrer Hände, stemmte sich mit aller Kraft gegen die Maschine und der Bohrer drang mit lautem Getöse in die Wand ein. Das Gerät machte so einen Lärm, dass es heftig in Vanessas Ohren dröhnte. Die Vibration durchdrang ihren Körper und ihre Oberarme, so dass es in ihren Fingern kribbelte. Roter Staub rieselte aus dem darunterliegenden Ziegelmauerwerk zu Boden. Glücklicherweise musste sie nur zwei Löcher bohren.
Selbst ist die Frau, dachte sie. Vanessa hatte die ersten Bohrlöcher ihres Lebens vollbracht und fühlte sich wie ein Sieger. Sie lächelte zufrieden und betrachtete die gebohrten Schraubenkanäle in der Wand. Jetzt musste sie nur noch zwei Dübel hineindrücken und die passenden Schrauben mit dem Täfelchen hineindrehen und fertig war ihr erstes, eigenes Werk. Ingo hätte sowieso keine Zeit gehabt, ihr beim Bohren zu helfen. Er war viel zu beschäftigt mit seiner eigenen Arbeit. Eigentlich wollte Vanessa zunächst eine Firma beauftragen oder den Hausmeister fragen, aber sie verwarf diesen Gedanken schnell wieder. Engagieren und bezahlen, das konnte schließlich jeder. Nein, diese Arbeit, die sie mit ihren eigenen Händen geleistet hatte, sollte etwas sein, das Ingos fehlende Zuwendung ersetzen konnte. Sie wollte alleine etwas fertig bringen, was ihr das Gefühl gab, gebraucht zu werden. Noch einmal betrachtete sie das weiße Schlüsselbrettchen an der Wand und fühlte sich richtig gut.
Ihre Gedanken schweiften zurück zu Ingo. Er konnte sicher nichts dafür, dass er in seiner Arbeit versank, doch Vanessas Liebebedürfnis verkümmerte dabei. Sie fühlte sich vernachlässigt, obwohl sie ihn liebte. Vielleicht wäre es ein guter Ausgleich, mit der Verschönerung der Wohnung zu beginnen? Sie brauchte etwas, das ihr Freude und Befriedigung gab, wenn sie sich allein gelassen fühlte.
Vanessa holte klappernd den Staubsauger aus der Abstellkammer, um den Mauerdreck zu entfernen. Der rote Schmutz wurde aufgesaugt, als sie sich mit dem Rohr näherte. Dann räumte sie das Gerät zurück, trat beiseite und begutachte ihr Werk voller Stolz. Es war gar nicht so schwer, wie sie am Anfang gedacht hatte. Sie ließ ihren Blick über die Wände und die Einrichtungsgegenstände schweifen. Zwei große Fotos hingen an der Längsseite. Eines zeigte Vanessa und Ingo auf einer Sommerterrasse. Die Strahlen der untergehenden Sonne hatte sie in ein warmes Licht getaucht. Sie saßen, sich wie Kumpel umarmend, die Köpfe seitlich aneinander gelehnt, nebeneinander und lächelten in die Kamera. Es war ihr letzter schöner Urlaub in Spanien gewesen. Wie lange das her war … . Sie vermisste die Augenblicke der Zweisamkeit mit ihm. Traurig seufzte sie. Am Anfang ihrer Partnerschaft waren sie und Ingo jedes Jahr in den Urlaub geflogen, in den letzten zwei Jahren hatte er jedoch keine Zeit mehr aufbringen können.
Das andere Bild zeigte Vanessa mit ihrer Zwillingsschwester Viola, als sie noch klein waren und Hand in Hand in süßen Kleidchen auf einer Blumenwiese standen. Viola sah Vanessa äußerlich in keiner Weise ähnlich. Sie war dunkelhaarig mit braunen Augen und Vanessa blond mit blauen Augen. Jede von ihnen hatte andere Wesenszüge. Viola war schon damals eine vorlaute Göre, während Vanessa schüchtern war. Manchmal dachte Vanessa, Viola sei nicht ihre Zwillingschwester, sondern stammte von anderen Eltern. Und doch war es so … Sie konnten es beide fühlen. Die tiefe Verbundenheit, das Spüren, wenn die Andere nicht gut drauf war. Wenn Eine krank war, fühlte sich auch die Andere nicht gut und oft hatten sie den gleichen Gedanken zur selben Zeit. Leider war Viola kein Kerl, den man heiraten und liebhaben konnte. So wie Ingo. Früher hatte er diese Fähigkeit auch gehabt, zu spüren, wenn es ihr nicht gut ging, aber das war mindestens so lange her, wie der Urlaub.
Vielleicht würde eine Veränderung der Wohnung auch eine Veränderung in ihren Wahrnehmungen bedeuten und sie könnte mit Ingo wieder glücklich werden. Doch genug von vergangenen Zeiten geträumt. Vanessa sah sich im Flur um. Wie der überhaupt aussah! Das Regal neben dem Spiegel war verkratzt, weil Ingo immer seinen Schlüsselbund dort hin warf. Es war eine Unart von ihm, seine Schlüssel dort hinzuschmeißen. Immer wieder ärgerte sie sich darüber. Doch jetzt konnte er sie ordentlich aufhängen, damit es aufgeräumt aussah. Das Schlüsselbrettchen passte perfekt in den Flur. Es war nicht zu groß, aber unübersehbar. Seine weiß lackierte Oberfläche harmonierte mit der weißen Haustür und der lindgrünen Wandfarbe. Die Chromhaken passten gut zur Deckenlampe, die in hellem Silber strahlte. Am liebsten würde Vanessa noch einen neuen Schuhabstreifer kaufen und einen modernen, schmalen Schuhschrank in Weißlack. Warum eigentlich nicht? Der Flur hatte, seit sie hier eingezogen waren, nichts Frisches mehr an Einrichtungsgegenständen gesehen. Wenn sie genau hinsah, konnte sie die abgewetzten Stellen an der Wand erkennen, wo ihre Schuhe standen und wo Ingo und sie die Jacken und Mäntel hingehängt hatten. Die Wand sah abgenutzt aus. Sie müsste gestrichen werden. Eine neue Garderobe wäre auch nicht schlecht. Vielleicht mit einer ebenso weißglänzenden Oberfläche. In Gedanken malte sie sich einen hübschen Eingangsbereich aus, mit einer anderen Farbe und einem neuen Design. Sie wollte, dass die Dinge farblich gut aufeinander abgestimmt und ausgewählt wurden. Die Bilder ließen sich bei dieser Gelegenheit bestimmt in einen passenderen Rahmen bringen. Neues zu schaffen gäbe ihr mit Sicherheit ein gutes Gefühl. Eins, dass sie glauben ließe, dass es ihr gehörte. Ihr allein, denn sie hatte es entworfen und eingerichtet. Was Ingo wohl dazu sagen würde? Zustimmen oder meckern? Bisher hatte er ihr eine freie Hand gelassen, wenn es darum ging, den Haushalt zu führen und hier und da einen Gegenstand zu kaufen. Aber diesmal ging es um etwas Größeres. Freute er sich über eine kleine Veränderung? Oder lehnte er es ab? Vielleicht war es ihm egal, weil er sowieso keine Zeit für sein Zuhause hatte? Leider würde es nichts daran ändern, dass er die Zeit nicht mehr aufbrachte, es könnte jedoch wenigstens seine Stimmung aufhellen. In letzter Zeit sah er abgespannt und bedrückt aus. Ach, wenn er doch mit aussuchen könnte, was die Möbel anging. Früher waren sie oft shoppen gegangen und hatten gemeinsam Sachen ausgesucht. Sehnsuchtsvoll dachte Vanessa an die Zeit zurück, in der sie zusammen gezogen waren und alles miteinander gekauft hatten. Aber heute war alles ganz anders.
Sie seufzte und beschloss trotzdem den Flur in einem leichten, sonnigen und freundlichen Gelb zu streichen. Es würde einen sommerlichen Flair in den Flur bringen und schlechte Launen vertreiben.
Den Haushalt hatte sie für heute erledigt. Bis Ingo nach Hause käme, hatte sie noch genügend Zeit, sich in einem Einrichtungshaus umzusehen. Sie wollte nicht bis morgen warten und musste ihre sprudelnden Ideen in ihrem Kopf ausschöpfen und zu realisieren versuchen. Im Möbelgeschäft gäbe es sicher tausend Möglichkeiten … Sie stieg in ihre Sportschuhe, schwang ihre dünne Sommerjacke über die Schultern und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Nicht, dass sich noch Bohrstaub in ihrem Gesicht befände. Nein, sie hatte sauber gearbeitet, in ihren blonden Haaren fand sich kein Stäubchen. Sie fuhr mit der linken Hand dem Scheitel entgegen gesetzt durch das Haar und schüttelte ihre Frisur auf, so dass die langen, blonden Haare schön über ihre Schultern fielen. Sie griff nach ihren Schlüsseln, nahm den Geldbeutel an sich und verschwand durch die Haustür.
»Mareike, bringen Sie mir bitte die Akte Greiner gegen Autohaus Ballhoff.« Ingo hielt den Zeigefinger auf die Taste der veralteten Sprechanlage, die ihn mit der Dame im Vorzimmer verband.
»Ist sie beziffert?«, kam prompt die Antwort.
»Nein, ich hatte keine Zeit, Sie müssen nach dem Namen suchen.«
»Ach, Herr Hohenstein! Sie sollten sich angewöhnen, fortlaufende Nummern für ihre Fälle auf die Ordner zu schreiben.«
»Jaja, Sorry, das habe ich nicht mehr geschafft.«
Ingo wandte sich erneut seiner Arbeit am PC zu. Er musste noch mehrere Anschreiben erledigen und einige wichtige Dokumente ausdrucken. Kurze Zeit später klopfte es, die Tür ging auf und Mareike trat mit einem dicken Leitzordner ins Büro. Sie schob den Anrufbeantworter beiseite und legte die Akte auf einen Beistelltisch.
»Herr Hohenstein, Sie haben ja immer noch keinen Platz gemacht.« Sie verzog den Mund und schüttelte leicht den Kopf. Anscheinend verstand sie nicht, dass Ingo zu viel anderes zu tun hatte, als auch noch seinen Schreibtisch aufzuräumen.
»Danke, Mareike«, antwortete er kurz und knapp zurück und machte eine wedelnde Handbewegung. »Sie können gehen.«
»Tsss«, hörte er sie zischeln, bevor sie die Bürotür hinter sich schloss.
Sie hatte ja Recht, aber Ingo konnte kaum noch dagegen ankommen. Jeglicher Papierkram stapelte sich mit der Zeit zu einem unordentlichen Haufen, so dass auf dem Schreibtisch keine Ablagemöglichkeit mehr war. Mitunter suchte er Dinge, die er selbst nach dem Umschichten der Stapel nicht mehr fand. Ja, er war schlampig geworden in letzter Zeit. Mit der gestrigen Post kam ein Antrag auf Verteidigung wegen eines Schadens an einem Sportauto. Es gab keine Verletzten. Er schüttelte missbilligend den Kopf. Kleinigkeiten wie diese machten die meiste Arbeit. Akten. Gespräche. Gerichtstermine. Botenfahrten. Der Stress ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Wie schön wäre es, wenn er sich am Wochenende ausruhen könnte, wie andere Leute es auch taten. Wie gern würde er mit Vanessa etwas Schönes unternehmen. Doch sein Arbeitspensum ließ ihm keine Ruhe. Er nahm wöchentlich viel Arbeit mit nach Hause, die er nicht aufschieben konnte.
Ingo seufzte und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. Er betrachtete den Fotorahmen mit dem Bild seiner Frau. Vanessa… Ihr schönes, langes Haar umrahmte ihr Gesicht. Auf dem Foto sah sie über die rechte Schulter, schien ihr Kinn darauf abgestützt zu haben und die blonden Haare fügten sich der Körperdrehung, lagen harmonisch in einem geschwungenen Bogen über der Schulter. Ihre wunderschönen Augen sahen ihn direkt an. Der Hintergrund war schwarz, sodass ihr Gesicht, die goldenen Haare und die strahlend blauen Augen besonders gut zur Geltung kamen. Sie hatte ihm das rot gerahmte Foto zu ihrem gemeinsamen ersten Hochzeitstag geschenkt und nun stand es auf seinem Bürotisch. So hatte er seine Frau immer im Blick. Er lächelte das Bild an, nahm es, streichelte leicht über das Gesicht hinter der Glasscheibe und setzte einen angedeuteten Kuss darauf.
Viola schleuderte ihren kastanienbraunen Wuschelkopf im Takt der Musik hoch und runter. Sie tanzte durch ihr Wohnzimmer und jauchzte voller Lebensfreude.
»Ach wie schön ist es, frei und ungebunden zu sein. Ich kann tun was ich will. Niemand fragt, warum ich gehe und wie lange ich weg bleibe. Und das Beste ist, dass keiner wissen will, wohin ich gehe«, sagte sie zu sich und grinste schelmisch. Sie hatte neongrünen Kopfhörer auf und stellte die Musik lauter. Ihr Lieblingssong erklang. Sie tanzte zu den heißen Rhythmen. Niemand sah ihr beim Herumhopsen zu. Sie war allein und freute sich darüber, dass sie seit ein paar Monaten ohne festen Partner war. Ihre neu gewonnene Freiheit war das Beste, was ihr jemals passiert war und ein Grund zur Dauerfreude. Sie wollte sie genießen und viele verschiedene Männer kennen lernen. Ihre Charaktere erforschen, ihr Verhalten und natürlich wie sie im Bett waren. Sie wollte sich austoben und sich die Männer schnappen, die ihr gefielen. Die Welt stand ihr offen und sie beschloss, alles mitzunehmen, was sich ihr an Gelegenheit bot. Es mochte in den Augen anderer schlampig und sexistisch sein, doch Viola war das egal. Sie war ungebunden und plante, alles auskosten, ohne sich zu binden. Sie war der festen Meinung, sie als freie Frau dürfe das Spiel bis in die Unendlichkeit treiben.
Das Lied war zu Ende. Sie zog den Kopfhörer ab und ließ sich erschöpft in den Sessel fallen. Sie zählte in Gedanken die Männer, die sie seit dem vernascht hatte. Bisher waren es vier. Allesamt kannte sie aus dem Internet. Was täte sie nur ohne die virtuelle Welt? Vier kurze Begegnungen mit heißem Sex und ohne Verpflichtungen, was könnte es Schöneres geben? Vier Kerle waren doch ein guter Schnitt. In jedem Monat einen. Es wurde Zeit, dass sie sich nach jemand Neuem umsah.
Heute hatte sie beschlossen, nach Feierabend in die Stadt zu fahren. Auf dem Weg zur Arbeit waren ihr bunte Plakate aufgefallen. Ein Rummelplatz wurde aufgebaut, wie jedes Jahr um diese Zeit. Sie wollte dabei zusehen. Vielleicht ergäbe sich eine Gelegenheit. Sicher kämen viele Schaulustige, um zu sehen, wie die Fahrgeschäfte aufgebaut wurden. Doch vorher hatte sie noch im Laden zu tun. Sie zog ihren Lieblingsoverall an, den mit der Glitzerkante an dem weit ausgeschnittenen Dekolleté. Sie wusste, wie das petrolfarbene Kleidungsstück wirkte und dass ihr männliche Kunden ständig in den Ausschnitt sahen. Sie war darüber äußerst amüsiert. Aufdringlich? Anzüglich? Nein, sie empfand dieses Kleidungsstück als einen Blickfang für die männliche Kundschaft. Sie hatte den Eindruck, dass es verkaufsfördernd war, in dieser Aufmachung im Laden zu stehen. Sie schmunzelte bei diesem Gedanken. Ihr Körper war mit dem wallenden, dunklen Overall verdeckt und zeigte sonst nichts außer ihrer schlanken Taille, die sie mit einem Glitzergürtel betonte. Und natürlich erlaubte sie augenzwinkernd jedem einen kleinen Einblick auf ihre üppige Oberweite.
Viola arbeitete in einer Accessoire-Boutique am Anfang der Einkaufsstraße. Als sie das Geschäft betrat, war ihr Kollege gerade dabei, Kartons aufzuschneiden.
»Hallo, Juppi«, grüßte sie. Juppi sah auf und schnitt weiter, ohne hinzusehen. So ritzte er einen Karton an der falschen Stelle auf und stach sich mit der Messerspitze in den Finger der anderen Hand.
»Scheiße«, schimpfte er und steckte den verletzten Finger in den Mund.
»Na wenn das mal keine herzliche Begrüßung ist.« Viola lachte, als sie ihren Kollegen am Boden knien sah. Das Cuttermesser in der Hand haltend, sah er sie von unten herauf an, wie ein Dackel, der um Futter bettelt.
»Hast du dich verletzt?«
»Nein, nicht der Rede wert. Hab nicht aufgepasst. Mist.« Während er sich erhob, lutschte er noch mal an seinem Finger. »Heute ist eine Sendung Handtaschen gekommen.«
»Lass mal sehen.« Viola nahm den Karton, der an der falschen Stelle einen Schnitt abbekommen hatte. Knallbunte Taschen waren darin. Ein ganzes Sortiment in verschiedenen Mustern und Farben. Karierte und geblümte. Pastellfarbige und Bunte. Den Schnitt hatte die leuchtend rote Tasche abbekommen. An einer unauffälligen Stelle am Boden und zwei Zentimeter lang. Es war kein großer Schaden, aber sie wusste, dass die Leute diese Tasche stehen lassen würden. Die Kundschaft verlangte einwandfreie Ware. Sie überlegte, ob sie die Tasche beim Hersteller als Transportschaden reklamieren sollte, oder sie abschreiben und wegwerfen. Da fiel ihr ihre Schwester Vanessa ein. Rot war ihre Lieblingsfarbe, das wusste Viola genau, schließlich waren sie Zwillinge. Für die Farbe Rot hatte Viola genau so viel übrig, wie Vanessa. Sie waren wie beste Freundinnen. Sie waren in der gleichen Schulklasse gewesen und hatten immer gemeinsam gelernt. Vanessas Federmappe war damals genauso rot, wie die Sportschuhe, die sie manchmal trug. Bestimmt würde sie ihr gefallen, also deponierte sie das ferrari-rote, leuchtende Täschchen unter der Verkaufstheke zwischen den Ordnern.
Sie griff zum Geschäftstelefon und rief ihre Schwester an.
»Hallo, Vanessa. Was machst du gerade, bist du zuhause?«
»Grüß dich Viola. Ich bin unterwegs. Ich plane, unseren Flur zu renovieren. Was gibt’s denn?«
»Den Flur renovieren? Bist du sicher, dass du das kannst?«, veralberte Viola ihre Schwester. Die schüchterne und zurückgezogene Vanessa wagte eine Renovierung?
»Wenn er fertig ist, zeige ich ihn dir. Also was gibt’s?«
»Komm bitte in mein Geschäft, ich habe dir etwas Feines zurückgelegt.«
»Ach ja? Was ist es denn?«, Vanessas Neugier war durch das Telefon zu spüren.
»Das sag ich dir noch nicht. Es ist eine Überraschung und ich weiß, dass es dir gefällt.«
»Mach es doch nicht so spannend«, erwiderte Vanessa.
»Komm einfach bei mir vorbei, ok? Wann hast du Zeit?«
»Na gut. Ich komme morgen am Nachmittag zu dir. Heute muss ich mir Möbel anschauen.«
»Da würde ich am liebsten mitgehen, aber ich habe hier noch viel zu tun. Bis morgen Schwesterlein.«
Viola legte auf und gesellte sich zu ihrem Kollegen, um weitere Pakete zu öffnen und die Geschenkartikel ins Regal einzusortieren.
»Was machst du heute Nachmittag, bei dem schönen Wetter?« fragte sie Juppi.
»Ich werde mein Auto waschen und mit meiner Familie ins Grüne fahren.«
»Wie schön«, erwiderte sie und war froh, außer ihrer Schwester keine Familie zu haben, an der sie sich anzuhängen hatte, wenn es der Anstand gebot und wenn Geburtstagsfeiern stattfanden. Sie würde lieber für alle Zeit alleine und unabhängig bleiben, anstatt sich nochmal fest zu binden. Eine solche Familie würde sie nur erdrücken und sie ihrer Freiheit berauben. Sie mochte keine Einschränkungen. Schon gar nicht, wenn es um ihre Lebensführung ging.
»Und du?«, fragte Juppi zurück.
»In der Stadt wird ein Jahrmarkt aufgebaut. Der soll dieses Jahr riesengroß werden und mehrere Attraktionen bieten. Mit einer großen Loopingachterbahn, einem Riesenrad und anderen tollen Sachen. Das muss ich sehen.«
Charly war mit den Schaustellern unterwegs und Chefmonteur der Loopingbahn. Die Schule hatte er nicht bis zum Abschluss geschafft. Damals hatte er sie abgebrochen, weil er dem verlockenden Angebot »Mitreisende gesucht« gefolgt war. Es bedeutete ihm ein Leben in Freiheit und es war ihm durchaus klar, dass er seinen Wohnstandort ständig wechseln musste. Gut, die ganze Welt konnte er dadurch nicht bereisen, aber es brachte ihm immerhin ein Pendelleben zwischen den großen, deutschen Städten ein. Zehn Jahre war das nun her. Heute war er Verantwortlicher für den Aufbau. Mit seinen sechsundzwanzig Jahren war er im besten Alter und ihm war bewusst, welche Wirkung er auf die Damenwelt hatte. Schließlich arbeitete er täglich an der frischen Luft und hatte einen braun gebrannten Körper. Oft wurde er angesprochen, wo er im Urlaub gewesen wäre. Seine Arbeit war ein echter Knochenjob, der ihm allerdings einen gestählten und muskulösen Körper beschert hatte. Die Breite seiner Schultern war mit den Jahren gewachsen. So ein Auf- und Abbau prägte das Aussehen und machte ihn zu einem kraftvollen Burschen, der wusste wie er auf seine Umgebung wirkte.
Er setzte seinen gelben Sicherheitshelm auf und sah sich um. Seit einigen Tagen brachten Transporter und Lastkraftwägen mit Überlänge die langen Metallstreben der transportfähigen Loopingachterbahn. Fünfzig riesige Metallcontainer waren auf dem Stellplatz abgeladen worden. Alle waren nummeriert und aufs Peinlichste geordnet. In einem befanden sich die Streben, Stützen und überdimensionalen Metallgelenke. Tomasz, einer seiner polnischen Helfer, transportierte gerade Unmengen von Fetteimern in einer Schubkarre zum Aufbauplatz. Sie wurden zum Schmieren der beweglichen Stahlteile gebraucht.
Metallenes Hämmern erscholl über den Platz. Hebemaschinen quietschten und Männer riefen sich auf Polnisch etwas zu. Sie begannen, das Fundament mit den Tragstreben zu verbinden. Charly trat hinzu, vermaß den Ausgangspunkt und prüfte mit der elektronischen Wasserwaage die Genauigkeit. Alles musste exakt sitzen, denn die Tragfähigkeit des Grundgerüstes entschied über die Sicherheit des nachfolgenden Aufbaus. Er holte aus, bückte sich, schlug mit dem großen Hammer gegen den Stahl. Anschließend prüfte er die Passgenauigkeit der übergroßen Muttern. Dann nickte er den Arbeitern zu und streckte den Arm aus, damit alle seinen erhobenen Daumen erkennen konnten. Alles war gut, der Aufbau des Riesenloopings konnte beginnen. Charly nahm sein Handy aus der Hosentasche und rief den Kranführer an, dass er mit dem Stellen der Metallteile beginnen konnte. Er setzte sich wartend auf das Rohrgerüst und versuchte die Temperatur einzuschätzen. Es war ziemlich heiß für einen Frühsommer, gefühlte dreißig Grad. Er schwitzte und spürte den Schweiß auf seiner Haut herunterlaufen. Sein Muskelshirt war am Rücken durchnässt und die Hitze hatte ihm Schweißperlen auf die Stirn getrieben. Er setzte den Sicherheitshelm ab und wischte sie mit dem Handrücken fort. Er öffnete eine Flasche Wasser. Er setzte sie an und trank einen großen Schluck, bevor er sich den Rest über den Kopf goss. Wie erfrischend das war! Er genoss es, wie das Wasser kühlend in seinen Nacken und über das Gesicht lief. Es floss vom Kinn herab und tropfte auf seine Brust. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund und wischte sich, die Flasche in der Hand haltend, das Kinn ab. Dann hörte er den Kran, wie er über die unebene Wiese heran rumpelte. Charly blinzelte dem Sonnenlicht entgegen.
Er dirigierte den Kran in die Richtung, in die er die Schwerlasten drehen musste, damit sie millimetergenau an ihrem Bestimmungsort befestigt werden konnten.
»Hey, da oben! Den Ring neben der Halterung fest montieren!«, rief er Tomasz zu.
»Jou!«, schrie der zurück.
»Und steck das lange Ding tief rein!« Ein dreckiges Lachen erklang von oben. Tomasz war damit beschäftigt, die tonnenschweren Rundstahlstreben zusammenzusetzen und blickte frech grinsend auf ihn.
»Bis zum Anschlag!«, befahl Charly und musste jetzt selber lachen.
»Schon gemacht.« Die Stimme des Polen klang rau, wie die eines Seemanns. Wenn Charly ihn betrachtete, sah er auch genauso aus, nur dass er an einer Stahlstrebe hing und nicht am Mast eines Segelschiffes.
»In drei Tagen ist Sicherheitsabnahme. Ihr müsst euch beeilen!«, rief Charly zurück und machte sich daran, die erste Etage der Rohrverbindungen zu erklimmen. Bald würde die Loopingbahn stehen.
Irgendwo hatte jemand ein Radio angestellt. Musikschwaden wehten über den Platz. Charly nahm einen Stahlträger in Empfang, den der Kran vorsichtig in seine Richtung drehte und koppelte das tonnenschwere Teil mit Hilfe eines Riesenwerkzeugs mit einem anderen Metallteil zusammen. Er setzte seine ganze Muskelkraft ein, um positionsgenau zu hantieren. Ein dumpfer, metallischer Klang und ein anschließendes Klicken verrieten ihm, dass die Verbindung eingerastet war und richtig saß. Er ließ seinen Blick über das Kirmesgebiet schweifen. Von hier aus konnte er über den ganzen Platz sehen. An den Absperrungen standen Schaulustige, die den Fortgang des Aufbaus beobachteten. Eine junge Frau drängte sich nach vorne. Sie hatte braune, wirr gelockte Haare und trug einen dunklen Overall. Sie schien interessiert an dem ganzen Treiben. Plötzlich blickte sie ihn an. Er sah sich um. Nein, es war niemand anderer in seiner Nähe, also fixierte sie sicher ihn. Er kannte diesen Beobachtungsblick der Frauen. Er wusste, was diese Damen von ihm wollten. Und nur allzu gern ließ er sich darauf ein, denn in jeder Stadt gab es mindestens eine, mit der er sich vergnügte.