Loe raamatut: «Lehrbuch ADHS»
utb 3684 |
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Prof. Dr. Caterina Gawrilow ist Professorin für Schulpsychologie am Fachbereich Psychologie der Eberhard Karls Universität Tübingen. Weitere Informationen finden Sie unter www.pi.uni-tuebingen.de/arbeitsbereiche/schulpsychologie.
Von der Autorin außerdem im Ernst Reinhardt Verlag erschienen: „ADHS“ (UTB-Profile 978-3-8252-3289-4).
Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <https://dnb.d-nb.de> abrufbar.
UTB-Band-Nr.: 3684
ISBN 978-3-8252-4614-3 (Print)
ISBN 978-3-8463-4614-3 (EPUB)
© 2016 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München
Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Printed in Germany
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Covermotiv: Vitali Konstantinov, Marburg
Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach
Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de
Inhalt
Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuchs
Vorwort zur 2. Auflage
I Geschichte, Symptome, Abgrenzung
1 Geschichte der ADHS
1.1 Geschichte der ADHS
1.2 Ist ADHS eine Modediagnose?
2 Kernsymptome, Stärken und Subtypen der ADHS
2.1 Kernsymptome
2.1.1 Unaufmerksamkeit
2.1.2 Hyperaktivität
2.1.3 Impulsivität
2.2 Stärken und Ressourcen der Kinder mit ADHS
2.3 Diagnosesysteme, Subtypen und Erscheinungsbilder
2.3.1 ADHS-Subtypen nach dem DSM
2.3.2 ADHS-Subtypen nach der ICD
2.4 Spezifische Kriterien für eine Diagnose der ADHS im Erwachsenenalter
3 Komorbide Störungen
3.1 Externalisierende Störungen
3.2 Internalisierende Störungen
3.3 Lern- und Leistungsstörungen
3.4 Störungen, die von Beginn an parallel zur ADHS vorliegen vs. Störungen, die sich im Laufe einer ADHS entwickeln können
3.5 Komorbide Störungen im Erwachsenenalter
4 Abgrenzung der ADHS von anderen Störungen und von einer alterstypischen Entwicklung
4.1 Abgrenzung der ADHS von anderen Störungen
4.1.1 Differentialdiagnosen im Kindesalter
4.1.2 Differentialdiagnosen im Erwachsenenalter
4.2 Abgrenzung der ADHS von einer alterstypischen Entwicklung
4.2.1 Der Einfluss des relativen Lebensalters
5 Häufigkeit der ADHS
5.1 Aktuelle deutsche Daten zur Häufigkeit von ADHS
5.2 Vergleich der Prävalenz der ADHS in Deutschland und in anderen Ländern
5.3 Warum ist die Frage nach der weltweiten Prävalenz der ADHS wichtig?
6 Geschlechterunterschiede
6.1 Untersuchungen zur Geschlechterdiskrepanz bei der ADHS
6.2 Ursachen für die Geschlechterdiskrepanz bei der ADHS
6.3 Schlussfolgerungen für die Praxis: Anpassung der Diagnostik, der Diagnosekriterien und der Therapie
II Ursachen, Entwicklung
7 Ursachen der ADHS
7.1 Übersicht rezenter Ätiologie-Modelle und -Theorien
7.2 Genetik und ADHS
7.3 Psychosoziale Faktoren
7.4 Umwelteinflüsse und ADHS
7.4.1 Weitere Umweltursachen
8 Exekutive Funktionen und Selbstregulationsfähigkeiten bei der ADHS
8.1 Selbstregulation bei der ADHS
8.2 Attributionen bei Kindern mit ADHS
8.3 Was sind exekutive Funktionen?
8.4 Exekutive Funktionen in der ADHS-Forschung
8.4.1 Inhibitionsleistungen von Kindern mit ADHS
8.4.2 Shifting-Leistungen bei Kindern mit ADHS
8.4.3 Das Arbeitsgedächtnis von Kindern mit ADHS
8.5 Effektivität von Wenn-Dann-Plänen als Selbstregulationsstrategie
8.5.1 Einfluss von Wenn-Dann-Plänen auf die Reaktionsinhibition bei Kindern mit ADHS
8.5.2 Einfluss von Wenn-Dann-Plänen auf den Belohnungsaufschub bei Kindern mit ADHS
8.5.3 Einfluss von Wenn-Dann-Plänen auf den Aufgabenwechsel bei Kindern mit ADHS
8.5.4 Einfluss von Wenn-Dann-Plänen auf die Unterdrückung ablenkender Reize bei Kindern mit ADHS
9 Entwicklung der ADHS
9.1 Kleinkindalter
9.2 Vorschulalter
9.3 Grundschulalter
9.4 Pubertät
9.5 Längsschnittstudien zur Entwicklung der ADHS
9.5.1 Längsschnittstudien zur Vorhersagbarkeit der ADHS
9.5.2 Risiko- und Schutzfaktoren
10 ADHS im Erwachsenenalter
10.1 Schwierigkeiten bei einer ADHS-Diagnose im Erwachsenenalter
10.2 Neuropsychologie der ADHS im Erwachsenenalter
10.2.1 Exekutive Funktionen bei Erwachsenen mit ADHS
10.2.2 Multitasking bei Erwachsenen mit ADHS
10.2.3 Kompensationsmechanismen bei der ADHS im Erwachsenenalter
10.3 ADHS im Berufsleben
III Diagnostik, Intervention, Förderung
11 Diagnostik der ADHS
11.1 Diagnostik der ADHS bei Kindern und Jugendlichen
11.1.1 Spezifika einer ADHS-Diagnostik im Kleinkind- und Vorschulalter
11.1.2 Spezifika einer ADHS-Diagnostik im Grundschulalter
11.1.3 Spezifika einer ADHS-Diagnostik im Jugendalter
11.2 Diagnostik der ADHS im Erwachsenenalter
11.3 Timing der ADHS-Diagnose
12 Psychologische und medizinische Interventionen für Kinder und Jugendliche mit ADHS
12.1 Behaviorale Interventionen in der Schule
12.2 Selbstregulations-, Selbstmanagement- und Selbstinstruktionstrainings
12.2.1 Selbstregulationsstrategien im Unterricht
12.3 Trainingsprogramme zur Behandlung von ADHS bei Kindern und Jugendlichen
12.3.1 Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten: THOP
12.3.2 Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern
12.3.3 ADHS in der Schule: Übungsprogramm für Lehrer
12.3.4 Überaktive Kinder im Unterricht
12.4 Medikamentöse Therapie
12.4.1 Methylphenidat (MPH)
12.4.2 Atomoxetin
13 Interventionen für den Alltag von Kindern und Jugendlichen mit ADHS
13.1 Strukturierende Maßnahmen
13.1.1 Situationen mit hohen Anforderungen an die Eltern
13.1.2 Situationen mit hohen Anforderungen an die Lehrkräfte
13.1.3 Strukturierende Maßnahmen für Kinder mit ADHS
13.2 Selbstregulation im Alltag unterstützen
13.3 Zusammenarbeit mit Lehrkräften
13.4 Selbsthilfegruppen
13.5 Lob
13.6 Sport
13.7 Natur
14 Vergleichsstudien zu Therapien der ADHS im Kindesalter
14.1 MTA-Studie
14.1.1 Ergebnisse der MTA-Studie
14.2 Realität der ADHS-Therapie von Kindern in Deutschland
15 Interventionen für die ADHS im Erwachsenenalter
15.1 Das Kölner Training
15.1.1 Ablauf des Kölner Trainings
15.1.2 Effektivität des Kölner Trainings
15.2 ADHS-Therapievergleichsstudien im Erwachsenenalter
Glossar
Literatur
Stichwortverzeichnis
Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuchs
Zur schnelleren Orientierung wurden in den Randspalten Piktogramme benutzt, die folgende Bedeutung haben:
Literaturempfehlung | |
Internetquelle | |
Begriffsklärung, Definition | |
(Fall-)Beispiel | |
Studie | |
Merksatz | |
Vertiefungsfragen am Ende der Kapitel |
Vorwort zur 2. Auflage
Knapp 4 Jahre sind seit dem Verfassen des Vorwortes für die erste Auflage des Lehrbuchs ADHS vergangen und es freut mich als Autorin natürlich sehr, dass der Erfolg des Buchs nun zu einer zweiten Auflage führt. Selbstverständlich habe ich diese Chance genutzt, um kleinere Fehlerchen auszumerzen und neue Inhalte (wie z. B. die Beschreibung der ADHS nach DSM-5) einzufügen. Geändert wurden außerdem die Vertiefungsfragen jeweils zum Ende der Kapitel, welche nun tatsächliche Vertiefungsfragen sind, die zum Nachdenken und Diskutieren anregen sollen. Ergänzt wurden weiterhin zwei Exkurse, die aus der Arbeit der Postdoktoranden Johanna Schmid und Jan Kühnhausen am Arbeitsbereich Schulpsychologie der Eberhard Karls Universität Tübingen entstanden sind. Für die wertvollen Impulse, die zur Neuauflage beigetragen haben, danke ich Hanna und Jan ebenso wie den weiteren Mitgliedern des Arbeitsbereichs, den ich seit 2013 als Professorin für Schulpsychologie leite: Friederike Blume, Petra Bugl, Rosemarie Croizier, Christiane Fiege, Leona Hellwig, Parvin Nemati und Merle Reuter sowie Ulrike Schwarz, für das Korrekturlesen.
Tübingen, Januar 2016 | Caterina Gawrilow |
Etwa 5 % der deutschen Kinder und Jugendlichen sind von ADHS betroffen, was die ADHS zu einer der häufigsten Störungen im Kindes- und Jugendalter macht. Nicht nur aufgrund dieser Häufigkeit, sondern auch, weil man mittlerweile weiß, dass sich die ADHS nicht „auswächst“, sondern im Erwachsenenalter bestehen bleibt, wird dieses Störungsbild erforscht und diskutiert wie keine andere psychische Störung. Dabei finden auch kontroverse Diskussionen statt, die sich um die Behandlungsmethoden, den Umgang mit betroffenen Kindern im Schulalltag bis hin zur Frage ranken, ob es ADHS überhaupt gibt oder „nur“ eine Modediagnose ist.
Dieses Lehrbuch hat das Ziel, die vielfältigen Facetten der ADHS zu beschreiben, und ist zu diesem Zweck in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt wird die Geschichte des Störungsbildes ADHS berichtet. Dabei wird deutlich, dass es die ADHS-typischen Auffälligkeiten schon immer gegeben haben muss und ADHS somit keine Modeerscheinung unserer Zeit ist. Zudem wird ausführlich auf ADHS-Symptome eingegangen. Komorbide Störungen, von der ADHS abzugrenzende Störungen sowie die Prävalenz der ADHS und eine Beschreibung des Geschlechterunterschiedes im Auftreten der ADHS dienen zur weiteren Charakterisierung des Störungsbildes. Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit den Ursachen und der Entwicklung der ADHS: Es werden unter anderem aktuelle Studien zur Untersuchung exekutiver Funktionen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit ADHS vorgestellt. Zudem werden aktuelle Längsschnittstudien berichtet, die einen genaueren Aufschluss bezüglich der Entwicklung des Störungsbildes geben können. Der dritte Abschnitt handelt schließlich von Diagnostik-, Interventions- und Fördermethoden für Betroffene. Im Fokus dieses Abschnitts stehen psychologische Interventionen, die auch im Schulalltag genutzt werden können sowie Interventionen für den Alltag von Kindern und Jugendlichen mit ADHS.
Der Schwerpunkt unserer Forschung am IDeA-Zentrum des DIPF und der Goethe-Universität in Frankfurt liegt neben den kognitiven, behavioralen, motivationalen und neuronalen Korrelaten der ADHS auf den positiven Aspekten, d. h. den Kompetenzen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit ADHS – in diesem Lehrbuch sind in verschiedenen Kapiteln diesbezügliche wissenschaftliche Untersuchungen dargestellt. Auch aktuelle Untersuchungen zu Selbsteinschätzungen und den Attributionen der von ADHS Betroffenen sind mit eingeflossen, denn es ist aus der Praxis bekannt, dass eine schlechte Selbsteinschätzung die Diagnose (vor allem im Erwachsenenalter) erschweren kann.
Die ADHS ist also ein Störungsbild, das die Gemüter bewegt. Ich hoffe, mit diesem Buch und durch die Darstellung der empirisch nachweisbaren Fakten einen Zugang zu der Thematik jenseits von Diskussionen um die Sinnhaftigkeit der Diagnose und der Medikation zu bieten.
Abschließend möchte ich mich beim Ernst-Reinhardt-Verlag und vor allem bei Frau Dipl.-Psych. Ulrike Landersdorfer für die herzliche und kompetente Betreuung während des Schreibprozesses bedanken. Steffi Diener danke ich für die Unterstützung bei der Erstellung von Literaturverzeichnis, Glossar, Tabellen und Abbildungen. Sabrina Langweiler, Lena Löffler und Julia Merkt danke ich für das sprachliche und inhaltliche Korrekturlesen des Manuskripts. Das Lehrbuch hat außerdem in einem großen Umfang von den spannenden Diskussionen mit den Doktoranden des ADHS-Projekts (Dipl.-Psych. Juliane Albert, Dipl.-Psych. Lena Guderjahn, Dipl.-Psych. Shuan-Ju Hung, Dipl.-Psych. Nadine Langguth, Dipl.-Psych. Julia Merkt, Dipl.-Psych. Tilman Reinelt, Dipl.-Psych. Andrea Wirth) profitiert.
Frankfurt, März 2012 | Caterina Gawrilow |
I Geschichte, Symptome, Abgrenzung
1 Geschichte der ADHS
Die Geschichten vom Zappelphilipp, vom Hans Guck-in-die-Luft und dem bitterbösen Friederich dürften jedem bekannt sein. Mit diesen und anderen Geschichten aus dem „Struwwelpeter“ hat Heinrich Hoffmann, ein Frankfurter Nervenarzt, schon im Jahr 1845 Kinder beschrieben, die heutzutage mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert werden könnten. Bereits zuvor und in der Folge haben sich Mediziner und Psychologen eingehend mit der Thematik der unaufmerksamen, unkontrollierbaren, impulsiven und motorisch sehr aktiven Kinder beschäftigt.
1.1 Geschichte der ADHS
Sir George Frederick Still
Beispielhaft soll hier der englische Kinderarzt Sir George Frederick Still (1868–1941) zitiert werden. Still hat im Jahr 1902 im Rahmen der Goulstonian Lectures des „Royal College of Physicians“ in London über „Nicht normale psychische Bedingungen bei Kindern“ („Some Abnormal Psychical Conditions in Children“) gesprochen. Diese Vorlesungen wurden etwas später im Lancet, einer weltweit bekannten und führenden medizinischen Fachzeitschrift, publiziert. Dort beschrieb Still 23 Kinder, die Schwierigkeiten hatten, ihre Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, mangelnde Selbstregulation, mangelnde volitionale Kompetenz und somit auch wenig inhibitorische Kontrolle (d. h. wenig Unterdrückung von impulsiven Reaktionen) zeigen, oft aggressiv sind und sich nicht disziplinieren lassen – obwohl ihre Intelligenz normal ausgeprägt war. Er schrieb:
“I would point out that a notable feature in many of these cases of moral defect without general impairment of intellect is a quite abnormal incapacity for sustained attention” (Still 2006, 133).
Still beschrieb einen 6-jährigen Jungen, der seine Aufmerksamkeit nicht für längere Zeit auf ein Spiel oder ähnliches richten könne. Dies sei besonders in der Schule sichtbar und führe dazu, dass der Junge schlechtere Leistungen als die anderen Kinder zeige, obwohl er im Gespräch den Eindruck eines aufgeweckten und klugen Jungen mache. Weiterhin berichtete er von einem 11-jährigen Jungen, der erhebliche Schulprobleme habe und nur schlecht lesen und rechnen könne. Außerdem sei dieser Junge extrem erregbar und reagiere auf kleinste Provokationen – auch gegenüber Kindern, die er gar nicht kenne – aggressiv.
An dieser Stelle wird der Zusammenhang zu der heute diagnostizierbaren ADHS sichtbar: Kinder mit ADHS-typischem Verhalten haben vor allem in der Schule Probleme (Abb. 1.1). Die Vermutung liegt nahe, dass es also unaufmerksame, impulsive und wenig selbstregulierte Kinder schon immer gegeben haben muss.
Abb. 1.1: Kinder mit ADHS haben vor allem in der Schule Schwierigkeiten (Zeichnung: Vitali Konstantinov)
Auch der Hinweis auf die normal ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten deckt sich mit unserem heutigen Wissen (Gansler et al. 1998). In einer aktuellen deutschen Studie konnte dies bestätigt werden (Geißler 2009): Die Leistungen von Kindern mit ADHS wurden mittels eines Intelligenztests mit den Leistungen von Kindern ohne ADHS verglichen. Als Intelligenztest wurde der HAWIK-III (Tewes et al. 1999) verwendet, welcher im diagnostischen Alltag recht häufig zur Untersuchung der kognitiven Leistungsfähigkeit von Kindern eingesetzt wird. Der Test versteht Intelligenz als bestehend aus mehreren, voneinander unabhängigen Einzelaspekten: dem Verbal-IQ, der die sprachliche Leistungsfähigkeit erfasst, dem Handlungs-IQ, der visuell-handlungsbezogene Leistungsfähigkeit erfasst und dem Gesamt-IQ, der sich aus den Ergebnissen des Verbal- und Handlungs-IQ zusammensetzt. Es zeigte sich, dass der Verbal-IQ der Kinder mit ADHS signifikant über der Norm lag, während der Handlungs-IQ der Kinder mit ADHS signifikant unter der Norm blieb – der Gesamt-IQ der Kinder mit ADHS unterschied sich nicht signifikant von der Normstichprobe.
William James
Auch der amerikanische Philosoph und Psychologe William James (1842–1910) beschrieb in seinem 1890 veröffentlichten Werk „The Principles of Psychology“ Menschen, die ihre Impulse nicht unterdrücken und inhibieren können. Er beobachtete bei Menschen mit diesem Persönlichkeitstyp eine gewisse Skrupellosigkeit, mangelndes Nachdenken über Konsequenzen, wenig gewissenhafte Überlegungen und folgerte, dass aus diesem Grund die Betroffenen ihre übermäßige (explosive) Energie entwickeln. Interessanterweise entwickelte James die Annahme, dass diese mangelnde Impulskontrolle nicht nur negative Folgen sondern auch Vorteile haben kann. Positiv formuliert interpretierte er die Reaktions-Schnelligkeit der Betroffenen als Schlagfertigkeit und war außerdem der Ansicht, dass viele revolutionäre Charaktere der Geschichte diesem Typus angehörten.
Alpha-Typ und Beta-Typ
Besonders spannend an den Ausführungen James’ ist die Annahme der mangelnden Impulskontrollfähigkeit als Persönlichkeitsfaktor. Dies findet sich in neuerer Zeit wieder: John M. Digman hat im Jahr 1997 einen Artikel publiziert, in welchem er darlegt, dass zwei übergeordnete Persönlichkeitsstrukturen allen bis zu diesem Zeitpunkt publizierten Persönlichkeitstypologien zugrunde liegen: der Alpha- und der Beta-Typ. Der Alpha-Typ ist aus seiner Sicht durch Zuverlässigkeit, Gewissenhaftigkeit und emotionale Stabilität, der Beta-Typ durch Extraversion und Offenheit für Neues gekennzeichnet. Untersuchungen konnten diese Zweiteilung bestätigen. So wurde beispielsweise in Genanalysen eine Bestätigung für den Beleg dieser Zweiteilung gefunden und ein Zusammenhang zu gesundheitsbewusstem Verhalten dargelegt: Menschen, die eher den Beta-Typ repräsentieren, zeigen häufiger risikobereites, gesundheitsschädliches Verhalten und Sensation Seeking (Horvath / Zuckerman 1993). Auch wenn dieses Konzept der simplen Zweiteilung von Persönlichkeiten in der Fachwelt kontrovers diskutiert wird (Ashton et al. 2009), drängt sich die Ähnlichkeit des Beta-Typs mit der ADHS-Symptomatik auf.
1.2 Ist ADHS eine Modediagnose?
Diese Frage taucht in letzter Zeit in Diskussionen um die Validität der ADHS leider immer wieder auf. Anhand der beispielhaften Darstellungen aus der Geschichte der Medizin und Psychologie muss jedoch festgestellt werden:
ADHS ist keine Modeerscheinung oder Modediagnose! In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Thematik ADHS spielt die Frage nach dem Vorhandensein bzw. Nicht-Vorhandensein der ADHS keine Rolle mehr – die Forschung konzentriert sich aktuell vielmehr auf Fragen im Zusammenhang mit ADHS-Ätiologie, -Prävention und -Intervention (Gawrilow et al. 2011d).
Vertiefungsfragen
1. Warum ist es nicht korrekt, anzunehmen, dass Kinder mit ADHS einen niedrigeren IQ-Wert in Intelligenztests erlangen als Kinder ohne ADHS?
2. Was spricht dagegen, die ADHS als Modediagnose zu bezeichnen?