Loe raamatut: «Ändere deine Welt», lehekülg 3

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5. Die Kirche Sant’Antonio

Diese Menschen laufen zu sehen, störte mein kleines Ego, sie konfrontierten mich mit meinen Widersprüchen. Ich konnte nicht länger passiv bleiben, ich musste mich einmischen, auf die Gefahr hin, meine Freiheit zu verlieren. Aber so etwas durfte niemand hinnehmen. Die Männer, das ging ja noch – sie waren erwachsen, sie konnten sich durchschlagen und zwanzig Kilometer kraxeln. Aber den Frauen, den Kindern, den Schwachen musste ich helfen, nicht unbedingt ein Quartier geben, doch sie zumindest zum Bahnhof fahren, damit sie von dort weiterkamen. In normalen Zeiten war ich ein Einzelgänger auf meinem Berg. Damit war jetzt Schluss, zu lange schon hatte mich mein Schweigen zum Komplizen gemacht.

Den letzten Anstoß gab mir der Zufall. Ich war mitten am Tag nach Ventimiglia unterwegs, um Futter für meine Hühner zu kaufen, als mir am Straßenrand eine Familie entgegenkam. Ich sagte mir: »Wenn sie auf der Rückfahrt noch da sind, halte ich an.«

Damals glaubten wir Bewohner des Royatals, es sei prinzipiell verboten, Migranten zu helfen. Zumal in Anbetracht unserer Grenznähe. Vier Jahre später hat unser Kampf das Gegenteil bewiesen.

Auf dem Rückweg holte ich die Familie ein und bot an, sie mitzunehmen. Sie willigten ein und zeigten auf den höchsten Punkt des Tals: »Paris?«

»No, Breil-sur-Roya! Train first, after Paris.«

»Ok.«

Der Mann, der sympathisch wirkte, stieg vorn ein; die Mutter kletterte mit den beiden Kindern hinten in den Kastenwagen und blieb stumm. Ich fuhr sie zum Bahnhof von Sospel, wir tauschten unsere Telefonnummern aus. Das würde nicht die Welt verändern, aber sie wollten es.

Am übernächsten Tag rief er mich an. Ich fragte: »Seid ihr gut in Paris angekommen?«

»No, in Ventimiglia.«

»Where?«

»In the church in Ventimiglia.«

Völlig überrascht rief ich: »Ok, I’m coming.«

Scheiße. Warum hatte ich das gesagt? Sollte ich wirklich hinfahren? Was könnte ich dort tun? Ich schnappte mir meine abgewetzte Lederjacke, stieg in meine Bergschuhe und rannte den steilen Abhang zu meinem C15 hinunter.

Unnötige Risiken

Ich hatte schon von dieser Kirche in Ventimiglia gehört, die seit Monaten ihre Türen für Geflüchtete öffnete, vor allem, um Frauen, Kindern und Familien einen sicheren Ort zu bieten. Vor dem verschlossenen Tor angekommen, winkte ich einem Typ, der fortging und mit einem Weißen zurückkam, einem Italiener. Durch das Gittertor erblickte ich die kleine Familie, die mir zulächelte. Der Italiener schloss ihnen das Tor auf und ließ sie hinaus.

In gebrochenem Englisch erklärten die Eltern mir ihr Missgeschick: Sie waren noch im Bahnhof von Sospel im Zug vorläufig festgenommen und dann für die Nacht aufs Kommissariat von Menton gebracht worden, ohne etwas zu essen und zu trinken zu bekommen, und dann hatte man sie auf dem Ponte San Ludovico der italienischen Polizei übergeben. Von dort waren sie nach Ventimiglia gelaufen.

Sie wollten nach Paris, um Asyl zu beantragen, denn in ihrer Heimat herrschte Krieg. Warum konnten sie den Antrag nicht an der Grenze stellen? Das wäre doch einfacher gewesen.

Wohnwagen

Der Italiener lud mich ein, die Kirche zu besichtigen. Die Flüchtlingsaufnahme befand sich im Untergeschoss: eine schöne Küche ganz aus Edelstahl, zwei große Räume, die als Schlafsäle dienten, einer für die Frauen und Familien, der andere für die unbegleiteten Kinder. Mir zog sich das Herz zusammen beim Anblick der Etagenbetten, voneinander abgetrennt durch herabhängende Decken, um ein Gefühl von Privatsphäre zu vermitteln. Unter den Blicken der hilflosen Eltern und den herumtobenden Kindern fühlte ich mich wie ein Voyeur. Aber ich wollte verstehen. Wie lange blieben die Menschen hier?

»Nur so lange, bis sie es nach Frankreich schaffen«, antwortete der Italiener. »Den meisten gelingt es nach mehreren Versuchen. Aber manche Familien werden bei der Festnahme getrennt. Und die Jugendlichen riskieren viel: Sie laufen die Autobahn entlang, verstecken sich in den Zügen, zwischen den Waggons, auf dem Dach oder in den Schaltschränken, sie klettern nachts gefährliche Gebirgspfade hinauf. Manche wohlhabenden Familien haben zwar die Mittel, einen Schleuser zu bezahlen, die meisten aber nicht, und junge Mädchen müssen sich prostituieren, um es zu schaffen.«

Ich war erstarrt, empört. Warum zwang man sie zu so riskanten Aktionen? Warum zwang man sie in die Illegalität, bevor man sie am Ende doch legalisierte? Wieder hatte mich jenes neue Gefühl gepackt, das Schuldbewusstsein, dass ich achtlos gewesen war, weit weg von dem, was in meinem Tal passierte. Mein Körper verkrampfte sich, als erfüllten ihn meine Tränen mit Schmerz. Ich hatte Angst, Angst vor mir selbst, vor den anderen, vor dieser Kirche, Angst vor den Gendarmen, Angst vor dem, was ich sah, und vor diesem Gefühl in meinem Bauch, das mich zwang zu sehen, was ich nicht sehen wollte. Meine Fragen machten mich verrückt.

Ich blieb eine Weile stumm, dann überließ ich mich dem Instinkt, der mich drängte, meine Ängste zu überwinden. Ich nahm all meinen Mut zusammen und bot der Familie an, sie zu mir nach Hause mitzunehmen. Dann würde ich bei der Bürgerinitiative Roya Citoyenne um Rat fragen. Dieser Entschluss brachte mich in Gefahr, denn es war verboten, Personen ohne gültige Aufenthaltspapiere zu befördern, selbst wenn sie später vielleicht einen legalen Status erhielten. Aber für mich war jedes Individuum, auch ohne Papiere, ein vollwertiger Mensch und hatte Anspruch auf Hilfe.

Kurz darauf war die Familie mit nichts als zwei kleinen, ein paar Kilo leichten Rucksäcken startklar. Sie konnten wieder lächeln, ihre Augen leuchteten. Der Italiener straffte sich und sah mich argwöhnisch an: »Was tust du da?«

»Nichts, wir gehen nur in der Stadt was essen.«

Er wusste, dass ich log, ließ uns aber fahren. Wir gelangten ohne Probleme nach Breil. Einige Wochen zuvor hatte ich einen Wohnwagen gekauft, als Unterkunft für die WWOOFer, jene Freiwilligen, die eine Zeitlang beim Bioanbau helfen. Mein Bruder, der sich regelmäßig Baumaterial mit dem Helikopter zu seinem hoch gelegenen Haus bringen lässt, vermittelte mir den Kontakt zu der Firma, die den Wohnwagen dann zu mir hinaufbeförderte. Die Mitglieder dieser Familie waren meine ersten Gäste.

6. Das aufgegebene Royatal

Damals wusste ich weder etwas über Asylrecht noch über Eritrea oder den Sudan. Von Libyen hatte ich dank Sarkozy und seinem Freund Gaddafi schon gehört, aber mehr auch nicht. Ich bin weder Historiker noch Geograf und schon gar kein Politiker, aber ich lebte seit dreizehn Jahren in diesem Tal, und zu sehen, wie diese Grenzen aus ihrer Asche wiederauferstanden, stellte mich vor Fragen. Wie konnte im Schengenraum die Personenfreizügigkeit derart eingeschränkt werden? Warum blieb Frankreich gegenüber dem Los dieser Menschen gleichgültig? Die Art und Weise, wie der Staat mit dieser Situation umging, erschien mir verantwortungslos. Wie konnten sie von Paris aus entscheiden, das Royatal aufzugeben und diese Migranten im Stich zu lassen?

Für unser Tal war die plötzliche Grenzschließung ein Schock, ein Angriff. Das Royatal war seit jeher eine Durchgangsstation, in der man auf Grenzen pfiff. Bestimmten Personen, die aus Südeuropa kamen und im Allgemeinen dunkelhäutig waren, war das auf einmal nicht mehr möglich.

Das Verrückteste war, dass die Grenzkontrollen im Westen des Royatals wieder eingeführt wurden, als läge es nicht in Frankreich. Das Ergebnis: Es war sehr leicht, von Ventimiglia nach Breil zu kommen, ohne kontrolliert zu werden. Doch wenn man von Breil nach Nizza wollte, sah die Sache ganz anders aus. War man erst mal drin, erwies sich das Royatal als Fischreuse, aus der man praktisch nicht mehr entkommen konnte.

Ich konnte den Blick der Kinder in der Kirche nicht vergessen. Die Worte des Italieners klangen mir noch in den Ohren: auseinandergerissene Familien, Kinder auf der Autobahn, Mädchen in den Autos ihrer Schleuser vergewaltigt. Mein Kopf brannte. Wie ließ sich verhindern, dass diese Kids ihr Leben riskierten? Es ging nicht mehr an, sich zu sagen, alles sei in Ordnung, während fünfzehnjährige Mädchen »in Kauf nahmen«, vergewaltigt zu werden, um es nach Nizza oder Marseille zu schaffen. Kinder konnte man unmöglich so behandeln.

Die Wochen vergingen, mir brannte immer noch der Kopf. Wie weit sollte ich mich engagieren? Welche Risiken eingehen? Im Allgemeinen verfahre ich mit meinen Wünschen und Plänen wie mit allem, was mir lieb ist, mit Leidenschaft und Beharrlichkeit, was eine Stärke und zugleich eine Schwäche ist. Wenn ich etwas mache, mache ich es ganz. Und jetzt, ganz und gar unentschlossen, war ich außerstande, eine endgültige Entscheidung zu treffen. Wenn ich gewusst hätte, dass das Beherbergen dieser beiden kleinen Familien mich derart verstören würde …

Ungehorsam sein

Ursprünglich bin ich alles andere als ein Aktivist. Ich gehe nie auf Demos, Menschenmengen machen mir Angst. Meine einzige Demo war die 2002 gegen die Kandidatur von Jean-Marie Le Pen in der Stichwahl um die Präsidentschaft. 2015 hatte mich Suzel Prio von der Bürgerinitiative Roya Citoyenne gebeten, ein paar geflüchtete junge Männer aufzunehmen, aber ich wollte nicht. Ich hatte schon einmal Tunesiern geholfen, die es infolge des Arabischen Frühlings nach Europa verschlagen hatte, aber nicht aus politischen Gründen. Ich fand es mühsam und nicht sehr spaßig, sich politisch zu engagieren. Ich zog die heiteren Aspekte des Lebens vor und liebte die Menschheit nicht genug, um sie retten zu wollen.

Trotz meiner anarchistischen Seite vertraute ich in gewisser Weise auf den Staat, wie so viele Leute. Der aber hatte ein zynisches Spiel eingeführt, das Menschen zwingt, sich in Gefahr zu begeben. Die Spielregel: Man muss leiden, um nach Frankreich einzureisen, sogar sein Leben riskieren. Dieses morbide Kalkül zwingt aus Respekt vor dem Leben geradezu zum Ungehorsam. Solange man die Exilierten nicht kennt, erschrickt man vielleicht wie ich, als ich sie in Menton auf den Felsen sah und beunruhigt war. In dieser Situation hat man mehrere Möglichkeiten. Man wird aktiv und fühlt sich besser; man setzt Scheuklappen auf, wie ich es anfangs noch konnte; oder man weist diese Menschen zurück wie Feinde, Eindringlinge, eine Gefahr.

Sähen diese Menschen aus wie wir, gäbe es mehr Empathie. Im vorliegenden Fall jedoch fällt sie uns schwer. Die Geflüchteten teilen weder Sprache noch Kultur mit uns. Man kann sich nicht mit ihnen identifizieren, solange man sie nicht kennengelernt hat. Es ist wie mit den Obdachlosen. Wer spricht schon mit ihnen? Sehr wenige. Aber angenommen, blonde Mädchen mit blauen Augen würden ohne ihre Eltern durchs Royatal irren – wie könnte die Justiz jemanden verurteilen, der diesen Goldlöckchen Beistand leistet? Eher noch würde sie den Schuft anklagen, der einfach weiterfährt.

Wenn das Recht mit Füßen getreten wird, müssen die Bürger sich dagegen wehren. Demokratie besteht nicht nur darin, die Macht an Volksvertreter zu delegieren. Die Intuition, die mich seit meiner Kindheit leitet und mich dazu bewogen hat, einen Teil von Afrika zu durchqueren und in einem Olivenhain zu leben, sagte mir schließlich: Augen zu und durch! Mehr noch, es war Überzeugung. Es würde schwierig werden, aber mir wurde immer klarer: Die Angst, die mich bis jetzt vom Hinschauen abgehalten hatte, wurde jetzt mein Antrieb.

7. Meine »Mission«

Mai 2016. Der Ginster blühte noch, auch der Perückenstrauch. Auf einer Fete in Breil-sur-Roya traf ich Lucile: Mitte zwanzig, gepflegte blonde Dreadlocks, Bauchtasche und grobe Wanderschuhe, lebhaft und spontan, starker ostfranzösischer Akzent. Sie suchte eine Möglichkeit, als Freiwillige an der Grenze festsitzenden Menschen zu helfen. Ich lud sie ein, ihr Zelt ein paar Tage bei mir aufzuschlagen. Bei der Gelegenheit könne sie mir auch beim Ausmisten des Hühnerstalls helfen. Sie war unabhängig, eine Einzelgängerin, aber sehr gesellig. Sie blieb ein paar Tage, und ich vertraute ihr meine Bedrängnis an. Sie sagte, sie würde mir helfen, wenn ich mich dazu entschlösse, Leute aufzunehmen. Dann verschwand sie, um jugendliche No-Borders-Aktivisten zu unterstützen, die in Ventimiglia ein Haus besetzt hatten. Ich war wieder allein mit meinen Zweifeln.

Ich beteiligte mich an einigen Aktionen von Roya citoyenne, die mehr denn je Hilfe brauchten. Wir fuhren nach Ventimiglia und verteilten Lebensmittel, aber die Polizei vertrieb uns – wir mussten an die hundert Kilo Reissalat wegwerfen. Ein paar Monate später, im August 2016, verbot der Bürgermeister von Ventimiglia die Verteilung ganz, angeblich wegen mangelnder Hygiene und weil das Rotkreuz-Camp ausreiche, um all diese Menschen in Not zu ernähren. Doch das hatte nur Platz für 360 Menschen, und unter der Autobahnbrücke hausten Tausende … Dort verteilten die Bürgerinitiativen Snacks in Plastiktüten, heimlich wie Dealer, die Shit verticken.

Selbst wenn ich Bock darauf gehabt hätte, ich sah nicht, wie ich besser helfen konnte. Doch wie ich es jetzt tat, gefiel mir nicht. Konnte ich nicht dauerhafte Lösungen finden? Da ich weiter meine Zweifel hatte, kehrte ich zu deren Ursprung zurück, zur Kirche Sant’Antonio.

Dort verging die Zeit langsam. Draußen hatten es alle eilig, drinnen war es ruhig, die hier untergekommenen Menschen hatten zu essen und waren geschützt. Von weitem sah ich Don Rito, den Gemeindepfarrer. Er flößte mir kein Vertrauen ein, ich weiß nicht, warum – vielleicht war es seine Ausstrahlung, vielleicht einfach mein generelles Misstrauen gegenüber Geistlichen. Damals glaubte ich, dass er nur aus Christenpflicht so handelte, um ein reines Gewissen zu haben, aber womöglich der perfekte Spitzel für die Bullen war, die die Aktivisten jagten. Ich täuschte mich, das merkte ich später.

Ich schlug einer eritreischen Familie vor, mit zu mir zu kommen, dann würden wir eine Lösung suchen. Meine Entscheidung war gefallen, meine »Mission« war die wirkungsvollste, aber auch riskanteste: ihnen über die Grenze zu helfen. Ich würde die Verletzlichsten – Kinder, Jugendliche, Familien, Behinderte – aufnehmen. Und ich würde Bürgerinitiativen in Frankreich, in der Schweiz, Deutschland oder Belgien kontaktieren, die ihnen weiterhelfen konnten. Mein eigentliches Ziel war dabei nicht, ihnen über die Grenze zu helfen, sondern ihnen Risiken zu ersparen.

Einfach wie Hubert

Hubert Jourdan war damals der Einzige in den Alpes Maritimes, der sich öffentlich dazu bekannte, Migranten bei sich aufzunehmen, seit vielen Jahren. Die Wenigen im Royatal, die es ebenfalls taten, taten es diskret, hinter zugezogenen Vorhängen, und sie vermieden es, am Telefon darüber zu reden. Hubert hingegen war das Risiko egal.

Ich fragte ihn: »Wie muss man sich organisieren, um Leute aufzunehmen?«

»Wenn deine Cousine, deine Nichte, dein Kumpel oder dein Nachbar dich besuchen kommt, was tust du dann? Eben, genau so machst du’s!«, antwortete er.

Bei weitem die beste Antwort, die ich zur Organisation der Aufnahme bekommen konnte.

Hubert war über sechzig, er hatte vor mehr als vierzig Jahren zwei Jahre lang bei Abbé Pierre gearbeitet, aber das erfuhr ich erst viel später. Er war auch für große NGOs in humanitären Camps im Ausland gewesen, vor allem in Afghanistan. Jetzt besetzte er mit anderen zusammen Gebäude in Nizza, richtete Anfragen an die Präfektur, organisierte Unterkünfte bei den Bürgern. Er war schließlich daran verzweifelt, dass er sein ganzes Adressbuch abtelefonieren musste, um in Nizza jemanden zu finden, der bereit war, »eine junge Frau und ihr sechs Monate altes Baby« aufzunehmen. Statt sich weiter rumzustreiten, hatte er seine Baracke in La Colle-sur-Loup aufgemacht, um alle aufzunehmen, die sonst niemand haben wollte. Als Sohn eines Staatsanwalts war er zur Achtung vor Recht und Gesetz erzogen worden. Für ihn war sein Handeln ein Kampf gegen die Ungerechtigkeit, für die Moral, die sein Vater ihm beigebracht hatte, und für die elementarste Gerechtigkeit, auch wenn das nicht immer die des geltenden Rechts ist.

Ich fragte ihn im Frühjahr 2016 öfter um Rat. Damals beherbergte er täglich zwischen zehn und dreißig Personen, und daneben arbeitete er für Habitat et Citoyenneté, eine Initiative, die nach Lösungen für obdachlose Familien sucht. Sie übernimmt den Kontakt zu den Behörden für sie und betreibt einen solidarischen Lebensmittelladen. Hubert lebt Tag und Nacht für den Kampf gegen die Prekarität. Ich verbringe meine Zeit gern mit ihm; bei ihm wird alles einfach, er ist, wie ich auch, ein Pragmatiker.

Zufällig traf ich Lucile in Menton wieder. Das besetzte Haus in Ventimiglia war geräumt worden, sie wartete auf ihren Prozess und hatte dort Aufenthaltsverbot. Ich schlug ihr vor, mitzukommen und den ersten »Internationalen Campingplatz im Royatal« mit mir aufzumachen. Sie war einverstanden. Ich ahnte, dass es nicht lange dauern würde – früher oder später würde man mich in flagranti erwischen und als »Schleuser« verhaften, und dann würde ich vielleicht im Gefängnis landen.

8. Petit Bouddha

Der Kleine beobachtet mich, ein eingefrorenes Lächeln auf den Lippen. Seit seiner Ankunft hat er kein Wort gesprochen. Ein kleiner Buddha, könnte man meinen. Dieses Lächeln ist wie ein Spiegel oder Schutzschild, von dem die Unbilden des Lebens abprallen. Seine Augen sind mit Tränen bewehrt, die nie herabfließen, in jedem Auge eine. Mit seinen glatten schwarzen Haaren, großen, mandelförmigen Augen und fein geschnittenen, zarten Lippen sieht er wie ein Indianer aus. Sein Blick hatte den Ausschlag gegeben, dass ich seine Familie und nicht eine andere mitnahm.

Der Junge betrachtet die vierhundert Küken, die gerade in kleinen Schachteln angekommen sind, um die alten Legehennen aufzufrischen. Ich setze sie in ein Kükenhaus unter die wärmende Lampe, und ihr Gepiepse ist so laut, dass ich Ohrenschützer trage. Beobachtungszeit: Haben sie Hunger oder Durst, ist ihnen kalt oder warm? In den ersten Tagen sind sie so fragil, dass ein mit kaltem Regen vermischter stärkerer Windstoß genügte, und man fände sie mit beiden Beinchen in der Luft wieder. Ich rede mit ihnen, um sie an meine Stimme zu gewöhnen, und stoße komische kleine Geräusche aus, um sie zu beruhigen. In drei Wochen haben sie nichts mehr zu befürchten. Wie der Kleine, der hier in Sicherheit ist und mir auf Schritt und Tritt folgt. Ich kriege nicht raus, ob er traurig ist oder froh oder beides zugleich.

Während die Arbeit auf dem Hof weitergeht, wächst langsam der internationale Campingplatz aus dem Boden. Ein zweiter Wohnwagen ist per Helikopter gekommen. Lucile und ich haben Zelte und Decken aufgetrieben. Die Leute kommen, bleiben ein paar Tage, dann geht’s weiter. Ich weiß nichts über sie, denn ich belästige sie lieber nicht mit Fragen. Doch ich ahne, was sie durchgemacht haben: Durchquerung der Sahara, die Hölle Libyens und die Fahrt übers Mittelmeer, eine makabre Lotterie, bei der Angehörige sich aus den Augen verlieren oder untergehen, jede Menge Tragödien. Alle sind sie Überlebende, für die es schon eine Großtat ist, dass sie es bis zu mir geschafft haben. Ich schenke ihnen ein paar Momente der Erholung, bevor sie von neuem der Brutalität und den Unsicherheiten des Umherirrens die Stirn bieten müssen.

9. Olivenfest

2016 hatte ich gerade mit dem Olivenfest aufgehört, das ich seit 2006 auf dem Dorfplatz von Libre, einem Weiler bei Breil, organisierte. Mein Bruder Morgan und ich hatten es ins Leben gerufen, um die reiche Ernte zu feiern. Ich war sehr überrascht gewesen, dass es dieses Fest im Royatal, dem Land der Oliven, nicht gab. Weil wir überzeugt sind, dass Menschen Anlässe brauchen, sich zu treffen, haben wir das ganze Dorf zum Essen eingeladen. Morgan opferte ein Zicklein, das sich am Spieß drehte, und es gab Musik – ein richtiges okzitanisches balèti.

Anfangs kamen vor allem unsere Freunde. Dann dauerte das Fest jedes Jahr ein Wochenende lang und wurde immer größer. Am Ende wurden mehr als sechshundert Besucher gezählt, es gab Konzerte von sieben Uhr abends bis drei Uhr morgens: Punk, Jazz, Ska, Rock, Electro … Viele warteten ungeduldig auf das selbstverwaltete Fest, das die Landwirtschaft und eine andere Art zu produzieren und zu konsumieren symbolisierte. Wir haben es nie geschafft, die örtlichen Bauern zum Mitmachen zu bewegen, nur einige von ihnen kamen. Sie hatten immer das Gefühl, überrannt zu werden, und fanden alle möglichen Ausreden, um uns zu entmutigen.

Wir Organisatoren waren zu dritt. Dutzende Freiwillige kümmerten sich spontan um die Bar, die Kasse und das Saubermachen. Jeder kannte seine Aufgabe, nur das Rathaus nicht, das sich weigerte, uns die gemeindeeigenen Tische und Stühle zur Verfügung zu stellen, und Genehmigungen nur schleppend erteilte. Aber wir hatten die Gendarmen auf unserer Seite, so entstanden gute Beziehungen, die uns später nutzten, wenn wir Exilierten halfen. Sie sagten: »Auch wenn der Herr Bürgermeister sich zurückhält, euer Fest ist vorbildlich. Seit es dieses Fest gibt, hatten wir nie eine Schlägerei oder irgendeinen Unfall, im Gegensatz zu den traditionellen Festen im Tal. Ihr seid auch die Einzigen, die uns über die Organisation auf dem Laufenden halten.«

Wir hatten eine Initiative gegründet, Aux Arbres (Für die Bäume), selbst finanziert und unsubventioniert. Wir wollten unabhängig sein, was sich bei einem Budget von knapp zehntausend Euro als sehr schwierig erwies. Wir hatten eine gute Idee: Bier. Die Bar ist der Schlüssel zum Erfolg. Wir kauften in Deutschland Druckfässer mit Bier, das wir immer wieder auffüllten und an andere Initiativen für andere Events weiterverkauften. Ich verbrachte meine Wochenenden damit, Festivals und Konzerte zu beliefern – eine Heidenarbeit. Man musste vor Beginn da sein, die Zapfanlagen kontrollieren, Dutzende Fässer eigenhändig ausladen, die Bar organisieren und bis zum Schluss warten, um alles wieder in den Lieferwagen zu laden, ins Royatal zurückzufahren, alles wieder abzuladen und in die Vereinsräume zu bringen. Oft kam ich erst in der Morgendämmerung nach Hause.

Diesen hektischen Rhythmus hielt ich ein paar Jahre durch. 2016 hörte ich auf, ich war es leid, mich ständig mit dem Bürgermeister und mit Nachbarn rumzustreiten, die wegen des Lärms schimpften, und mit den Initiativen, die Monate brauchten, um uns das Bier zu bezahlen. Diese freiwillige Arbeit zehrte an meiner Zeit und an meiner Arbeit als Bauer, ich hatte die Welt der Initiativen satt, ich wollte wie alle anderen mit den Händen in den Taschen zum Fest erscheinen und in vollen Zügen genießen.

Mit dem Fest aufzuhören, das ein wenig mein Baby war, fiel mir schwer. Ich hatte es auf die Welt kommen und groß werden sehen, und nun ließ ich es sterben. Aber als der Entschluss gefasst war, fühlte ich mich befreit – ohne zu wissen, dass ich mich bald in ein anderes kollektives Abenteuer stürzen würde. Der Vorteil war, dass ich zehn Jahre lang gelernt hatte, für sechshundert Personen zu planen, wo sie pinkeln, schlafen, essen und trinken konnten – Probleme, mit denen ich bald wieder konfrontiert wäre.

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