Loe raamatut: «Ändere deine Welt», lehekülg 4

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10. Kalt und pragmatisch

Sommer 2016. Innerhalb eines Monats habe ich an die dreißig Personen über die Grenze gebracht, und meine Stimmung hat sich geändert. Wenn ich jetzt nach Ventimiglia hinunterfahre, bin ich wie ein Tier. Ich beobachte. Die Leute, die Autos, die Bullen, die Schleuser. In der Kirche bin ich bekannt wie ein bunter Hund. Die Entscheidung, wen ich mitnehmen soll, fällt mir jedes Mal schwerer, ich versuche, möglichst pragmatisch zu sein. Mich nicht vom Gefühl leiten zu lassen. Diejenigen auszusuchen, die es am Nötigsten haben. Ich nutze die Ablenkung durch die Aktivisten, die eilig Plastiktüten mit Essen verteilen. Wenn sie da sind, sind die Bullen beschäftigt.

Die Kirche ist von Mal zu Mal voller. Ich versuche, die Kids, die es allzu eilig haben, zu überzeugen, auf mich zu warten. Aber sie wollen so schnell wie möglich über die Grenze, selbst wenn sie die Autobahn entlanglaufen müssen. Während ich eine Familie in meinen C15 lade, packt mich eine alte Italienerin zeternd am Arm und gibt mir die Schuld an den Geschehnissen in ihrer Straße. Wir haben beide damit Probleme, entgegne ich, aber unterschiedliche Lösungen: Ich bringe die Leute aus Ventimiglia weg, auch von ihrem Haus, und sie beschimpft sie bloß.

Während der Fahrt haben die Familien Angst vor mir, ich bin kalt und unnahbar, wie ein wildes Tier, das niemand stoppen kann. Die Schleuser in Ventimiglia sehen mich böse an, sagen aber nichts. Mittlerweile weine ich innerlich auf jeder Rückfahrt, ich ertrage den Geruch der Angst nicht mehr. Ich halte es nicht mehr aus, Menschen in mein Auto zu quetschen, die verständnislosen Blicke der Kinder zu sehen, wenn ich sie unter einer Decke verstecke, die Angst der Eltern zu spüren.

Wie soll man einem Kind erklären, dass seine Hautfarbe versteckt werden muss? Dass das Land, in dem es aufwachsen und seine Liebesbeziehungen, seinen Beruf und seine Familie aufbauen wird, es wegen seiner Hautfarbe nicht wollte? Im Royatal herrscht Staatsterror.

Staatlicher Rassismus

Als ich später bei Radio Europe 1 den »staatlichen Rassismus« und die »Jagd auf Schwarze« anprangerte, sagte der Abgeordnete Éric Ciotti, das sei eine Beleidigung der Polizei und Frankreichs, meine Äußerungen seien infam und unwürdig … Und der Innenminister persönlich bestritt, dass es Kontrollen aufgrund der Hautfarbe gebe. Aber sind die wieder eingeführten Grenzkontrollen etwa nicht rassistisch motiviert? Der Kampf gegen die Einwanderung kein staatlicher Rassismus? Was denkt sich der Minister, wenn er den Polizisten befiehlt, den Zustrom von Flüchtlingen zu kontrollieren: dass sie blauäugige Blondschöpfe anhalten, um zu überprüfen, ob sie afrikanischer Herkunft sind?

Das Royatal wird der Gewalt und dem Rassismus geopfert. Es gehört nicht mehr zu Frankreich, es ist Niemandsland, ein Ort, wo der Staat das Recht auf den Kopf stellt und manche Bewohner darauf reagieren, indem sie auf die staatlichen Anordnungen pfeifen. Ich höre, wie die Präfekten, Minister und Politiker in Paris unsere Aktionen anprangern: eine »ultralinke« Gruppe, »No Borders«, die die Abschaffung der Grenzen fordern, »Verantwortungslose« oder »Naive«. Nein, verdammt! Am liebsten würde ich sie an der Krawatte hierherzerren, damit sie nur eine einzige Nacht bei uns verbringen. Ich würde ihnen die Jugendlichen vorstellen, deren Füße von den Fußmärschen in ungeeigneten Schuhen durch Wald und Feld, entlang der Eisenbahngleise oder auf der Straße geschwollen und aufgesprungen sind. Ich würde sie zwingen, das infolge der Folterungen in Libyen entzündete Gewebe zu berühren. Ihnen zeigen, welche Spuren ein Nagel zwischen Hoden und Anus eines Siebzehnjährigen hinterlassen hat. Ich würde diese Demagogen mit den glatten, sauberen Händen am liebsten bitten, ihre Anweisungen persönlich in die Tat umzusetzen: Holen Sie sie doch selbst! Schicken Sie sie selbst nach Italien oder Libyen zurück, wie Sie angeordnet haben! Erklären Sie dem Mädchen, das über Bauchweh klagt, dass sie von ihrem libyschen Vergewaltiger schwanger ist!

Aufnahmekrise

Die Männer in Grau tun mir leid. Ihre Gefühllosigkeit bestürzt mich. Wir haben ihnen aus Feigheit unsere Macht überlassen – und sie missbrauchen sie, um zu diskriminieren, zugleich Richter und Partei zu sein. Das Resultat dieser schlechten, demagogischen Politik ist Misshandlung. In ihren Reden behaupten die Politiker, die Migranten gefährdeten die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Doch für diese Gefährdung ist der Staat selbst verantwortlich. Die Werte unserer Republik werden von denjenigen mit Füßen getreten, die mit ihrem Schutz betraut sind. Der Präfekt ist der »bewaffnete Arm« einer Politik, die aus reinem Populismus die Zahlen der Rückführungsstatistik in die Höhe treibt und unterschiedslos Männer, Frauen und Minderjährige abschieben lässt.

Im »Kampf gegen die illegale Einwanderung« sind die Grenzkontrollen vor allem eine Botschaft. Der Präfekt verkündet regelmäßig, er schicke Tausende von Menschen nach Italien zurück, aber seine Rechnung ist falsch. Er lässt mehrmals ein und dieselben Geflüchteten »entfernen«, denn die versuchen ihr Glück immer wieder aufs Neue, bis sie es schaffen. Mit dieser Politik schwächt die Regierung die extreme Rechte nicht, wie sie behauptet, im Gegenteil, sie stärkt sie. Die aufgeblasenen Zahlen sollen glauben machen, es gäbe eine »Flüchtlingskrise«, dabei handelt es sich um eine Aufnahmekrise – man will die Aufnahme nicht organisieren, obwohl das Völkerrecht und die internationalen Abkommen uns dazu verpflichten.

11. Über die Grenze

Sobald das Fahrzeug in Ventimiglia beladen war, herrschte tiefes, angespanntes Schweigen. Ich fuhr mal schneller, mal langsamer, um herauszufinden, ob ich verfolgt wurde. In diesem Fall kehrte ich um oder machte halt vor einer Bar. Ich musste nach vorn und nach hinten schauen. Wenn ich weinte, war da nur Sand, meine Augen brannten, tränten aber nicht. Gern hätte ich, wie Petit Bouddha, eine Träne in jedem Auge gehabt, die für immer dort blieb, nur zum Befeuchten. Mein Mund schmeckte nach Eisen, als ob mein Magen blutete.

Petit Bouddha folgte mir überallhin, rannte aber nie; er hörte mir zu, ohne zu antworten. Er trug ein kurzes weißes Hemd. Seine Eltern wussten nicht, wie alt er war, zudem ähnelte er seinen drei Schwestern nicht. Ich begriff schnell, dass sie ihn erst vor kurzem aufgelesen hatten. Vermutlich waren seine richtigen Eltern im Meer, in Libyen oder in der Wüste umgekommen; seither war er verstummt, aber seine Lippen deuteten immer ein Lächeln an. Er hielt sich aufrecht, kerzengerade, immer zwei Tränen in den Augen, die mich fest im Blick behielten. Ich hatte ihn sehr gern.

Wir beobachteten die Küken, die überall herumhüpften. Mittags gesellten wir uns zum Rest der Familie, den Eltern und ihren drei kleinen Töchtern. Seit ein paar Wochen aß ich nicht mehr allein. Der Tisch auf meiner Terrasse war gedeckt – Reis mit Gemüse, wie üblich. Ungeduldig warteten wir darauf, dass die Tomaten reif wurden, ein oder zwei Wochen noch.

Vorausfahrzeug

Lucile und ich kannten uns allmählich gut. Einziges Manko: Sie war hyperaktiv, was mich dazu zwang, es auch ein bisschen zu sein. Mal machte sie das Essen, mal ich, oder die Eltern wechselten sich ab. Nachmittags arbeiteten wir im Garten, kümmerten uns um die Hühner, sammelten die Eier ein. Donnerstags lieferten wir die Erzeugnisse aus und fuhren unsere Gäste zu einem Bahnhof weit hinter Nizza. Kinder herumzukarren, die zwischen zwei Stapeln Eierpaletten versteckt sind, kam uns schließlich derart normal vor, dass wir uns wunderten, wenn manche Freunde von Roya citoyenne »leer« nach Nizza fuhren.

»Wie, ihr habt niemanden mitgenommen?«, fragten wir sie ungläubig.

Ermaßen wir das Risiko noch? Ich bin nicht sicher. Anfangs war die Straße vom italienischen Ventimiglia ins französische Breil nicht überwacht. Die einzige Gefahr war, dass die Bullen sahen, wie ich bei der Kirche Leute ins Auto lud. Dort trieben sich französische Zivilpolizisten herum, aber wie sollte ich die erkennen, zumal, wenn sie sich als »Gesindel« verkleidet hatten? Bis jetzt waren wir ihnen zum Glück entgangen.

Die Straße von Breil nach Nizza hingegen wurde von der Polizei viel engmaschiger überwacht. Wir starteten in der Morgendämmerung. Lucile fuhr mit dem Kastenwagen voraus, der mit Hoferzeugnissen beladen war. Ich folgte sechs Minuten später mit unseren »Reisenden«. An jeder kritischen Stelle rief Lucile mich an. Wenn sie auf Bullen traf, kein Anruf. In dem Fall verließ ich die Strecke und fuhr ziellos herum oder hielt an. Sie beeilte sich, zu uns zurückzufahren, damit wir nicht lange warten mussten, denn mit meinen hinten zusammengepferchten »Reisenden« war das riskant.

Ihre Rolle erwies sich als schwierig und stressig, aber unsere fast symbiotische Verbindung erleichterte unsere Aktionen. Allein der Klang ihrer Stimme verriet mir, ob die Straße sicher war, ob etwas sie nervös machte oder ob sie Angst hatte. Wenn ich mit Mitstreitern von Roya citoyenne »Reisende« transportierte, war das ganz anders. Viele hielten sich nicht an die Abmachungen, manche telefonierten am Steuer und gingen dadurch ein unnötiges Risiko ein; andere dachten, das Ganze sei ein Spiel, und hielten sich weder an den Abstand zwischen den beiden Autos noch an die Abmachungen für die Telefonate. Jedes Detail zählte. Man sollte nicht sagen: »Achtung, bei der Ausfahrt Monaco sind Bullen«, höchstens: »Ausfahrt Monaco gesperrt«.

Ich habe Autos mit »Reisenden« das Vorausfahrzeug überholen sehen … Der Grund? Der Fahrer wollte pinkeln! »Die Bürgerinitiative Roya citoyenne, eine perfekt organisierte Bande!«, behaupteten der Präfekt und der Staatsanwalt später. Sie hatten keine Ahnung von der Wirklichkeit.

Es funktioniert

Wenn ich Personen von Ventimiglia mitbrachte, erwartete Lucile sie unten am Weg, beruhigte sie und gewann ihr Vertrauen. Später hielt sie Kontakt zu den Familien und blieb in enger Verbindung mit ihnen. Ich dagegen wollte Abstand halten und sie vergessen, sobald sie weg waren. Zumindest versuchte ich es. Ciao, Petit Bouddha …

Zu der Zeit verlief das Leben bei mir ziemlich normal, in einer Art Ferienstimmung. Auch wenn wir nicht dieselbe Sprache sprachen, waren wir heiter, zumal sich die Gesichter unserer Gäste innerhalb weniger Tage veränderten; ihre Züge wurden gelöster, ihre Brauen entspannten sich, sogar ihr Schritt schien beschwingter zu werden. Abends tranken Lucile und ich Bier bis spät in die Nacht. Betrunken sein hilft, die Dinge nicht mehr so ernst zu nehmen und sich Fantasiewelten auszudenken, um die Brutalität der Umstände aus dem Kopf zu kriegen.

Mit Huberts Hilfe, der uns Ratschläge gab und Kontakte vermittelte, baute Lucile ein gutes Netzwerk auf, dank dem unsere »Reisenden« überall in Frankreich Unterkünfte fanden, vor allem bei Privatpersonen. Man holte die Migranten am Ankunftsbahnhof ab, das ist wichtig. Auch die Pläne, wie wir an Zelte und Decken kamen, funktionierten großartig. Wir baten um zehn und erhielten hundert.

Bei all dem habe ich mich bemüht, Lucile zu schützen. Mit mir zusammen nach Ventimiglia zu fahren, war verboten! Kein Freiwilliger nahm an Fahrten über die Grenze teil; ich zog es vor, allein in Polizeigewahrsam genommen zu werden. Lucile war stark, aber wild, und ich glaubte nicht, dass sie einem Gefängnisaufenthalt standhalten würde; als junge Frau hätte sie eine Menge einstecken müssen.

Während ihrer Zeit im Royatal hat sie solche emotionalen Achterbahnfahrten erlebt, dass ihr das Leben nach ihrem Abschied im März 2017 fade vorkam. »Wenn du ins ›normale‹ Leben zurückkehrst, erscheint dir alles flach«, erklärte sie mir. »Es fühlt sich fast an, als wäre man tot. Im Royatal habe ich Gefühle entdeckt, die ich vorher nicht kannte oder die sich verzehnfacht haben. Das hat mich enorm anpassungsfähig gemacht und mir sogar geholfen, einen Job zu bekommen.«

12. Schleuser

Der Bahnhof von Ventimiglia ist voller Menschen. Die Schleuser treiben nach Nationalitäten sortierte Gruppen von Migranten vor sich her. Unter ihnen erkenne ich ein Mädchen aus der Kirche wieder, ich fasse sie an der Schulter und halte sie zurück. Der Schleuser kommt auf mich zu. Ich schreie ihn an: »Einen Schritt weiter, und ich polier dir die Fresse und verpfeif dich bei den Bullen da drüben!«

Er schaut mich drohend an, dann wendet er sich wieder seinen Geschäften zu. Er benimmt sich wie der Herr im Haus, unantastbar, und organisiert seinen Menschenhandel wie ein Viehhändler Schafe. Er stellt Gruppen zusammen, lädt sie ins Auto und kassiert, die italienischen Bullen schauen tatenlos zu. Unbehelligt profitiert der Schleuser von den geschlossenen Grenzen und betreibt sein Business. Je härter die Repressionen gegen die Geflüchteten, desto höher sein Tarif. Hier wird alles verkauft: Dienstleistungen, Telefonnummern und die Körper junger Mädchen.

Wenn man künstliche Barrieren errichtet, um Menschen ohne Geld auszusperren, schafft man ein System, das die Gesellschaft sehr viel mehr kostet, den Menschenhandel. Schleuser werden verteufelt, aber ich wiederhole: Wenn man die Bullen abzieht, gibt es keine Schleuser mehr. Es ist wie mit den Drogen – die Kriminalisierung erzeugt den illegalen Handel erst.

Rechenaufgabe

Ein paar Monate später kam ich nach einer Verhaftung in der »Mausefalle«, das ist das Untersuchungsgefängnis des Justizpalasts in Nizza, mit fünf Schleusern in Kontakt. Ich unterhielt mich durch die Gitterstäbe mit einem von ihnen, der am Steuer eines Transporters festgenommen worden war, in dem sich etwa zwanzig Personen befunden hatten. Er weinte, sprach kaum Französisch, ich versuchte ihn zu beruhigen. Man hält all diese Schleuser für Schwerkriminelle, dabei sind es oft Verlorene, illegale Einwanderer, Tagelöhner.

Er erklärte mir, dass er für vier Hin- und Rückfahrten zwischen Ventimiglia und Nizza pro Tag vierhundert Euro bekam. Er brauchte Geld und hatte kaum die Wahl. Er war keiner, der Befehle gab, sondern ein Befehlsempfänger, wie man sie oft unter Straftätern findet. Da er niemanden geschlagen oder bestohlen hatte, wusste er nicht, was er falsch gemacht hatte.

Dank seinen Erklärungen habe ich besser verstanden, was sich an der Grenze wirklich abspielt. In Ventimiglia stellen Anwerber die Gruppen zusammen und kassieren das Geld, dann werden den Fahrern Transporter zur Verfügung gestellt. Weder Fahrer noch Anwerber kennen den Auftraggeber, also denjenigen, der diese Zwischenhändler benutzt. Sie allein tragen das Risiko; der Strippenzieher bleibt unantastbar.

Ich habe kurz überschlagen, wie viel der Auftraggeber pro Tag kassierte. Vier Fahrten mit zwanzig Personen, die je 150 Euro bezahlen, das macht mit 12’000 Euro einen schönen Batzen Geld, minus die 400 Euro für den Fahrer und vermutlich ebenso viel für den Anwerber. Also 11’200 Euro Gewinn pro Tag. Die Schließung der Grenze schadet nicht jedem … Nach manchen Schätzungen werden mit Menschenhandel weltweit jährlich 27 Milliarden Euro Gewinn gemacht. Aber in der kleinen Stadt Ventimiglia hat die Polizei die Köpfe des Schleuserrings nie geschnappt. Und mein Zellennachbar landete im Gefängnis, während sein Boss ungestört einen Profit von Zehn-, wenn nicht gar Hunderttausenden von Euro machte.

Bullen und Prostitution

Manche Schleuser verkaufen auch nur einen Rat. Da sie schon so manche Grenzüberquerung ausprobiert haben, kennen sie die sicheren Wege und verkaufen dieses Wissen an die Neuankömmlinge. So »arbeiten« sie ein oder zwei Jahre, um ihre Überfahrt nach England zu finanzieren. Andere hingegen sind Arschlöcher und betrügen die Exilierten. Sie tun so, als würden sie sie nach Frankreich fahren, und setzen sie dann in einer anderen italienischen Stadt aus. Die Verrücktesten durchbrechen mit Vollgas die Straßensperren – man kann sich denken, wie gefährlich das für die hinten in den Transporter gepferchten Personen ist. Und dann sind da noch die Taxifahrer, die in Ventimiglia Leute aufnehmen und bei einer Kontrolle die Ahnungslosen spielen, nach dem Motto: »Ich mach nur ’ne Fuhre – ich frag doch nicht, ob der Fahrgast Papiere hat.«

Am Schlimmsten sind die Raubtiere, die die Prostitutionsringe versorgen. Angewidert von den Übergriffen, Belästigungen und Vergewaltigungen, die uns zu Ohren kamen, stellten wir in Ventimiglia Nachforschungen an, um ein Organigramm der größten Schleuserringe zu erstellen – wer sind die Bosse, wie verstecken sich die »Zwischenhändler« unter den Geflüchteten, bevor sie die Fahrten über die Grenze organisieren … Wir haben diese Liste den Gendarmen und der Grenzpolizei übergeben, mit Telefonnummern, Personenbeschreibungen und ungefährem Alter.

Aber all diese »Ordnungskräfte« scherten sich nicht darum, sie waren zu sehr damit beschäftigt, uns aufzuspüren. Während sie verbissen Jagd auf uns machten, sind mehrere Mädchen vergewaltigt worden und anderen wurde ein kostenloser Grenzübertritt nach Frankreich gegen gewisse »Gefälligkeiten« angeboten, Prostitution. Weder die französischen Behörden noch ihre italienischen Kollegen störten sich an diesen Machenschaften, die sich vor ihren Augen abspielten.

Manche Polizisten beteiligten sich sogar an den Schleuserfahrten, wie jener Wachtmeister, der im Juni 2017 an der Mautstelle von La Turbie vorläufig festgenommen wurde, als er in seinem Peugeot 106 einen Gambier und drei Senegalesen beförderte. Er gestand sieben bis zehn Schleuserfahrten mit je drei bis vier Personen, von denen jeder zwischen 125 und 250 Euro gezahlt hatte. Sein Motiv? Überschuldung. Er verdiente 3000 Euro! Vor Gericht sprach der Polizist, der seit über zwanzig Jahren in Nizza seinen Dienst versah, von einem »großen Fehler«. »Das war kein großer Fehler, das war eine schwerwiegende Straftat, begangen über einen Zeitraum von zweieinhalb Monaten«, korrigierte ihn die vorsitzende Richterin. Er wurde zu achtzehn Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt und sofort inhaftiert.

13. Die Lage kippt

Am 11. August 2016 kippte die Situation. An diesem Tag sollte ich spätnachmittags eine Mutter mit ihren beiden Kindern auf dem Parkplatz vor der Kirche in Ventimiglia abholen. Als ich sie in meinen C15 einsteigen ließ, beobachteten uns zwei Frauen auf dem Bürgersteig gegenüber mit traurigen Augen. Auch sie hatten Kinder. Impulsiv lud ich sie ein mitzukommen. Ich war gestresst und hatte fast sofort ein schlechtes, sehr schlechtes Gefühl.

Ventimiglia war zu einem kleinen Calais geworden. Zweitausend Menschen schliefen jede Nacht und schissen jeden Morgen unter dem Autobahnviadukt in der Nähe der Kirche. Am späten Nachmittag nahmen sie den Lidl-Parkplatz unter dem schwankenden blau-gelben Schild in Beschlag, ein paar Schritte von der dunkelgrünen Bude des alten Floristen gegenüber dem Friedhofstor. Ein surrealistisches Bild, dieses Nebeneinander von Tod, Exil und Massenkonsum.

Manche versteckten sich zwischen dem hohen Röhricht, das im ausgetrockneten Bett der Roya wuchs. Sie hatten keinen Ort, um sich zu waschen, und wurden wie Untermenschen, wie Abfall behandelt. Selbst Hunde und Tauben behandelt man nicht so. Am Bahnhof campierten sie auf dem Vorplatz, in der Halle und auf den Treppenstufen, wo die Schleuser immer aggressiver wurden. Aber die Bullen, die Gesichter blau von ihren Handy-Displays, blieben in ihren Wannen mit den vergitterten Fenstern ungerührt. Sie standen mitten im Chaos, aber das kümmerte sie nicht.

Manche Einwohner hatten genug von den Hunderten Schwarzen, die vor ihren Wohnungen hausten. Das war nicht unbedingt Rassismus, sie hatten es nur satt, direkt neben einem Slum zu wohnen, in dem das ganze Elend der Welt versammelt war. Doch wer war dafür verantwortlich, die Menschen auf der Straße, die keine Toilette hatten, oder die Stadtverwaltung, die keine aufstellen ließ? Die Anwohner hatten das Gefühl, ihre auf Kredit gekauften Wohnungen seien nichts mehr wert. Auf ihren Druck hin berief sich der Bürgermeister auf die Hygiene und verbot die Verteilung von Lebensmitteln und verweigerte den Zugang zu Wasser. Resultat: Auf der Straße vor der Kirche sammelten sich auf dem Gehsteig die Tellerchen mit Futter für die streunenden Katzen. Auf der anderen Seite die »streunenden« Menschen, die unter der Autobahn schliefen und nur heimlich etwas zu essen bekamen.

Tasuta katkend on lõppenud.

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