Loe raamatut: «Nikolas Nickleby»
Charles Dickens
Nikolas Nickleby
Impressum
Covergestaltung: Olga Repp
Mit 3 Illustrationen von Hablot Browne
Übersetzung: Karl Heinrich Hermes
Digitalisierung: Gunter Pirntke
2017 andersseitig.de
ISBN:
9783961183111 (ePub)
9783961183128 (ePub)
andersseitig Verlag
Dresden
www.andersseitig.de
info@new-ebooks.de
(mehr unter Impressum-Kontakt)
Inhalt
1. Kapitel: Das alle übrigen einleitet
2. Kapitel: Handelt von Mr. Ralph Nickleby, seinen Geschäften und Unternehmungen. Ferner von einer großen Aktiengesellschaft, die für das ganze Land von größter Bedeutung ist
3. Kapitel: Mr. Ralph Nickleby erhält traurige Nachrichten von seinem Bruder, weiß sich aber mit edler Standhaftigkeit zu fassen. Der junge Nikolas gefällt seinem Onkel ausnehmend, und dieser faßt den edelmütigen Entschluß, für dessen Zukunft zu sorgen
4. Kapitel: Nikolas und sein Onkel machen, um das Glück beim Schopf zu fassen, bei Mr. Wackford Squeers ihre Aufwartung
5. Kapitel: Nikolas begibt sich nach Yorkshire auf die Reise und nimmt Abschied von den Seinigen. – Seine Reisegefährten, und was unterwegs vorfiel
6. Kapitel: Der erwähnte Unfall gibt ein paar Herren Gelegenheit, einander Geschichten zu erzählen
7. Kapitel: Mr. und Mrs. Squeers im häuslichen Kreise
8. Kapitel: Der Haushalt in Dotheboys Hall
9. Kapitel: Von Miss Squeers, Mrs. Squeers, Master und Mr. Squeers und andern mit ihnen in Verbindung stehenden Personen
10. Kapitel: Wie Ralph Nickleby für seine Nichte und Schwägerin sorgt
11. Kapitel: Mr. Newman Noggs führt Mrs. und Miss Nickleby in ihre neue Behausung in der City
12. Kapitel: Der weitere Verlauf der Liebesgeschichte Miss Fanny Squeers'
13. Kapitel: Nikolas bringt durch ein äußerst tatkräftiges und ungewöhnliches Verfahren einige Abwechslung in die Eintönigkeit von Dotheboys Hall
14. Kapitel: Handelt nur von ganz gewöhnlichen Leuten
15. Kapitel: Was die Veranlassung der im vorigen Kapitel beschriebenen Unterbrechung war
16. Kapitel: Nikolas sucht eine Anstellung und nimmt, als ihm dies fehlschlägt, eine Stelle als Hauslehrer an
17. Kapitel: Kate Nicklebys weitere Schicksale
18. Kapitel: Miss Knag faßt, nachdem sie drei ganze Tage in Kate Nickleby förmlich vernarrt gewesen, den Entschluß, sie für immer zu hassen
19. Kapitel: Beschreibung eines Dinners bei Mr. Ralph Nickleby, und wie sich seine Gäste dabei unterhielten
20. Kapitel: Nikolas trifft endlich mit seinem Onkel zusammen und sagt ihm mit bemerkenswerter Offenheit die Meinung
21. Kapitel: Madame Mantalini gerät in eine schwierige Lage, und Kate verliert dadurch ihre Stellung
22. Kapitel: Nikolas begibt sich in Smikes Begleitung auf die Wanderschaft und macht bei dieser Gelegenheit eine interessante Bekanntschaft in der Person Mr. Vincent Crummles'
23. Kapitel: Handelt von dem Ensemble Mr. Vincent Crummles' wie auch von seinen häuslichen und Theaterangelegenheiten
24. Kapitel: Miss Snevelliccis großes Benefiz und Nikolas' erstes Auftreten auf der Bühne
25. Kapitel: Eine junge Dame aus London schließt sich der Truppe an und führt einen ältlichen Verehrer von sich im Schlepptau
26. Kapitel: Kate Nicklebys Seelenfrieden gerät in ernste Gefahr
27. Kapitel: Mrs. Nickleby wird mit den Herren Pyke und Rupfer bekannt, deren Ergebenheit und Zuneigung keine Grenzen kennt
28. Kapitel: Kate Nickleby sucht, durch Sir Mulberry Hawks Verfolgung zur Verzweiflung gebracht, als letztes Mittel Schutz bei ihrem Onkel
29. Kapitel: Von Nikolas' weiteren Schicksalen und gewissen Zerwürfnissen in Mr. Vincent Crummles' Ensemble
30. Kapitel: Festlichkeiten, die Nikolas zu Ehren veranstaltet werden, und sein Austritt aus der Vincent-Crummlesschen Schauspielertruppe
31. Kapitel: Handelt von Ralph Nickleby und Newman Noggs sowie von einigen weisen Vorsichtsmaßregeln, über deren günstigen beziehungsweise ungünstigen Ausgang später berichtet werden wird
32. Kapitel: Eine höchst merkwürdige Unterredung mit nicht minder merkwürdigen Folgen
33. Kapitel: Mr. Ralph Nickleby wird plötzlich von dem Verkehr mit seinen Verwandten erlöst
34. Kapitel: Besuch bei Mr. Ralph Nickleby
35. Kapitel: Smike wird Mrs. Nickleby und Kate vorgestellt. Auch Nikolas macht neue Bekanntschaften, und die Zukunft scheint sich für seine Familie aufhellen zu wollen
36. Kapitel: Handelt lediglich von Familienangelegenheiten – Mr. Kenwigs gerät in heftige Aufregung, und Mrs. Kenwigs befindet sich den Umständen angemessen
37. Kapitel: Nikolas wird bei den Gebrüdern Cheeryble und Mr. Timotheus Linkinwater immer beliebter. Die Brüder geben anläßlich einer Jahresfeier ein Festmahl, und als Nikolas nach Hause kommt, macht ihm seine Mutter eine höchst wichtige und geheimnisvolle Eröffnung
38. Kapitel: Ein Kondolenzbesuch – Smike begegnet unverhofft einem alten Bekannten, der ihn in sein Haus einlädt und von Einwendungen durchaus nichts wissen will
39. Kapitel: Ein anderer alter Freund findet Smike rechtzeitig
40. Kapitel: Nikolas Nickleby verliebt sich und bedient sich einer Mittelsperson, deren Bemühungen nur in einem einzigen Punkte fehlschlagen
41. Kapitel: Behandelt einen höchst romantischen Auftritt zwischen Mrs. Nickleby und dem Herrn in den Kniehosen
42. Kapitel: Beleuchtet den alten Erfahrungssatz, daß oft die besten Freunde uneins werden können
43. Kapitel: Versieht den Dienst eines Zeremonienmeisters, indem es verschiedene Leute zusammenbringt
44. Kapitel: Mr. Ralph Nickleby sagt sich von einem alten Bekannten los. Es zeigt sich, daß selbst zwischen Mann und Weib ein Scherz unter Umständen zu weit getrieben werden kann
45. Kapitel: Eine große Überraschung
46. Kapitel: Auf Nikolas' Liebesangelegenheit fällt ein Licht, ob ein günstiges oder schlimmes, mag der Leser selbst entscheiden
47. Kapitel: Mr. Ralph Nickleby hat eine vertrauliche Zusammenkunft mit einem andern alten Freund. Sie besprechen ein Projekt, das für beide Teile große Vorteile in Aussicht stellt
48. Kapitel: Ein Benefiz Mr. Vincent Crummles' zu seinem garantiert letzten Auftreten auf der Bühne
49. Kapitel: Berichtet von weiteren Maßnahmen der Familie Nickleby und dem Verlauf des Abenteuers mit dem Herrn in den Kniehosen
50. Kapitel: Eine Katastrophe
51. Kapitel: Der Plan Ralph Nicklebys und seines Freundes kommt zur Durchführung, gelangt jedoch zur Kenntnis eines Dritten
52. Kapitel: Nikolas verzweifelt an Madeline Brays Rettung, faßt jedoch später wieder Mut und entschließt sich, einen Versuch zu machen. – Familiennachrichten von den Kenwigs' und Lillyvicks
53. Kapitel: Wie Ralph Nicklebys und Arthur Grides Komplott weiter verlief
54. Kapitel: Die Krisis und der Ausgang des Projektes
55. Kapitel: Familienangelegenheiten, Sorgen, Enttäuschungen und Trübsal
56. Kapitel: Ralph Nickleby bietet sich durch Zufall Gelegenheit zur Rache an seinem Neffen, und er nimmt dazu den Beistand eines erprobten Bundesgenossen in Anspruch
57. Kapitel: Wie Ralph Nicklebys Bundesgenosse ans Werk ging und welchen Erfolg er dabei hatte
58. Kapitel: Eine Szene dieser Geschichte geht ihrem Ende zu
59. Kapitel: Die bösen Pläne drohen zu mißlingen, und Zweifel und Gefahren beunruhigen ihren Urheber
60. Kapitel: Die Gefahren häufen sich, und das Schlimmste kommt ans Licht
61. Kapitel: Nikolas und Kate verwirken die gute Meinung aller weltklugen Leute
62. Kapitel: Ein letzter Besuch bei Ralph Nickleby
63. Kapitel: Die Gebrüder Cheeryble geben verschiedene Erklärungen ab, teils für sich selbst, teils für andere; nur Mr. Timotheus Linkinwater gibt eine solche für eigene Rechnung ab
64. Kapitel: Ein alter Bekannter taucht unter sehr kläglichen Umständen auf, und die Schule in Dotheboys Hall wird für immer geschlossen
65. Kapitel: Schluß
1. Kapitel: Das alle übrigen einleitet
In einem entlegenen Teil der Grafschaft Devonshire lebte einst ein braver Mann namens Gottfried Nickleby, der sich ziemlich spät noch in den Kopf gesetzt hatte zu heiraten. Da er aber weder jung noch begütert war und daher nicht auf die Hand einer vermögenden Dame rechnen durfte, so verehelichte er sich lediglich aus Zuneigung mit einer alten Flamme, die ihn ihrerseits aus demselben Grunde nahm – so wie etwa zwei Leutchen, die es sich nicht leisten können, um Geld Karten zu spielen, einander hin und wieder den Gefallen erweisen, mitsammen eine Partie »umsonst« zu machen.
Die Flitterwochen waren bald vorüber, und da Mr. Nicklebys jährliches Einkommen achtzig Pfund nicht überstieg, blickte das Ehepaar sehnsüchtig in die Zukunft und verließ sich in nicht geringem Maß auf den Zufall, der ihnen aufhelfen sollte. Es gibt, der Himmel weiß, Menschen genug auf der Welt; und sogar in London, wo Mr. Nickleby in jenen Tagen wohnte, hört man nur wenig klagen, daß die Bevölkerung zu spärlich gesäet sei. Dabei aber – du lieber Gott – kann man lange suchen, bis man einen Freund entdeckt.
Mr. Nickleby spähte und spähte, bis ihn die Lider nicht weniger schmerzten als das Herz, aber nirgends wollte sich ein solcher blicken lassen. Wenn er dann die vom Ausschauen ermüdeten Augen seinem eigenen Herde zuwandte, so zeigte sich auch dort gar wenig, wo sie hätten ausruhen können.
Als schließlich Mrs. Nickleby nach fünf Jahren ihren Gatten mit ein paar Jungen beglückte, fühlte der tief gedrückte Mann die Notwendigkeit, für seine Familie zu sorgen, immer mehr und mehr, und er war bereits nach reiflicher Überlegung zu dem Entschluß gekommen, sich am nächsten Quartal in eine Lebensversicherung einzukaufen und dann ganz zufällig von irgendeinem Monument oder Turm herunterzufallen, als eines Morgens ein schwarzgesiegelter Brief mit der Nachricht anlangte, Mr. Ralph Nickleby, sein Oheim, sei gestorben und habe ihm sein ganzes kleines Vermögen von ungefähr fünftausend Pfund Sterling hinterlassen.
Da der Selige bei Lebzeiten keine weitere Notiz von seinem Neffen genommen, als daß er dessen ältestem Knaben, der infolge einer verzweifelten Spekulation den Namen seines Großonkels in der Taufe erhalten hatte, einen silbernen Löffel in einem Maroquinfutteral schickte – was, da dieser nicht allzuviel damit zu essen hatte, fast wie eine Satire darauf aussah, daß das Kind nicht mit einem solchen nützlichen Artikel im Munde auf die Welt gekommen war –, so wollte Mr. Gottfried Nickleby im Anfang die freudige Botschaft kaum glauben. Bei weiterer Prüfung stellte sich jedoch heraus, daß sich die Sache wirklich so verhielt. Der wackere alte Herr hatte, wie es schien, zuerst beabsichtigt, seine ganze Habe dem allgemeinen Rettungsverein zu hinterlassen, und zu diesem Zwecke auch bereits ein Testament aufgesetzt. Aber dieser Verein hatte einige Monate vorher das Pech gehabt, das Leben eines armen Verwandten Mr. Nicklebys zu retten, dem dieser wöchentlich ein Almosen von sechs Schillingen und drei Pence auszahlte. Deshalb widerrief Mr. Ralph Nickleby in höchst gerechter Entrüstung das Vermächtnis durch ein Kodizil und setzte seinen Neffen Gottfried zum Universalerben ein, um dadurch seinen Unwillen sowohl gegen die Gesellschaft, die das Leben des armen Verwandten gerettet, als auch gegen den armen Verwandten selbst, der es sich hatte retten lassen, auszudrücken.
Mit einem Teile dieser Erbschaft kaufte Gottfried Nickleby ein kleines Landgut unweit Dawlish in Devonshire und zog sich dorthin mit seiner Gattin und seinen zwei Kindern zurück, um von dem spärlichen Ertrage des Gütchens und den Interessen des ihm noch übrig bleibenden Kapitals zu leben. Als er nach fünfzehn Jahren, etwa fünf Jahre nach dem Tode seiner Gattin, starb, hinterließ er seinem ältesten Sohne Ralph dreitausend Pfund in barem Gelde und dem Jüngeren, Nikolas, tausend Pfund und das Landgut – wenn man anders ein Stück Feld ein Landgut nennen kann, das mit Ausnahme des Hauses und des eingeheckten Grasgartens keinen größeren Umfang hatte als der Russelplatz von Covent Garden.
Die zwei Brüder waren mitsammen in einer Schule in Exeter erzogen worden und hatten, da sie gewöhnlich wöchentlich einmal einen Besuch zu Hause machten, von ihrer Mutter oft lange Erzählungen über die Leiden ihres Vaters in den Tagen seiner Armut und die Wichtigkeit ihres verblichenen Onkels in den Tagen seines Wohlstandes mit angehört – Erzählungen, die auf die beiden Knaben einen sehr verschiedenen Eindruck hervorbrachten, denn während der jüngere, dessen Charakter schüchtern und begnügsam war, nur Winke darin sah, das Getriebe der Welt zu meiden und sein Glück in der Ruhe des Landlebens zu suchen, schöpfte Ralph, der ältere, die zwei großen Lehren daraus, daß Reichtum die einzige Quelle von Glück und Ansehen sei und daß er zur Erwerbung desselben alle Mittel anwenden dürfe, sofern sie nicht durch das Gesetz mit Todesstrafe bedroht wären. »Wenn meines Onkels Geld auch keinen Nutzen brachte, solange er lebte«, folgerte Ralph weiter, »so kam es doch nach seinem Tode meinem Vater zugute, der jetzt den höchst lobenswerten Vorsatz hat, es für mich aufzusparen. Und was den alten Herrn anbelangt, so fand dieser doch auch seinen Genuß darin, sich sein Lebtag lang bewußt zu sein, daß ihn seine Familie deshalb beneide und in Ehren halte.« So kam Ralph immer bei derartigen Selbstgesprächen zu dem Schluß, daß auf der ganzen Welt nichts dem Gelde gleichkomme.
Doch schon in frühen Jahren beschränkte sich der hoffnungsvolle Knabe nicht auf Theorien und rein abstrakte Spekulationen, sondern eröffnete bereits in der Schule ein kleines Wuchergeschäft, indem er zuerst Schieferstifte und Marmeln auf gute Zinsen auslieh und dann allmählich auf Kupfermünzen überging. Er quälte aber dabei seine Schuldner nicht etwa mit umständlichen und verwickelten Zinseszinsberechnungen. Sein Satz: »Zwei Pence für jeden Halfpenny« vereinfachte das Verfahren außerordentlich.
In gleicher Weise vermied der junge Ralph Nickleby alle umständlichen und verwickelten Berechnungen der einzelnen Tage – mit denen man, wie jeder weiß, der schon damit zu tun gehabt, selbst bei dem einfachsten Zinsfüße seine liebe Not hat –, indem er als allgemeine Regel feststellte, daß Kapital nebst Interessen immer am Taschengeldtage, das heißt am Samstag, zurückzuzahlen seien, wobei es sich gleich blieb, ob die Schuld am Montag oder am Freitag kontrahiert worden war. Er folgerte nämlich, und nicht mit Unrecht, daß die Zinsen eigentlich für einen Tag höher sein sollten als für fünf, da man annehmen könne, daß in ersterem Falle dem Borger aus einer besonders großen Verlegenheit geholfen werde, weil dieser sonst gewiß nicht unter solch drückenden Bedingungen Geld würde aufgenommen haben.
Nach dem Tode seines Vaters widmete sich Ralph Nickleby, der kurz zuvor in einem Londoner Handlungshaus untergebracht worden, seinem alten Hange, Geld zu erwerben, mit einer solchen Leidenschaft, daß er darüber seinen Bruder viele Jahre lang ganz und gar vergaß. Wenn auch hin und wieder ein Rückerinnern an seinen lieben alten Spielgefährten durch den Nebel, in dem er lebte, brach – denn das Geld umhüllt den Menschen mit einem Nebel, der auf die Gefühle der Jugendzeit weit zerstörender wirkt und einschläfernder als Kohlengas –, so tauchte damit doch immer zugleich der Gedanke auf, jener werde vielleicht, falls das gegenseitige Verhältnis inniger wäre, Geld von ihm borgen wollen. Daher schüttelte Mr. Ralph Nickleby dann jedesmal die Achsel und sagte: Es ist besser so, wie es ist.
Nikolas seinerseits lebte als Junggeselle auf seinem Erbgute, bis er, der Einsamkeit müde, die Tochter eines Nachbars mit einer Mitgift von tausend Pfund zum Weibe nahm. Die gute Dame gebar ihm zwei Kinder: einen Sohn und eine Tochter, und als der Sohn ungefähr neunzehn Jahre und die Tochter etwa vierzehn zählte, sah sich Mr. Nickleby nach Mitteln um, sein Kapital wieder zu vergrößern, das durch den Zuwachs seiner Familie und die Kosten der Erziehung der Kinder sehr zusammengeschmolzen war.
»Spekuliere damit!« meinte Mrs. Nickleby.
»Spekulieren, mein Schatz?« entgegnete Mr. Nickleby bedenklich.
»Warum denn nicht?«
»Weil wir nichts mehr zu leben hätten, wenn wir es verlören«, antwortete Mr. Nickleby in seiner gewohnten bedächtigen Weise.
»Pah«, erwiderte Mrs. Nickleby.
»Man könnte es ja immerhin überlegen, meine Liebe«, meinte Mr. Nickleby.
»Nikolas ist schon ziemlich herangewachsen«, drängte die Gattin, »und es ist Zeit, daß er sich für einen Beruf entscheidet. Und was soll aus unserem Käthchen, dem armen Kind, werden, wenn wir ihr keinen Heller mitgeben können? Denk an deinen Bruder. Würde er das sein, was er ist, wenn er nicht spekuliert hätte?«
»Das ist freilich wahr«, gab Mr. Nickleby zu. »Also gut, meine Liebe. Ich werde spekulieren.«
Spekulieren ist ein Hazardspiel. Die Spieler sehen am Anfang wenig oder gar nichts von ihren Karten, und der Gewinn kann groß sein, aber ebenso auch der Verlust.
Das Glück war gegen Mr. Nickleby. Die allgemeine Spekulationswut warf sich damals gerade wie toll auf eine bestimmte Aktienunternehmung; die Seifenblase barst, vier Faiseure kauften sich Landgüter in Florenz und vierhundert arme Schlucker, darunter auch Mr. Nickleby, waren – ruiniert.
»Das Haus, in dem ich wohne«, seufzte der unglückliche Spekulant, »kann mir morgen genommen werden. Kein Stück unserer alten Möbel bleibt uns. Alles wird an Fremde versteigert werden!«
Und dieser letzte Gedanke war ihm so schmerzlich, daß er sich in sein Bett legte, augenscheinlich fest entschlossen, wenigstens dieses in keinem Falle aufzugeben.
»Kopf hoch, Sir!« riet der Arzt.
»Sie müssen sich nicht so niederdrücken lassen, Sir«, sagte die Krankenwärterin.
»Solche Dinge kommen alle Tag vor«, meinte der Advokat.
»Und es ist eine große Sünde, sich dagegen aufzulehnen«, ermahnte der Pfarrer.
»Ein Mann, der seine Familie hat, sollte so etwas nie tun«, fügten die Nachbarn hinzu.
Mr. Nickleby aber schüttelte nur den Kopf dazu, bedeutete allen, das Zimmer zu verlassen, umarmte sein Weib und seine Kinder, drückte sie an das immer matter pochende Herz und sank dann erschöpft auf sein Kissen zurück. Bald sah die Familie zu ihrer großen Bestürzung, daß er irre zu reden begann, denn er sprach lange von der Großmut und der Güte seines Bruders und den schönen Tagen, die sie miteinander auf der Schule zugebracht hatten. Als der Anfall vorüber war, empfahl er sie feierlich dem Einen, der nie der Witwen und Waisen vergißt, lächelte matt, richtete das Gesicht zur Zimmerdecke empor und sagte, er glaube jetzt einschlummern zu können.
2. Kapitel: Handelt von Mr. Ralph Nickleby, seinen Geschäften und Unternehmungen. Ferner von einer großen Aktiengesellschaft, die für das ganze Land von größter Bedeutung ist
Mr. Ralph Nickleby war im eigentlichen Sinne des Wortes weder Kaufmann noch Bankier noch Sensal noch Notar. Man hätte überhaupt seinen Beruf nicht leicht bestimmen können. Nichtsdestoweniger ließ sich aus dem Umstande, daß er in einem geräumigen Hause in Golden Square wohnte mit einer Messingplatte an der Eingangstüre, die die Aufschrift »Bureau« trug, entnehmen, daß er irgendein Geschäft betrieb oder zu betreiben vorgab. Die weitere Tatsache, daß zwischen halb zehn und fünf Uhr täglich ein Mann mit einem aschfahlen Gesicht und rostbraunem Anzug anwesend war, in einem speisekammerähnlichen Gemach am Ende des Hausflurs auf einem ungewöhnlich harten Stuhl saß – und stets eine Feder hinter dem Ohr hatte, wenn er auf den Ruf der Klingel die Haustüre öffnete, schien das zu bestätigen.
Golden Square liegt ziemlich abgelegen. Es hat seine Glanzzeit hinter sich und gehört nur mehr unter die herabgekommenen Plätze, so daß nur wenige Geschäftsleute hier ihren Aufenthaltsort wählen. Die Wohnungen werden meistens vermietet und die ersten und zweiten Stockwerke gewöhnlich möbliert an ledige Herren abgegeben, die zugleich auch im Hause einen Kosttisch finden. Es ist vorzugsweise der Zufluchtsort der Fremden. Sonnverbrannte Männergestalten mit großen Ringen, schweren Uhrketten und buschigem Backenbart, wie sie sich zwischen vier und fünf nachmittags unter der Säulenhalle des Opernhauses versammeln, sobald geöffnet wird, um die Logenbilletts auszugeben, leben in Golden Square oder dessen Nähe. Einige Violinisten und ein Trompeter der Opernkapelle haben hier ihren Wohnsitz aufgeschlagen. In den Kosthäusern wird unaufhörlich musiziert, und die Töne der Klaviere und Harfen beleben die Abendstunden. In Sommernächten kann man aus den offenen Fenstern Gruppen von dunklen, schnurrbärtigen Gesichtern sehen, die fürchterliche Rauchwolken von sich blasen; und der Geruch aller möglichen Sorten von Tabak durchduftet die Luft.
Dem Anscheine nach eignet sich ein derartiger Platz nicht besonders für einen Geschäftsmann, aber Mr. Ralph Nickleby wohnte bereits seit vielen Jahren hier, ohne daß man je eine Klage von ihm gehört hätte. Er kannte niemand in der ganzen Umgebung, und niemand kannte ihn, obgleich er in dem Rufe eines unermeßlich reichen Mannes stand. Die Handwerker und Kaufleute hielten ihn für eine Art von Rechtsgelehrten, und die übrigen Nachbarn meinten, er wäre Generalagent oder etwas dergleichen. Aber alle diese Vermutungen stimmten so wenig wie Mutmaßungen über anderer Leute Angelegenheiten meistens.
Mr. Ralph Nickleby saß eines Morgens, zum Ausgehen angekleidet, in seinem Bureau. Er trug einen flaschengrünen Spencer über einem blauen Leibrock, eine weiße Weste, graumelierte Beinkleider und Stulpenstiefel. Der Zipfel eines schmalgefältelten Busenstreifs drängte sich, als ob er sich mit Gewalt sehen lassen wollte, zwischen dem Kinn und dem obersten Knopf der Weste hervor, während der Spencer nicht weit genug schloß, um eine lange, aus einer Reihe von einfachen goldenen Ringen bestehende Uhrkette zu verbergen, die an einer goldenen Repetieruhr in Mr. Nicklebys Tasche entsprang und in zwei Schlüssel endigte, von denen der eine zur Uhr selbst, der andere offenbar zu irgendeinem Patentvorlegeschloß gehörte. Mr. Nickleby trug das Haar gepudert, als wünsche er, sich dadurch ein menschenfreundlich wohlwollendes Aussehen zu geben. Wenn er dies aber wirklich beabsichtigte, so hätte er vor allem auch sein Gesicht pudern müssen, in dessen Falten, wie nicht minder in den kalten unsteten Augen, beständige Arglist lauerte.
Mr. Nickleby schlug ein vor ihm liegendes Kontobuch zu, warf sich in seinem Stuhl zurück und blickte mit zerstreuter Miene durch die glanzlosen Fensterscheiben. Häuser wie das seine pflegen in London einen trübseligen kleinen Hofraum zu haben, der gewöhnlich durch vier hohe weißgetünchte Mauern eingeschlossen ist und auf den die Schornsteine zürnend herabblicken. Auf solchen Erdflecken welkt alle Jahre ein verkümmerter Baum, der im Spätherbst, wenn andere Bäume ihre Blätter verlieren, so tut, als wenn er etwas Laub hervorbringen wollte, gar bald aber wieder von seiner Anstrengung abläßt, um bis zum nächsten Sommer dürr dazustehen, wo er dann den gleichen Prozeß wiederholt und vielleicht, wenn das Wetter besonders günstig ist, irgendeinen rheumatischen Sperling in Versuchung führt, auf seinen Zweigen zu zirpen. Man nennt diese dunklen Höfe bisweilen Gärten. Der Mieter wirft gewöhnlich gleich bei seinem Einzug einige Packkörbe und ein halbes Dutzend zerbrochene Gläser hinein, und da bleibt dann alles, bis wieder ausgezogen wird, liegen, um unter dem spärlichen Buchsbaum, dem verkümmerten Immerbraun und den zerbrochenen Blumentöpfen in Schmutz und Kot nach Belieben zu modern. In einen derartigen Raum schaute Mr. Ralph Nickleby hinaus, als er, die Hände in den Taschen, durch das Fenster sah. Die Aussicht hatte gerade nichts Einladendes, aber Mr. Nickleby war in düstere Gedanken verloren, und seine Augen wanderten schließlich zu einem kleinen schmutzigen Fenster linker Hand, durch das das Gesicht des Schreibers nur undeutlich sichtbar war, und da der Mann gerade aufblickte, so winkte er ihm einzutreten. Sofort erhob sich der Schreiber von seinem hohen Sessel, der von dem ewigen Aufundabrutschen wie poliert aussah, und erschien in Mr. Nicklebys Zimmer. Er war ein großer Mann in mittleren Jahren mit ein Paar Glotzaugen, von denen das eine unbeweglich war, einer Karfunkelnase, einem leichenfahlen Gesicht und einem Anzug, der aufs äußerste abgetragen, viel zu kurz und zu knapp und mit so wenig Knöpfen versehen war, daß man sich wundern mußte, wie es ihm gelang, seinem Eigentümer nicht vom Leibe zu fallen.
»War das halb ein Uhr, Noggs?« fragte Mr. Nickleby mit scharfer, unangenehmer Stimme.
»Nicht mehr als fünfundzwanzig Minuten nach der ...« Noggs wollte sagen, »nach der Wirtshausuhr«, besann sich jedoch rechtzeitig und ergänzte: »... nach der Sonne.«
»Meine Uhr ist stehengeblieben«, sagte Mr. Nickleby, »kann mir nicht erklären, warum.«
»Nicht aufgezogen«, meinte Noggs. «Doch, doch«, versetzte Mr. Nickleby.
»Vielleicht die Feder überdreht.«
»Kann nicht gut sein.«
»Muß wohl«, beharrte Noggs.
»Na, meinetwegen«, sagte Mr. Nickleby und steckte seine Repetieruhr wieder in die Tasche. »Vielleicht ist's so.«
Noggs gab einen eigentümlich grunzenden Ton von sich, wie er es gewöhnlich am Schlusse eines jeden Wortwechsels mit seinem Herrn zu tun pflegte, um dadurch anzudeuten, daß er recht behalten habe, und versank, da er selten zu sprechen wagte, ohne gefragt zu sein, in ein grämliches Schweigen, wobei er sich langsam die Hände rieb, an den Fingern knackte und sie auf jede mögliche Art verrenkte. Dabei gab er seinem gesunden Auge denselben starren und ungewöhnlichen Ausdruck, den das andere besaß, so daß es unmöglich war, zu erkennen, wohin er eigentlich blicke. Es war dies eine von den zahlreichen Eigentümlichkeiten Mr. Noggs' die jedem, selbst dem gleichgültigsten Beobachter, auf den ersten Blick auffallen mußte.
»Ich will jetzt nach der London Tavern gehen«, sagte Mr. Nickleby.
»Öffentliche Versammlung?« fragte Noggs.
Mr. Nickleby nickte.
»Ich erwarte einen Brief von meinem Sachwalter betreffs Ruddles Pfandverschreibung. Wenn das Schreiben überhaupt eintrifft, so muß es um zwei Uhr hier sein. Ich werde um diese Zeit aus der City nach Charing Cross gehen. Wenn also Briefe kommen, so werden Sie mir sie entgegenbringen.«
Noggs nickte. In diesem Augenblick wurde die Bureauklingel gezogen. Mr. Nickleby blickte von seinen Papieren auf, und sein Schreiber blieb unbeweglich stehen.
»Man hat geläutet«, sagte Noggs, als halte er es für nötig, seinen Gebieter darauf aufmerksam zu machen. »Zu Hause?«
»Ja.«
»Für jedermann?«
»Ja.«
»Auch für den Steuereinnehmer?«
»Nein. Er soll ein andermal wiederkommen.«
Noggs ließ sein gewohntes Grunzen hören, was soviel bedeuten sollte wie »ich dachte es ja«, und ging, da sich das Läuten wiederholte, zur Türe. Bald darauf kehrte er mit einem blassen Herrn namens Bonney zurück, der, eine schmale weiße Halsbinde nachlässig umgebunden, mit wirrem Haar hastig und unruhig ins Zimmer trat und überhaupt ganz so aussah, als habe man ihn in der Nacht aus den Federn geholt, ohne daß er sich zum Ankleiden hätte Zeit nehmen können.
»Mein lieber Nickleby«, rief der Herr, seinen weißen Hut abnehmend, der mit Papieren so voll gepfropft war, daß es ein Wunder schien, wie er ihn hatte auf dem Kopf tragen können, »es ist kein Augenblick zu verlieren, ich habe einen Wagen vor der Türe. Sir Matthew Pupker übernimmt den Vorsitz, und auf drei Parlamentsmitglieder können wir mit Bestimmtheit rechnen. Ich habe selbst zwei von ihnen aus den Betten geholt, und der dritte, der die ganze Nacht durch im Crockfordklub am Spieltisch gesessen hat, ist eben nach Hause gegangen, um seine Wäsche zu wechseln und ein paar Flaschen Sodawasser zu trinken. Er wird aber zur rechten Zeit dort sein, um vor der Versammlung seine Rede zu halten. Die durchwachte Nacht hat ihn zwar ein wenig hergenommen, aber das hat nichts zu sagen, er pflegt in solchen Fällen mit besonderem Nachdruck zu reden.«
»Es scheint also alles gutgehen zu wollen?« versetzte Mr. Ralph Nickleby, dessen Kaltblütigkeit in scharfem Gegensatz zu der Lebhaftigkeit seines Geschäftsfreundes stand.
»Gutgehen?« rief Mr. Bonney. »Es ist die feinste Idee, die je ausgeheckt worden ist. Vereinigte, verbesserte, hauptstädtische Warme-Semmeln- und Kuchenbäckerei und pünktliche Ablieferungsgesellschaft. Kapital fünf Millionen mit fünfmalhunderttausend Aktien à zehn Pfund. Ha, schon der Name wird machen, daß die Aktien in zehn Tagen über Pari stehen.«
»Und wenn's soweit ist?« entgegnete Mr. Ralph Nickleby lächelnd.
»Wenn's soweit ist, so wissen Sie so gut wie irgendeiner, was dann zu geschehen hat und wie man sich beizeiten ruhig aus der Affäre ziehen kann«, versetzte Mr. Bonney und klopfte dem Geldmann vertraulich auf die Schulter. »Apropos, Sie haben da einen seltsamen Menschen zum Schreiber.«
»Hm, ein armer Teufel«, brummte Ralph und zog seine Handschuhe an. »Und doch hat Newman Noggs seinerzeit Pferde und Hunde gehalten.«
»Was Sie nicht sagen«, warf der andere gleichgültig hin.
»Ja, ja. Und zwar vor nicht allzu langer Zeit. Aber er hat sein Geld durchgebracht. Legte es leichtsinnig an, borgte auf Zinsen und wurde, mit einem Wort, in kurzer Zeit zum Bettler. Er ergab sich dem Trunk, wurde vom Schlag gerührt und kam dann zu mir, um mich um ein Pfund anzupumpen. Und da ich, als er noch in besseren Verhältnissen war ...«