Loe raamatut: «Oliver Twist»
Charles Dickens
Oliver Twist
Oder Der Weg eines Fürsorgezöglings
Charles Dickens
Oliver Twist
Oder Der Weg eines Fürsorgezöglings
(Oliver Twist; or, The Parish Boy’s Progress)
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020
Übersetzung: Gustav Meyrink
Illustrationen: George Cruikshank
EV: Langen, München, 1914
3. Auflage, ISBN 978-3-943466-70-6
www.null-papier.de/dickens
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Autor und Werk
1 – Schildert den Ort, wo Oliver auf die Welt kam, sowie die seine Geburt begleitenden Umstände.
2 – Wie Oliver Twist aufwuchs, erzogen und verpflegt wurde.
3 – Berichtet, wie Oliver Twist beinahe eine Anstellung bekommen hätte, die nichts weniger als eine Sinekure gewesen wäre.
4 – Oliver erhält eine Stelle und tritt ins öffentliche Leben ein.
5 – Oliver bekommt einen neuen Horizont und wohnt zum ersten Mal einem Leichenbegängnis bei.
6 – Oliver rafft sich, durch Noah gereizt, zu tatkräftigem Handeln auf.
7 – Oliver bleibt verstockt.
8 – Oliver wandert nach London und trifft mit einem sehr seltsamen jungen Gentleman zusammen.
9 – Enthält weitere Einzelheiten über den liebenswürdigen alten Herrn und seine hoffnungsvollen Zöglinge.
10 – Oliver gewinnt Einblick in die Charaktereigenschaften seiner neuen Kollegen, bezahlt aber seine Erfahrung sehr teuer.
11 – Der Polizeikommissär Mr. Fang zeigt sich als außerordentlich tüchtiger Justizbeamter.
12 – Oliver findet eine bessere Pflege als je zuvor, und unsere Geschichte kehrt wieder zu dem menschenfreundlichen Mr. Fagin und seinen jungen Schützlingen zurück.
13 – Einige neue Personen werden vorgestellt.
14 – Eine bemerkenswerte Prophezeiung eines gewissen Mr. Grimwick über Oliver Twist.
15 – Zeigt, wie überaus lieb der alte Jude und Miss Nancy Oliver Twist hatten.
16 – Was aus Oliver wurde, nachdem ihn Nancy mit Beschlag belegt hatte.
17 – Zu Olivers Unglück kommt ein großer Mann nach London.
18 – Wie Oliver seine Zeit in Gesellschaft seiner hochachtbaren Freunde verbrachte.
19 – Es wird ein höchst bemerkenswerter Plan gefasst.
20 – Oliver wird Mr. William Sikes übergeben.
21 – Unterwegs.
22 – Der Einbruch.
23 – Enthält den wesentlichsten Teil einer anmutigen Unterredung zwischen Mr. Bumble und einer Dame und erbringt gleichzeitig den Beweis dafür, dass auch ein Kirchspieldiener in manchen Punkten äußerst empfindlich sein kann.
24 – Handelt von einer sehr armen Person.
25 – Handelt abermals von Mr. Fagin und Konsorten.
26 – Eine höchst geheimnisvolle Person erscheint.
27 – Eine frühere Unhöflichkeit, mit der wir eine Dame im Stiche gelassen, wird wieder gut gemacht.
28 – Olivers weitere Abenteuer.
29 – Handelt von den Bewohnern des Hauses.
30 – Was die Damen und Doktor Losberne von Oliver hielten.
31 – Eine kritische Situation.
32 – Handelt von dem glücklichen Leben, das Oliver bei seinen gütigen Freunden zu führen begann.
33 – Das Glück Olivers und das seiner Freunde erleidet einen plötzlichen Stoß.
34 – Ein junger Herr betritt den Schauplatz, und Oliver erlebt ein neues Abenteuer.
35 – Das Resultat von Olivers Abenteuer und eine Unterredung von ziemlicher Wichtigkeit zwischen Harry und Rose.
36 – Ein kurzes Kapitel, aber immerhin nicht unwichtig, da es das Vorhergehende erörtert und zum Nachfolgenden einen Schlüssel bietet.
37 – Ein Kontrast, der im Ehestande nicht ungewöhnlich ist.
38 – Was sich zwischen Mr. und Mrs. Bumble und Mr. Monks bei ihrer nächtlichen Zusammenkunft begab.
39 – Einige alte Bekannte treten auf, und Fagin und Monks stecken die Köpfe zusammen.
40 – Eine seltsame Unterredung.
41 – Neuerliche Enthüllungen, die den Beweis erbringen, dass Überraschungen wie Unglücksfälle selten allein kommen.
42 – Ein alter Bekannter Olivers reift zu einem öffentlichen Charakter heran.
43 – Der Baldowerer in der Patsche.
44 – Nancy wird verhindert, ihr Versprechen einzulösen.
45 – Noah Claypole wird von Fagin als Spion verwendet.
46 – Nancy erfüllt ihr Versprechen.
47 – Verhängnisvolle Folgen.
48 – Sikes’ Flucht.
49 – Monks und Mr. Brownlow treffen zusammen.
50 – Vergebliche Verfolgung.
51 – Mehr als ein Geheimnis wird aufgedeckt und ein Heiratsantrag wird gemacht, bei dem von Mitgift nicht die Rede ist.
52 – Fagins letzte Nacht.
53 – Was weiter noch zu berichten ist.
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Jürgen Schulze
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Autor und Werk
Charles John Huffam Dickens (als Pseudonym auch Boz; ✳ 7. Februar 1812 in Landport bei Portsmouth, England; † 9. Juni 1870 auf Gad’s Hill Place bei Rochester, England) war ein englischer Schriftsteller und Journalist. Er gilt als einer der herausragendsten Autoren seiner Zeit und als einer der ersten, die in realistischen Schilderungen das Leid einer unterprivilegierten Bevölkerung aufzeichneten.
»Oliver Twist oder der Weg des Fürsorgezöglings« ist Dickens’ zweiter Roman und wahrscheinlich sein heute bekanntestes Werk. Der Roman wurde zunächst, wie die meisten von Dickens’ Werken, als monatliche Fortsetzungsgeschichte für einen Schilling konzipiert und später überarbeitet.
Der Roman erzählt die Geschichte des Findelkindes und Waisenjungen Oliver Twist, der im Armenhaus aufwächst, ohne etwas über seine Herkunft zu wissen.
Er gerät in die Fänge des jüdischen Hehlers Fagin, der ihn vor dem sicheren Tod auf der Straße bewahrt, aber für einen hohen Preis. Fagins Schützlinge bilden eine Diebesbande. Der brutale Sikes und die ihm nahestehende Diebin Nancy treten ebenfalls in Olivers Leben. In solcher Gesellschaft lebend und lernend wird Oliver eines Tages auf eine Diebestour mitgenommen, die fatale Folgen für ihn hat. Nachdem ein Opfer bemerkt, dass es bestohlen wurde, wird Oliver fälschlicherweise für den Dieb gehalten.
Olivers Schicksal ist ein ständiges Pendeln zwischen Momenten des Glücks unter guten Menschen und den schlimmen Geschehnissen rund um Fagins Verbrechen.
Der Roman war ein großer Erfolg. Vor allem durch seine zum Teil drastische Schilderung von Kinderarbeit, Verbrechen und Massenarmut zurzeit der englischen Frühindustrialisierung. Er wurde mehrfach für Theater, Kino, Fernsehen und Comic adaptiert.
Diese nur leicht überarbeitete Fassung enthält mehre sehr schöne Originalzeichnungen von George Cruikshank.
1 – Schildert den Ort, wo Oliver auf die Welt kam, sowie die seine Geburt begleitenden Umstände.
Unter anderen öffentlichen Gebäuden in einer gewissen Stadt, die ich nicht nennen, der ich aber auch andrerseits keinen erdichteten Namen beilegen möchte, befand sich eines, wie es wohl die meisten Städte, ob groß oder klein, besitzen, nämlich ein Arbeitshaus; und in diesem wurde eines Tages der kleine Weltbürger geboren, dessen Name dieses Buch trägt.
Lange Zeit, nachdem der Arzt des Kirchspiels ihm zum Eintritt in diese Welt der Mühen und Sorgen geholfen, schien es recht zweifelhaft, ob er lange genug würde am Leben bleiben, um überhaupt einen Namen nötig zu haben.
Obwohl ich nicht behaupten möchte, dass es vielleicht ein glücklicher oder beneidenswerter Umstand wäre, der einem menschlichen Wesen zustoßen könnte, in einem Arbeitshaus geboren zu werden, so schien es doch in diesem besondern Fall für Oliver Twist das Beste, was sich augenblicklich für ihn ereignen konnte. Immerhin war es mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, ihn so weit zu bringen, dass er sich der Aufgabe des Atmens selbst unterzog, und eine Weile lang lag er als kleiner Weltbürger nach Luft schnappend auf einer Wollmatratze, bedenklich hin und her schwankend, ob er sich für diese oder jene Welt entscheiden sollte, wobei sich die Wage beträchtlich mehr für das Jenseits als für das Diesseits neigte. Wäre Oliver in diesem kritischen Zeitabschnitt von besorgten Großmüttern, ängstlichen Tanten, erfahrenen Ammen und Ärzten voll tiefer Weisheit umgeben gewesen, er hätte selbstverständlich die Stunde nicht überlebt. Da jedoch niemand zugegen war als ein armes altes Weib, das überdies infolge des ungewohnten Genusses von Bier sich in ziemlich angeheiterter Stimmung befand, und da auch der Kirchspielarzt die Sache ganz gewohnheitsmäßig behandelte, so focht Oliver seinen Kampf mit der Natur auf eigene Faust aus. Und die Folge davon war, dass er nach kurzem Kampfe atmete, nieste und endlich den Bewohnern des Arbeitshauses die Tatsache kund und zu wissen gab, dass er der Gemeinde eine neue Last aufgebürdet habe – das heißt, entschlossen sei am Leben zu bleiben. Er erhob zu diesem Zweck ein so lautes Geschrei, wie man es von einem Kind männlichen Geschlechtes füglich nur erwarten durfte.
Als Oliver diesen ersten Beweis selbstständiger Tätigkeit gab, bewegte sich eine Flickendecke, die nachlässig über eine eiserne Bettstelle geworfen war, und das bleiche Gesicht einer jungen Frau erhob sich matt von dem harten Kissen, und eine schwache Stimme hauchte mühsam die Worte: »Lassen Sie mich das Kind sehen; dann will ich gern sterben.«
Der Arzt, der, das Gesicht dem Feuer zugewandt, am Kamin saß und sich die Hände wärmte, trat bei diesen Worten der jungen Frau an das Kopfende des Bettes und sagte mit mehr Freundlichkeit im Ton, als man von ihm wohl erwartet hätte: »Sie haben durchaus keinen Grund, ans Sterben zu denken.«
»I Gott bewahre«, mischte sich die Wärterin ein und versenkte in ihrer Tasche eine grüne Flasche, von deren Inhalt sie sich bisher in einer verschwiegenen Ecke mit sichtlichem Behagen gestärkt hatte. »I Gott bewahr, wenn sie erst amal so alt g’worden is wie ich, Herr Doktor, und dreizehn Kinder g’habt hat und ihr erst alle gestorben sein werden wie mir bis auf zwei, die jetzt mit mir zusamm im Arbeitshaus sin, dann wird sie schon auf vernünftigere Gedanken kommen. Gott o Gott, denken Sie sich doch nur was es heißt, Mutter sein von so an hübschen kleinen Buberl; vergessens dös net.«
Ihre tröstlichen Worte schienen indes ihre Wirkung zu verfehlen, denn die Wöchnerin schüttelte den Kopf und streckte nur stumm ihre Arme nach dem Kinde aus. Der Arzt reichte es ihr, sie presste ihre kalten blutleeren Lippen heftig auf die Stirn des Kindes, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, blickte wild umher, schauderte zusammen, sank zurück – und starb. Sie rieben ihr Brust, Hände und Schläfen, aber das Herz hatte für immer zu schlagen aufgehört. Sie sprachen auf sie ein von Hoffnung und Zukunft, aber Hoffnung und Zuversicht waren der Armen seit langem fremd geworden.
»Es ist vorbei mit ihr, Mrs. Thingummy«, sagte der Arzt schließlich.
»Ja, ja die Arme«, sagte die Wärterin und bückte sich nach dem Pfropfen der grünen Flasche, der auf das Kissen gefallen war, als sie sich niedergebeugt, um das Kind aufzunehmen. »Das arme Kleine.«
»Sie brauchen nicht nach mir zu schicken, wenn das Kind schreien sollte«, sagte der Arzt und zog sich mit großer Sorgfalt seine Handschuhe an. »Es wird wahrscheinlich unruhig werden, dann geben Sie ihm etwas Haferschleim.« Damit setzte er seinen Hut auf und fragte, als er auf seinem Weg zur Tür an dem Bett vorüberkam. »Es war eine recht hübsche Person, wo ist sie denn hergekommen?«
»Man hat sie gestern Nacht hergeschafft«, erwiderte die alte Frau, »auf Befehl des Herrn Vorstands. Man hat sie auf der Gasse liegend gefunden. Sie muss hübsch weit hergekommen sein, denn ihre Schuhe waren zerrissen; aber wo sie herkommen ist oder wohin sie hat gehen wollen, weiß niemand.«
Der Arzt beugte sich über die Tote und ergriff ihre linke Hand. »Die alte Geschichte«, murmelte er kopfschüttelnd, »kein Ehering, wie ich sehe. Also gute Nacht.«
Damit ging er zu seinem Abendessen, und die Wärterin setzte sich, nachdem sie noch einmal der grünen Flasche zugesprochen, auf einen Stuhl in der Nähe des Kamins und begann das Kind in Windeln zu wickeln.
Da sah man wieder, wie wahr das Wort ist, dass Kleider Leute machen: bisher in ein Tuch gehüllt und in sonst nichts, hätte Oliver ebenso gut das Kind eines Adeligen wie das eines Bettlers sein können, aber jetzt, wo er in dem alten Kattunsteckkissen untergebracht war, dessen Farbe in langjährigem Dienst zu einem hässlichen Gelb verschossen war, sah man ihm sofort das Waisenkind des Arbeitshauses an, das nur dazu da war, durch die Welt geknufft zu werden, verspottet und verachtet von jedermann und von niemand bemitleidet. Oliver schrie aus vollem Halse. Hätte er gewusst, dass er eine Waise war und nur der Barmherzigkeit von Kirchenvorstehern ausgeliefert, hätte er wahrscheinlich noch viel lauter geschrien.
2 – Wie Oliver Twist aufwuchs, erzogen und verpflegt wurde.
Die nächsten acht bis zehn Monate war Oliver das Opfer systematischer Säuglingsfürsorge. Er wurde mit der Flasche aufgezogen. Von der elenden Lage des kleinen Waisenjungen machte man seitens der Vorstände des Arbeitshauses pflichtgemäß denen des Kirchspiels Meldung, worauf von letzteren in aller Form die Anfrage einlief, ob sich denn nicht im »Hause« eine Frauensperson befände, die in der Lage sei, Oliver seine natürliche Nahrung reichen zu können. Der Vorstand des Armenarbeitshauses erwiderte darauf untertänigst, dass dies leider nicht der Fall sei, worauf die Kirchspielbehörde den hochherzigen Entschluss fasste, Oliver in ein etwa drei Meilen entferntes Zweigarmenhaus bringen zu lassen, wo etwa zwanzig andere kleine Übertreter des Zuständigkeitsgesetzes unter der mütterlichen Aufsicht und ohne allzu sehr mit Nahrung oder Kleidung behelligt zu werden auf dem Stubenfußboden umherkollerten, was mit achteinhalb Pence pro Kopf und Woche in Rechnung gestellt wurde. Mit achteinhalb Pence lässt sich nicht viel bestreiten, aber die würdige Hausdame war eine kluge und erfahrene Frau und wusste, wie leicht sich Kinder überfressen können und was ihnen zuträglich ist; andrerseits aber auch, was ihr selbst zuträglich war. Sie verwendete daher den größeren Teil des Kostgeldes zu ihrem eigenen Wohl und verstand es auf diese Weise, die gesetzliche Grausamkeit noch um ein Beträchtliches zu vertiefen; sie bewies damit, wie weit sie es in der Experimentalphilosophie auf eigene Faust gebracht hatte.
Wohl jeder kennt die Geschichte des bekannten Experimentalphilosophen, der sich vorgenommen hatte, einem Pferde das Fressen abzugewöhnen, und diese Theorie so vorzüglich in die Praxis umsetzte, dass er sein Pferd bis auf einen Strohhalm pro Tag heruntertränierte und zweifelsohne ein außerordentliches, kräftiges, jedem Futter abholdes Tier aus ihm gemacht haben würde, wäre es nicht leider vierundzwanzig Stunden vor dem ersten kompletten Fasttag gestorben. Leider waren die Erfolge der erwähnten trefflichen Kostfrau nicht selten, was die Kirchspielkinder anbelangte, von gleichem Misserfolg gekrönt, indem die Kleinen entweder vor Kälte oder Hunger, oder weil sie sich tödlich verletzten oder verbrannten, frühzeitig starben und zu ihren Vätern, die sie nie gekannt, versammelt wurden.
Stellten wirklich einmal die Vorstände schärfere Nachforschungen als sonst nach dem Verbleib irgend eines Waisenkindes an, oder mischte sich das Gericht hinein und beschwerte sich den Kopf mit überflüssigen Fragen, so schützte das Zeugnis und die Aussage des Arztes und des Kirchspieldieners die Treffliche jedes Mal gegen Ungemach. Jedes Mal hatte der erstere dann die Leichen geöffnet und begreiflicherweise nichts darin gefunden, oder letzterer beschwor rastlos, was dem Kirchspiel passte, und lieferte damit einen Beweis seiner Hingebung und Selbstaufopferung. Besuchte das Vorstandskollegium von Zeit zu Zeit einmal die Zweiganstalt des Arbeitshauses, so versäumte es nie, jedes Mal tags zuvor den Kirchspieldiener vorauszusenden, damit auch alles in Ordnung sei. Und jedes Mal sahen dann die Kleinen reinlich und gut genährt aus -! Was konnte man mehr verlangen.
Dass dieses Pflege- und Ernährungssystem ein allzu kräftiges Gedeihen der Kinder zur Folge gehabt hätte, ließ sich nicht erwarten, und so zeigte sich denn auch Oliver Twist von seinem neunten Geburtstage an als ein schwaches, blässliches, im Wachstum zurückgebliebenes Kind. Dennoch lebte, ob von Natur oder als Erbschaft seiner Vorfahren, in Olivers Brust ein kräftiger energischer Geist, der dank der strengen Diät des Hauses Raum genug hatte, sich noch weiter zu entfalten.
Es war an Olivers neuntem Geburtstage. Während er diese Feier im Kohlenkeller zusammen mit zwei anderen jungen Herrn beging, die sich gleich ihm von einer ordentlichen Tracht Prügel erholten, die ihnen zuteil geworden, weil sie sich erfrecht hatten hungrig gewesen zu sein, wurde Mrs. Mann, die treffliche Pflegefrau, durch das plötzliche Erscheinen Mr. Bumbles, des Kirchspieldieners, der seine Schritte dem Gartenpförtchen zulenkte, in Schrecken gesetzt.
»Du mein Gott, Mr. Bumbles, sind Sie’s wirklich?« rief Mrs. Mann und steckte den Kopf anscheinend hocherfreut aus dem Fenster. »Susanna! Holen Sie gleich den kleinen Oliver herauf und die beiden anderen Lausbuben und waschen Sie sie – ach, Mr. Bumbles, wie ich mich freue, Sie wieder einmal zu sehen!«
Mr. Bumble war nun aber ein wohlbeleibter und ebenso heißblütiger Herr, und daher rüttelte er anstatt auf diese freundliche Bewillkommnung in höflicherweise zu antworten, wütend an der Gartenpforte und stieß mit dem Fuß in einer Weise dagegen, wie sie eben nur ein Kirchspieldiener beherrscht.
»Gott im Himmel«, rief Mrs. Mann aus dem Zimmer stürzend – die drei Jungen hatte man inzwischen weggebracht -, »ich habe ganz vergessen, dass ich der lieben Kleinen wegen das Gattertor von innen verriegelt habe. So spazieren Sie doch weiter, Sir. Bitte, treten Sie ein, Mr. Bumble.«
Ihre Einladung war von einem so freundlichen Lächeln begleitet, dass es sicherlich sogar das Herz eines Kirchenpresbyters erweicht haben würde; dennoch besänftigte es den Kirchspieldiener nicht im mindesten.
»Nennen Sie das einen respektvollen Empfang, Mrs. Mann?« fragte Mr. Bumble und fasste seinen Amtsstab noch fester, »dass Sie die Kirchspielbeamten an Ihrer Türe warten lassen, wenn sie in Parochialangelegenheiten und in betreff der Parochialkinder hierher kommen? Sie wissen doch, Mrs. Mann, dass Sie von der Parochialbehörde angestellt sind und von der Parochialbehörde bezahlt werden!«
»Ich erzählte gerade einem paar der lieben Kleinen, Mr. Bumble, derentwegen Sie so freundlich sind sich herzubemühen, dass Sie kommen würden«, wendete Mrs. Mann mit großer Unterwürfigkeit ein.
Mr. Bumble hatte eine sehr hohe Meinung von seiner Rednergabe und seiner amtlichen Wichtigkeit. Er hatte soeben die eine entfaltet und die andere gewahrt. Er schlug daher einen milderen Ton an.
»Nun, nun, Mrs. Mann«, sagte er, »ich bezweifle das ja gar nicht. Lassen Sie mich aber jetzt hinein, Mrs. Mann. Ich komme in Geschäften und habe Ihnen etwas mitzuteilen.«
Mrs. Mann führte den Kirchspieldiener in ein kleines Sprechzimmer, bot ihm einen Sessel an und legte dienstbeflissen seinen dreieckigen Hut und seinen Amtsstab auf den Tisch. Mr. Bumble wischte sich den Schweiß von der Stirn, blickte wohlgefällig auf seinen Dreispitz und lächelte. Wirklich und wahrhaftig, er lächelte! Aber Kirchspieldiener sind eben auch nur Menschen, daher lächelte Mr. Bumble.
»Sie dürfen jetzt nicht beleidigt sein wegen dem, was ich Ihnen sagen will«, begann Mrs. Mann mit bestrickender Liebenswürdigkeit. »Sie haben einen weiten Weg hinter sich, sonst würde ich gar nicht davon anfangen, aber sagen Sie, wollen Sie nicht ein Gläschen nehmen?«
»Nicht einen Tropfen, nicht einen Tropfen«, wehrte Mr. Bumble ab und schwenkte seine Rechte in würdevoller, aber freundlicherweise.
»Sie werden mir gewiss den Gefallen tun«, beharrte Mrs. Mann auf ihrer Bitte, den Ton, in dem die Weigerung gesprochen worden, aber auch die begleitende Gebärde wohl erfassend. »Nur ein ganz kleines Gläschen mit einem bissel kaltem Wasser und einem Stückchen Zucker?«
Mr. Bumble hüstelte.
»Nur ein ganz kleines Gläschen«, wiederholte Mrs. Mann ihre Bitte in dringendem Ton.
»Was ist es denn?« fragte der Kirchspieldiener.
»Ach Gott, ich muss immer ein bisserl davon hier haben, dass ich den lieben Kleinen eine kleine Herzstärkung geben kann, wenn ihnen nicht recht gut ist, Mr. Bumble«, erwiderte Mrs. Mann, öffnete ein Schränkchen und holte eine Flasche und ein Glas her vor. »Es ist Genevre, ich will Ihnen nichts vormachen, Mr. Bumble, es ist nur Genevre.«
»Geben Sie denn den Kindern Schnaps, Mrs. Mann?« fragte der Kirchspieldiener und verfolgte mit den Blicken den interessanten Prozess der Mischung.
»O mein, ich tue’s halt, so teuer es auch kommen mag«, versetzte die Pflegefrau. »Sie wissen doch, ich könnt die armen Kleinen niemals nicht leiden sehen.«
»Nein, nein«, sagte Mr. Bumble zustimmend, »Sie können es nicht. Sie sind überhaupt eine sehr humane Frau« – dabei setzte sie das Glas vor ihn hin – »ich werde nicht versäumen, bei der nächsten besten Gelegenheit es den Vorständen gegenüber zur Sprache zu bringen, Mrs. Mann«, (dabei zog er das Glas näher zu sich) »Sie fühlen wie eine Mutter«, (dabei ergriff er das Glas) »ich trinke hiermit auf Ihre Gesundheit, Mrs. Mann« (dabei goss er das Glas zur Hälfte hinunter). »So und jetzt wollen wir vom Geschäft reden«, sagte er und holte ein ledernes Taschenbuch hervor. »Der Knabe, der in der Waisentaufe den Namen Oliver Twist bekommen hat, wird heute neun Jahre alt.«
»Gottes Segen über ihn«, warf Mrs. Mann dazwischen und konnte nicht umhin, sich die Augen mit der Schürze zu trocknen.
»Trotz der ausgeschriebenen Belohnung von zehn Pfund, und später sogar von zwanzig Pfund, und trotz der geradezu übernatürlichen Anstrengungen des Kirchspiels«, fuhr Mr. Bumble fort, »sind wir nicht imstande gewesen, seinen Vater zu eruieren oder in Erfahrung zu bringen, wie seine Mutter hieß, was sie war und woher sie stammte.«
Mrs. Mann hob erstaunt die Hände gen Himmel, dachte einen Augenblick nach und fragte: »Wie kommt es denn dann, dass er überhaupt einen Namen hat?«
Der Kirchspieldiener warf sich in die Brust und antwortete: »Den hab ich erfunden.«
»Sie, Mr. Bumble?«
»Jawohl, ich, Mrs. Mann. Wir benennen unsre Zöglinge immer nach dem Alphabet. Zuletzt hielten wir bei S – Swubble, so nannte ich das vorletzte Waisenkind, und der nächste war ein T – Twist; ich habe ebenfalls den Namen erfunden. Wenn wieder einer kommt, wird er Unwin heißen, und der Nächstfolgende Vilkins. Ich habe mir schon eine ganze Reihe von Namen ausgedacht, durchs ganze Alphabet hindurch; und wenn ich bei Z angekommen bin, fange ich beim A wieder an.«
»Ja, ja, Sie sind halt fast ein Dichter«, sagte Mrs. Mann.
»Nun, nun, mag sein«, gab der Kirchspieldiener zu, durch dieses Kompliment sichtlich geschmeichelt; »mag sein, Mrs. Mann.« Damit trank er sein Glas aus und setzte hinzu: »Oliver ist jetzt schon viel zu alt, um noch länger hier bleiben zu dürfen. Deshalb hat die Behörde beschlossen, ihn wieder zurück ins Arbeitshaus zu nehmen. Ich bin selber hergekommen, um ihn abzuholen. Wo steckt er?«
»Ich werde ihn sogleich holen«, sagte Mrs. Mann und ging zur Türe.
Gleich darauf erschien sie wieder mit Oliver, der inzwischen gewaschen, gestriegelt und angekleidet worden war.
»Mach ein Buckerl vor dem Herrn, Oliver«, sagte sie.
Oliver machte einen Kratzfuß, der zur Hälfte dem Kirchspieldiener und zur anderen Hälfte dem Dreispitz auf dem Tische galt.
»Willst du mit mir gehen, Oliver?« fragte Mr. Bumble feierlichst.
Oliver wollte schon antworten, dass er jederzeit aufs bereitwilligste mit wem immer fortzugehen willens sei, blickte aber zufällig dabei Mrs. Mann an, die hinter den Stuhl des Kirchspieldieners getreten war und Oliver mit fürchterlicher Miene mit der Faust drohte. Er begriff sofort, denn er wusste nur zu gut, was diese Faust alles vermochte.
»Kommt sie auch mit?« fragte er schüchtern.
»Nein, sie kann nicht mitkommen«, sagte Mr. Bumble, »aber sie wird dich schon zuweilen besuchen dürfen.«
Das war gewiss kein besonderer Trost für Oliver, aber trotz seiner Jugend hatte er Grütze genug, sich zu stellen, als verließe er das Haus nur ungern, und überdies waren ihm die Tränen infolge des ewigen Hungerleidens und der erst vor kurzem erfahrenen Züchtigung näher als das Lachen. Wiederholt umarmte ihn Mrs. Mann und gab ihm, was er am meisten brauchte, nämlich ein großes Stück Butterbrot, damit er im Arbeitshaus nicht allzu hungrig ankäme. Damit war die Sache abgemacht. Mit dem Stück Brot in der Hand und seiner kleinen Waisenjungenkappe aus braunem Tuch auf dem Kopf, wurde er sogleich von Mr. Bumble aus dem fürchterlichen Heim geführt, wo niemals der Strahl eines freundlichen Blickes die Finsternis seiner ersten Kinderjahre erhellt hatte. Dennoch konnte er Tränen kindlichen Schmerzes nicht zurückdrängen, als sich das Gartentor hinter ihm schloss; verließ er doch seine Leidensgefährten, die einzigen Kameraden, die er je gekannt, und jetzt zum ersten Mal, seit er wusste, was Erinnerung ist, wurde ihm das Gefühl gänzlicher Verlassenheit in der großen weiten Welt bewusst.
Mit schnellen Schritten eilte Mr. Bumble vorwärts, und der kleine Oliver klammerte sich an seine mit Goldborten besetzten Schöße, trottete neben ihm her und fragte, als sie kaum eine Viertelmeile hinter sich hatten, ob sie bald am Ziele wären. Auf diese öfters wiederholten Fragen gab Mr. Bumble jedes Mal nur sehr kurze und brummige Antworten, denn die Milde, die der Genevre mit heißem Wasser gemischt in seinem Gemüt vielleicht erzeugt haben müsste, war längst verflogen, und er fühlte sich wieder Kirchspieldiener vom Scheitel bis zur Sohle.
Oliver war noch nicht eine Viertelstunde innerhalb der Mauern des Arbeitshauses und hatte kaum ein zweites Stückchen Brot verschlungen, als Mr. Bumble, der ihn der Obhut einer alten Frau inzwischen anvertraut, zurückkehrte und ihm erklärte, die Herren Vorstände hätten befohlen, er solle unverzüglich vor ihnen erscheinen.
Oliver, der keine besonders klare Vorstellung von dem hatte, was ein Vorstand alles sein kann, war von dieser überraschenden Mitteilung förmlich betäubt und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Es blieb ihm jedoch keine Zeit über diesen Punkt ins reine zu kommen, denn Mr. Bumble versetzte ihm eins mit dem Stock über den Kopf, um seine Geisteskräfte zu erwecken, und eins über den Rücken, um ihn zur Eile anzuspornen. Dann befahl er, ihm zu folgen, und führte ihn in ein großes weißgetünchtes Zimmer, in dem acht oder zehn wohlbeleibte Herren um einen Tisch herumsaßen. Zu oberst in einem Armstuhl, der ein bisschen höher war als die übrigen, ein ganz besonders wohlbeleibter Herr mit einem kugelrunden roten Kopf.