Loe raamatut: «Der wilde Sozialismus»

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CHARLES REEVE, geboren 1945 in Lissabon, lebt seit seiner Desertion aus der portugiesischen Kolonialarmee 1967 als Aktivist und Schriftsteller in Paris. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt Die Hölle auf Erden. Bürokratie, Zwangsarbeit und Business in China (mit Xi Xuanwu, Edition Nautilus 2000).

FELIX KURZ ist Übersetzer von Essays, Sachbüchern und wissenschaftlicher Literatur aus dem Englischen und Französischen. Für die Edition Nautilus hat er Business as usual. Krise und Scheitern des Kapitalismus (2013) von Paul Mattick übersetzt.

CHARLES REEVE

DER WILDE SOZIALISMUS

SELBSTORGANISATION UND DIREKTE DEMOKRATIE IN DEN KÄMPFEN VON 1789 BIS HEUTE

AUS DEM FRANZÖSISCHEN ÜBERSETZT VON FELIX KURZ


Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien unter dem Titel Le Socialisme sauvage. Essai sur l’auto-organisation et la démocratie directe de 1789 à nos jours bei Éditions l’Échappée, Paris 2018.


Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin.

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D-22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus GmbH 2019

Deutsche Erstausgabe

September 2019

Satz: Jorghi Poll, Wien

Umschlaggestaltung:

Olga Machverkova, Hamburg

ePub ISBN 978-3-96054-211-7

INHALT

EINLEITUNG

AM ANFANG ANGEKOMMEN, ODER LOB DER UNMÄSSIGKEIT

KAPITEL 1

DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION (1789–1795)

SOUVERÄNITÄT VERSUS DELEGATION

KAPITEL 2

DIE PARISER KOMMUNE (1871)

DIE GRENZEN EINER PRAXIS DER »REINEN DEMOKRATIE«

KAPITEL 3

DIE ERSTE INTERNATIONALE (1864–1877)

AUTORITÄTSPRINZIP UND REVOLUTIONÄRE ORGANISATION

KAPITEL 4

GENERALSTREIK ODER MASSENSTREIK?

DER REVOLUTIONÄRE SYNDIKALISMUS UND DAS BEDÜRFNIS NACH SELBSTREGIERUNG

KAPITEL 5

DIE REVOLUTION IN RUSSLAND (1905–1917)

DIE »UNVERFÄLSCHTE« DEMOKRATIE DER SOWJETS

KAPITEL 6

DAS LENINISTISCHE REZEPT: »ARBEITERKONTROLLE« GEGEN »DIE AUGENBLICKLICHEN LAUNEN DER ARBEITEROPPOSITION«

KAPITEL 7

DIE REVOLUTION IN DEUTSCHLAND (1918–1921)

EINE SPONTANE UND UNERWARTETE BEWEGUNG

KAPITEL 8

RUSSLAND UND DEUTSCHLAND – BILANZEN

DER WILDE SOZIALISMUS UND DIE LETZTEN SPALTUNGEN IN DER ALTEN ARBEITERBEWEGUNG

KAPITEL 9

DER RÄTEGEDANKE UND DIE ZUKÜNFTIGE GESELLSCHAFT

KAPITEL 10

DIE RÄTE – PRINZIPIEN UND DEBATTEN

KAPITEL 11

SPANIEN 1936, EINE UNVOLLENDETE REVOLUTION

KAPITEL 12

DAS SELTSAME UND NEUE DES MAI 1968

KAPITEL 13

WILDER SOZIALISMUS OHNE PARTEIEN

DIE PORTUGIESISCHE REVOLUTION (1974/75)

KAPITEL 14

WO DAS NEUE IN DAS ALTE GREIFT

DIE BEWEGUNGEN DER GEGENWART

KAPITEL 15

VOM ZAPATISMUS ZU DEN ZAD

AVANTGARDISMUS UND SELBSTORGANISATION

KAPITEL 16

DIE COMMONS UND IHRE GRENZEN

SCHLUSS

DIE KRISE DER REPRÄSENTATION UND DIE UNTERBROCHENE SOZIALE EMANZIPATION

DANKSAGUNG

ANMERKUNGEN

In Erinnerung an das Leben, das jenseits der Zeit der alten Welt gelebt wurde, an den Mai 1968 und die portugiesische Revolution 1974/75.

Für Serge Bricianer (1923–1997), Francisco Gómez (1917–2008), Paul Mattick (1904–1981) und Ngô Van (1913–2005) – Freunde, die für mich immer menschliche und politische Bezugspunkte waren.

EINLEITUNG
AM ANFANG ANGEKOMMEN, ODER LOB DER UNMÄSSIGKEIT

Es heißt, das Ende der Welt sei heute leichter vorstellbar als das Ende des Kapitalismus. Ein düsterer Satz, der Verwirrung stiftet, schließlich liegt auf der Hand, dass der Welt und dem Kapitalismus ein- und dasselbe Ende droht. Er drückt aber auch den Geisteszustand politischer Kräfte aus, für die der Zusammenbruch des staatskapitalistischen Blocks eine Enttäuschung, ja Niederlage darstellte, weil ihre Hoffnungen untrennbar mit einem staatlichen Modell von gesellschaftlichem Wohl verbunden waren. Eine positive Erwiderung auf den Slavoj Žižek zugeschriebenen1 pessimistischen Satz gaben die Platzbesetzungen der Nuit debout, die im Frühjahr 2016 in Frankreich stattfanden: »Ein anderes Ende der Welt ist möglich«, lautete eine ihrer Losungen. Sie besagt, dass uns der von Grauen und Barbarei gesäumte Pfad des Kapitalismus zwar gewiss in die finale Katastrophe führen kann, uns aber noch immer die Freiheit bleibt, seine Überwindung zu denken und entsprechend zu handeln. Das Ende der kapitalistischen Welt muss nicht das Ende der Welt schlechthin sein.

Das vorliegende Buch behandelt die verschiedenen revolutionären Phasen der sozialistischen Bewegung nicht in der Manier eines Historikers, auch wenn die Geschichte offenkundig im Mittelpunkt unserer Reflexionen steht. Vielmehr kommt es auf sie zurück, um sich aus der Perspektive häretischer Sozialismuskonzeptionen mit ihnen auseinanderzusetzen – bruchstückhaft, manchmal kursorisch und immer parteiisch. Uns interessieren Strömungen, die in offiziellen und offiziösen, der Normalität bestehender oder werdender Mächte verpflichteten Geschichtsschreibungen als »unmäßig« und »extrem« auftauchen und von den Führern des orthodoxen Sozialismus recht bald als »wild« klassifiziert wurden, weil sie sich ihnen entzogen. Aus diesem parteiischen Blickwinkel verteidigen wir folgenreiche Entscheidungen: das Eintreten der Enragés für das imperative Mandat während der Französischen Revolution, den Kampf der Sowjets in den russischen Revolutionen von 1905 und 1917, die sich die Macht über die Neugestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht nehmen lassen wollten, die Selbstregierung der Räte und die Versuche einer Sozialisierung der Ökonomie in der deutschen Revolution von 1918 bis 1920, die Gründung anarchistischer Kollektive in der spanischen Revolution sowie die Praktiken der autonomen Selbstorganisation im wilden Generalstreik des Mai 1968 und während der portugiesischen Revolution von 1974/75. Beschränkt durch das Format des Essays, haben wir uns dafür entschieden, andere subversive Momente der modernen Geschichte beiseite zu lassen. Dies betrifft besonders die Arbeiterrevolten gegen die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa installierten staatskapitalistischen Regime: in Berlin 1953, Ungarn 1956, Polen 1956 und 1970/71 – Revolten, in deren Verlauf die Kraft der spontanen Selbstorganisation und die antibürokratischen Ziele deutlich machten, dass diese neuartigen Gesellschaften von Ausbeutung und Gewalt gekennzeichnet waren, zugleich ihre Schwäche offenbarten und ihren späteren Zusammenbruch vorausahnen ließen.

Es gibt einige Grundannahmen, die wir bei gewissen Nuancen und unwesentlichen Differenzen mit allen teilen, die sich auf die antiautoritären Strömungen des Sozialismus beziehen. Zu den nicht verhandelbaren Gewissheiten zählt, dass es die permanente Delegation von Macht und das damit zwangsläufig verbundene Autoritätsprinzip zu kritisieren gilt, weil sie grundsätzlich unvereinbar sind mit der Veränderung der Welt. Wenn wir uns mit der Geschichte befassen, dann erkennen wir, dass der widersprüchliche Prozess der Überwindung des Kapitalismus sich nur entfalten kann, wenn diejenigen, die ein Interesse an ihm haben, gemeinsam neue Formen des Lebens, der Produktion und des Konsums selbst organisieren. Seine Kraft kann er nur aus einer ausdrücklichen Ablehnung jener Trennungen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gewinnen, auf denen die Aufrechterhaltung der bestehenden Macht beruht.

Jenseits dieser Gewissheiten kann alles hinterfragt und diskutiert werden; das vorliegende Buch versteht sich insofern als Beitrag zu einer notwendigen Erneuerung. Indem wir unseren Streifzug mit den jüngeren Bewegungen und den durch sie ausgelösten Debatten abschließen, versuchen wir zu zeigen, dass sie eine Nähe zu Strömungen des »wilden Sozialismus« aufweisen. So widersprüchlich und begrenzt sie auch sein mögen, lösen sie sich doch von den Prinzipien und Zielen eines Sozialismus der Führer, der Partei, die sich im Besitz des für die Veränderung nötigen Wissens wähnt. Bislang sind diese Bewegungen von den institutionalisierten Organisationen der Vergangenheit noch nicht vereinnahmt oder entstellt worden. Es hat ihnen schlichtweg an einer eigenständigen Dynamik gefehlt, was es traditionellen Kräften ermöglicht hat, den von ihnen angestrebten Bruch im Keim zu ersticken. Die Anfänge der Zukunft gehen immer mit den letzten Kraftanstrengungen einer aus den Fugen geratenen Vergangenheit einher. Doch an den aufgeworfenen Fragen kommt niemand vorbei; sie werden bleiben. Denn das mögliche Neue schreitet tastend voran, durch Vorstöße, die sich erschöpfen und dann abermals einsetzen.

Den Gegensatz zwischen einer auf dauerhafter Delegierung beruhenden Demokratie und der direkten Ausübung von Souveränität haben wir bis heute nicht überwunden. Wie Peter Kropotkin mit Blick auf die Französische Revolution bemerkte, muss die direkte Demokratie immer darum ringen, sich in Emanzipationsbewegungen Bahn zu brechen.

Unser Vorhaben besteht also darin, gemeinsam mit dem Leser den roten – oder schwarz-roten – Faden der gesellschaftlichen Emanzipation zu verfolgen, einer Fähigkeit zur Subversion der bestehenden Welt seitens all derer, die daran interessiert und beteiligt sind. Anders gesagt: den mühsamen und steilen Weg des wilden Sozialismus, der von der Französischen Revolution bis zu Occupy Wall Street führt.

KAPITEL 1
DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION (1789–1795)
SOUVERÄNITÄT VERSUS DELEGATION

Die Ursprünge auf Repräsentation beruhender Organisationsformen reichen bis in vorkapitalistische Gesellschaften und die Staaten der Antike zurück. Später findet man entsprechende Formen in den Städten des europäischen Mittelalters, wo die Produzenten – die in Zünften zusammengeschlossenen Handwerker – die öffentlichen Angelegenheiten in Versammlungen regelten. Auch in der ersten englischen Revolution im 17. Jahrhundert (1648–1657) bauten die Organisationen der Soldaten auf dem Prinzip der Repräsentation auf. Allerdings war diese Art von Demokratie »nicht der Geltung einer theoretisch formulierten Verfassung zu verdanken«1, die allen Menschen gleiche Rechte zuerkannt hätte; die politischen Organe wurden von Minderheiten beherrscht, die die wirtschaftliche Macht besaßen, während die Ausgebeuteten vom Prozess der Repräsentation ausgeschlossen blieben.

EIN KORREKTIV DER REINEN DEMOKRATIE

In der Französischen Revolution von 1789 hielt das Bürgertum der mit dem Gottesgnadentum begründeten Souveränität der Monarchie den Gedanken der Volkssouveränität und der formalen Gleichheit der Bürger entgegen – eine Idee, die von nun an die Grundlage politischer Theorien über die repräsentative Macht bildete. Der Verlauf der Revolution, bestimmt vom Bedürfnis des Bürgertums, sich mit den Ausgebeuteten zu vereinen, um die feudalen Hindernisse für die Entwicklung des Kapitalismus aus dem Weg zu räumen, hatte allerdings unmittelbar zur Folge, dass die Ausübung der Volkssouveränität zu einem Problem erklärt wurde: »Wenn es auch für die Bourgeoisie der Neuzeit eine Notwendigkeit war, gegen den Absolutismus zu behaupten, daß alle Gewalt vom Volk ausgeht, so konnte sie dennoch nicht zugeben, daß sie vom Volk auch ausgeübt würde. Also mußte ein Korrektiv gefunden werden.«2 Konkret: Die Bourgeoisie, deren Macht als Klasse noch gering war, fürchtete, dass »die unter die Räder der Konkurrenz und der Ausbeutung kommenden Kleinbürger und Arbeiter zu viel Macht über den Gesetzgebungsprozess gewinnen«.3 Das benötigte Korrektiv fand seine vollendete Form im System der parlamentarischen Vertretung. Das Prinzip der dauerhaften Delegierung ermöglichte es, am Gedanken der Volkssouveränität festzuhalten und zugleich die ältere, vom Spätfeudalismus hinterlassene Institution des Parlaments zu nutzen. In »der Theorie ging alle Gewalt vom Volke aus, doch in der Praxis wurde ihm das Recht abgesprochen, sie selber auszuüben: das Volk durfte sie nur ›delegieren‹«.4 So meinte man »einen der großen Nachteile der Demokratie« beheben zu können, von dem Montesquieu als Stimme des liberalen Adels gesprochen hatte, nämlich dass das Volk »ganz und gar unfähig« sei, die eigene Souveränität auszuüben, wie die Revolution sie gefordert hatte.5 Die praktischen Formen dieser Korrektur durch permanente Delegierung waren Gegenstand eines langen und widersprüchlichen Kampfes. Anfangs eingeschränkt nach Einkommen, sozialer Stellung und Geschlecht, wurde das Wahlrecht nur schrittweise auf die Mehrheit der ärmeren Klassen und später auf die Frauen ausgeweitet. Der Kampf für seine Einführung blieb daher ein wichtiges Moment im Denken und politischen Handeln der Ausgebeuteten. Mit der Zunahme von Klassenkämpfen und der Entwicklung des Kapitalismus erwiesen sich das allgemeine Wahlrecht und das repräsentative System allerdings schließlich als unverzichtbar, um den gesellschaftlichen Konsens zu festigen und die politische Macht des Bürgertums zu legitimieren. Es zeigte sich nun, dass eine solche Demokratie »keine Schwäche des Kapitals ist, sondern umgekehrt ein Ausdruck der inneren Kraft des Kapitalismus«.6

Einige Denker wie Rousseau erkannten zwar, dass die Delegierung von Souveränität deren Negation gleichkam: »Die Souveränität […] kann nicht vertreten werden; sie besteht wesentlich im Allgemeinwillen, und der Wille lässt sich nicht vertreten.«7 Im Rückgriff auf den Gedanken der »menschlichen Natur« kamen sie indessen zu dem Schluss, die wahre Demokratie werde niemals existieren, da die Menschen nun einmal unvollkommen seien. Von dieser Auffassung wich Robespierre nicht besonders weit ab, als er schrieb: »Die Demokratie ist ein Zustand, in dem das souveräne Volk […] von sich aus all das macht, wozu es auch in der Lage ist, und durch Delegierte all das, was es nicht selber tun kann.«8 So gelangten die Jakobiner als extreme politische Strömung der neuen führenden Klassen zu einer klaren Ablehnung direkter Demokratie, von Robespierre »die reine Demokratie« genannt. Stattdessen versuchten sie die Mängel des parlamentarisch-repräsentativen Systems mit rechtlichen Mitteln zu beheben, indem sie Garantien und Regeln einführten, die Verfehlungen und Willkür der gewählten Vertreter verhindern sollten. Denn eine Annahme in der Lehre Robespierres lautete, diese würden immer versucht sein, sich gegenüber den Wählern untreu zu verhalten, und es an Integrität fehlen lassen. Die Ausübung von Macht barg somit Gefahren: »Der Mandatsträger neigt grundsätzlich zur Untreue, weil die Wahrnehmung jeglichen Mandats persönliche Vorteile (Stolz, Reichtum oder Ehrgeiz) mit sich bringt, deren Erwerb oder Erhalt auf lange Sicht die anfängliche Integrität selbst der Bestgesinnten beschädigt.«9 Nicht nur war das Volk demnach selbst unfähig zur Ausübung der Macht, es musste auch vor der Untreue seiner Vertreter geschützt werden – durch unabhängige Aufseher, die selbst nicht gewählt wurden, ihm aber seine Rechte sichern und ihm gegen die Mängel seiner Amtsträger zur Seite stehen sollten. Die Idee war nicht neu. Unter anderen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen befasste sich auch die griechische Demokratie der Antike mit ihr; sie siedelte »Experten« außerhalb der Politik an und griff dabei auf Sklaven zurück. Auf diese Weise sollte die freien Männern vorbehaltene Macht der Entscheidung von der Sklaven zugewiesenen Macht der Ausführung getrennt werden.10

Für die Jakobiner in der Französischen Revolution ging es somit darum, die öffentliche Sphäre vor Mängeln und Missbrauch eines Systems der permanenten Machtdelegation zu schützen, dessen zwangsläufige Unvollkommenheit sie anerkannten. Dies ging so weit, dass sie den Schutz des Volkes durch nicht gewählte, nicht dem demokratischen Delegierungsprinzip unterworfene Aufseher vorschlugen – ein Paradox, das vielleicht auch einem Eingeständnis gleichkam. Ihnen zufolge war dies die einzige Möglichkeit, ein Gegengewicht zu der vom repräsentativen System selbst hervorgebrachten Enteignung der Souveränität zu schaffen. Die Anerkennung des demokratischen Grundsatzes der formellen Gleichheit machte zwangsläufig die soziale Ungleichheit erkennbar, die sein Fundament bildet. Im Bewusstsein, wie gefährlich es war, dem aufständischen Volk die Ausübung seiner Souveränität zu verwehren, waren die Jakobiner durchaus bereit, dessen Handeln – in gewissen Grenzen – als ein Druckmittel gegenüber dem repräsentativen System zu akzeptieren: eine Art souveräne Ausnahme. Dieses Arrangement illustriert Peter Kropotkins Auffassung, aufgrund ihrer sozialen Zusammensetzung seien die Jakobiner grundsätzlich eine opportunistische Strömung gewesen: »Der Jakobinerklub hat die Revolution nicht geleitet, er ist ihr vielmehr nur gefolgt. […] der Geist des Klubs wechselte mit jeder neuen Krise.«11 Laut Kropotkin, der in seiner Studie zur Französischen Revolution das Handeln des Volkes in den Mittelpunkt rücken wollte, überzeichnete die spätere Geschichtsschreibung die Fähigkeit der Jakobiner zur Initiative, deren gesellschaftliche Rolle in Wirklichkeit eine geringere gewesen sei.12

Tatsächlich war es das Eintreten des Volkes für die ungeschmälerte Ausübung seiner Souveränität, was Rhythmus und Verlauf der Revolution bestimmte und die zwei rivalisierenden Hauptströmungen, die Montagnards (oder Bergpartei) und die Girondisten, im Zuge der Ereignisse immer wieder zu Veränderungen ihrer Position zwang. Erkennbar vor allem in der Gewalt gegen die Widerstände des Ancien Régime in den Jahren 1792 und 1793, vollzog sich dieser Kampf des Volkes durch die revolutionären Sektionen und Klubs, die zum Nationalkonvent – der auf zwei Ebenen gewählten repräsentativen Versammlung – auf Abstand gingen. Als Organe des öffentlichen Lebens, die sich miteinander verbanden und gemeinsame, in den Augen der Nationalversammlung teilweise illegale Aktionen durchführten, drückten die Pariser Sektionen einen Geist der spontanen Organisation aus. Den Parisern gelang es zudem, neben der Nationalversammlung »eine tatsächliche Gewalt festzusetzen, die die revolutionären Tendenzen«13 in der Bevölkerung verkörperte: die Pariser revolutionäre Kommune, entstanden am 9. August 1792 und nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Verwaltungsorgan, das bereits seit Juli 1789 existierte. Dessen Bezirke (aus denen später die Sektionen wurden) bildeten allerdings den Rahmen, in dem von Juli 1789 an die Debatte über das »imperative Mandat« – so die damals gebräuchliche Bezeichnung für direkte Demokratie – an Schwung gewann.

Die revolutionäre Kommune forderte eine direkte Regierung des Volkes. Darin bestand der Höhepunkt eines Aufstands, in dessen Verlauf die Straße solange Druck auf das Königtum ausübte, bis es abgeschafft und die Republik proklamiert wurde. Die »Kommune will sich […] selbst Gesetze geben und sich selbst soviel als möglich direkt verwalten; die Repräsentativregierung soll auf ein Minimum beschränkt werden; alles, was die Kommune direkt tun kann, soll von ihr ohne Zwischeninstanz, ohne Delegation oder durch Delegierte entschieden werden, die nur die Rolle besonderer Mandatare haben, die unter der unausgesetzten Kontrolle ihrer Auftraggeber stehen«.14 Die zögerliche Haltung der Nationalversammlung und später des Konvents sowie die Furcht vor der Kommune und einer Radikalisierung der Straße verstärkten den Drang bürgerlicher Strömungen nach einer Begrenzung, Korrektur oder sogar Unterdrückung der Souveränität des Volkes. Dass sich das Prinzip der direkten Demokratie, das in frontalem Gegensatz zum jakobinischen Gedanken der Repräsentation stand, so rapide in den unteren Klassen ausbreitete, beunruhigte das revolutionäre Bürgertum. Insofern kann man der Behauptung, dass »das Misstrauen gegenüber den vom Volk spontan geschaffenen Entscheidungsformen und -organen sowie schließlich ihre Unterdrückung« deutlich den bürgerlichen Charakter der Revolution bezeugten, nur zustimmen.15

Obwohl Kropotkin lediglich die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschlossenen Quellen zur Verfügung standen, erwies er sich mit seiner Studie über die Revolution als ein ernstzunehmender Historiker. Dabei machte er ihre verschiedenen politischen Optionen deutlich, arbeitete die Prinzipien der damaligen sozialen Bewegung heraus und bezog sie auf die Zukunft, indem er sie als Vorläufer des modernen politischen Radikalismus begriff: Die Französische Revolution war »die Quelle aller kommunistischen, anarchistischen und sozialistischen Anschauungen unserer Zeit«.16

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