Der Hüter der Sphären

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2.

Kim stand am Rande einer Felsplatte am Havasupai Point und blickte in den Abgrund. Das Kap ragte nach Norden. Beide Seiten waren steil abfallend. Der westliche Ausläufer des Grand Canyons tat sich auf wie der gigantische Rachen eines riesigen Fantasiewesens. Wie Ringe in einem Baumstamm zogen sich die Streifen der verschiedenen Gesteinsschichten dahin. In der Mitte der Schlucht ragte ein Kegel empor, ganz oben in einer leicht abgeflachten Spitze endend. Rötliche, grüne, gelbe, schwarze und braune Schichten von Schiefer-, Granit, Kalk- und Sandstein wechselten sich in einer Regelmäßigkeit ab, als wäre dieses gesamte Gebilde künstlich erschaffen worden. Je nach Einfall des Sonnenlichts änderten sich die Farben von einer Sekunde zur anderen. In den obersten Bereichen der fast senkrechten Hänge wuchsen Nadelbäume und erweckten den Eindruck, als könnte man sie pflücken wie Blumen auf einer Wiese.

Im Vergleich zu den immensen Dimensionen kam sich Kim vor wie ein Insekt. Wohin sie ihren Blick auch richtete, der Canyon schien kein Ende zu nehmen. Sie stellte sich ein riesiges Korallenriff beim Tauchgang vor oder eine Kathedrale mit einer raumfüllenden Orgel. Nur war dies hier um ein Vielfaches größer. Ein Blick nach unten vermittelte ihr den Eindruck, als hätten die Götter vor Urzeiten riesige Pflüge durch das Land getrieben, die in dem tiefen Graben ein winziges Rinnsal von schmutzigem Wasser hinterlassen hatten. In Wirklichkeit war dieses vermeintliche Bächlein ein breiter Fluss, dessen Oberfläche im Sonnenlicht grünlich schimmerte.

Kim zog es oft hierher. Es war ein Ort, an dem keine Touristen vorbeikamen und an dem auch keine Wanderwege existierten. Hier konnte sie mit der Natur eins sein, ihren Geist erneuern, ihre Seele reinigen und den Zauber ihrer Vorfahren spüren.

Kim hieß mit vollem Namen Kimama Thomas. Ihre Mutter war ein direkter Nachfahre der Shoshonen, die einst in dieser Gegend gelebt hatten. Kimama bedeutete in der Shoshonensprache Schmetterling. Ihre Mutter hatte versucht, einen Teil der Shoshonenkultur aufrechtzuerhalten und Kim damit vertraut zu machen. Doch hatte das junge Mädchen damals andere Interessen gezeigt. Es war fasziniert gewesen von neusten technischen Errungenschaften, digitalen Medien, Fastfood und von der aktuellen Mode.

Doch als ihre Eltern auf einer Reise bei einem Hurrikan ums Leben kamen, hatte Kim gespürt, dass ihr etwas genommen worden war, was niemals ersetzt werden konnte. Und sie hatte gespürt, dass das Unwissen über die Dinge, die ihre Mutter ihr immer wieder zu vermitteln versucht hatte, eine große Lücke hinterließ.

Die Trauer über den Verlust war irgendwann vorbei gewesen. Aber die Gedanken um die Versäumnisse blieben und verursachten ein nagendes Gefühl. Mitten in ihrer Ausbildung zur Analytikerin digitaler Kommunikationstechnologien erinnerte sie sich an die weisen Worte der Mutter: Bring zu Ende, was du anfängst, bevor du dich Neuem widmest. Also begann sie nach ihrem Studium, sich über ihre Vorfahren zu erkunden.

Es war nicht einfach gewesen, an umfassende Informationen zu gelangen, da sich nur noch wenige Menschen für die damaligen Ureinwohner interessierten. Dank ihrer Geduld und Ausdauer fand sie heraus, dass die Shoshonen die Region des Großen Beckens bewohnt hatten, das später die Staaten Colorado, Idaho, Nevada, Utah und Wyoming bildete. Ihre ursprüngliche Sprache war Uto-Aztekisch. Sie bewohnten einfache Tipis. Zusammen mit den benachbarten Stämmen, den Bannock und den Paiute, wurden sie oft auch als Schlangen-Volk bezeichnet. Die bedeutendste Untergruppe stellten die Komantschen dar. Sie waren verwandt mit den Bannock, den Gosiute, den Paiute und den Ute, mit denen der Stamm diese Region teilte. Außerdem hatte es zwischen allen Stämmen immer Vermischungen gegeben.

Von allen nordamerikanischen Indianerstämmen waren jene im Großen Becken technologisch am wenigsten entwickelt gewesen und entsprachen am ehesten den Vorstellungen einer Steinzeitgesellschaft. Der größte Teil ihrer Nahrung bestand aus gesammelten Wurzeln und Beeren. Bei der Jagd benutzten sie nicht Pfeil, Bogen oder Speer, sondern unförmige Kriegskeulen. Normalerweise erlegten sie nur Kleinwild wie das Präriekaninchen.

In vorkolumbianischer Zeit lebten die Shoshonen in kleinen Familienverbänden, die sich vorwiegend vom Sammeln von Wildgrassamen, Wurzeln und Beeren sowie Insekten und Maden ernährten. Kleintiere wie Mäuse und Schlangen wurden gefangen, Hasen und Antilopen bei Treibjagden in Netze getrieben und mit Stöcken erschlagen.

Um das Jahr 1700 herum veränderten sie ihre Lebensweise entscheidend, nachdem es ihnen gelang, verwilderte Pferde zu zähmen. Die Gesellschaft wandelte sich von einer weitgehend egalitären zu einer stärker hierarchisierten.

Da das Große Becken eine unwirtliche und trockene Region war, traf der Stamm erst im neunzehnten Jahrhundert auf die ersten Weißen. Bis Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts lebten die Stammesnachfahren in vielen kleinen und verstreuten Reservaten in Idaho, Wyoming und Nevada.

1985 lebten noch rund zweitausend Stammesangehörige. Doch bis zum heutigen Tag waren sie nur noch verstreut anzutreffen. Durch Vermischung mit der weißen Bevölkerung waren reine Abkömmlinge fast ausgestorben.

Kim setzte sich auf die Steinplatte und ließ ihre Füße über dem Abgrund baumeln. Die Temperatur war nicht allzu warm. Trotzdem schirmte sie ihr Antlitz mit einer Baseballmütze ab, die sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Ein Seidentuch, das von der Mütze fixiert wurde, bedeckte ihren Nacken und die Kopfseiten. Um ihre Schultern trug sie eine lange Seidentoga, die ihren Körper bis zu den Knöcheln vor schädlicher Sonnenstrahlung schützte. Seit die Ozonschicht vor Jahrzehnten zu einem großen Teil zerstört worden war, war die Gefahr von Verbrennungen erheblich gestiegen.

Sie stützte ihre Hände auf der Steinplatte ab und spürte die Wärme, ließ sie nach kurzer Zeit gleich wieder unter ihre Toga gleiten.

Über dem Abgrund ließen sich ein paar Raben durch die Luft gleiten und hielten nach Beute Ausschau. Die Jungvögel trieben die Eltern ständig zur Futtersuche. Halsbandleguane und andere Echsen gehörten zu ihrer bevorzugten Nahrung. Am frühen Morgen, wenn die wechselwarmen Echsen aus ihren Verstecken kamen, um sich in der Sonne aufzuwärmen, waren viele noch zu langsam, um sich vor den Schnäbeln der Rabeneltern in Sicherheit bringen zu können. Bevor sie den Jungen verfüttert werden konnten, mussten sie allerdings erst in schnabelgerechte Happen zerhackt werden.

Rotschwanzbussarde gehörten zu den wenigen natürlichen Feinden der Raben und hatten es auf deren Nachwuchs abgesehen. Wurde der Raubvogel gesichtet, hoben die Rabeneltern ab, um ihn zu verjagen. Sie verfolgten den Feind so lange, bis er aufgab und sich vom Nest entfernte. Die Raben waren sowohl am oberen Canyonrand als auch am Boden zu Hause. In den Schluchten waren die Vögel weitgehend ungestört. Nur wer fliegen konnte oder über einen sicheren Tritt verfügte wie die Dickhornschafe, konnte die steilen Abgründe von teilweise eintausendsechshundert Metern Tiefe überwinden.

Kim vernahm ein Geräusch und blickte zur Seite. Neben ihr hockte ein Squirrel, eine Art Eichhörnchen, und suchte nach Nahrung. Es näherte sich Kim bis auf einen halben Meter und sah ihr bettelnd in die Augen.

»Hallo Kleiner«, sagte sie, worauf der Squirrel den Kopf zur Seite neigte und ein leises Piepsen von sich gab. »Moment mal, ich hab was für dich.« Kim kramte in ihrer Gürteltasche, die sie sich unter der Toga um die Hüften geschnallt hatte, nach dem Beutel mit Brotresten und warf dem Tier nacheinander kleinere Stücke hin. Der Squirrel griff mit einem dankbaren leisen Pfeifen danach, nahm eines nach dem anderen zwischen die Pfoten und knabberte daran, bis es verschwunden war.

Nach kurzer Zeit erschien ein zweiter Squirrel und unterstützte den anderen beim Vertilgen der Brotstückchen. Als der letzte Krümel verschwunden war, stellten sich die beiden auf die Hinterpfoten und gaben ein paar fordernde Laute von sich.

»Entschuldigt, das war alles für heute. Mehr hab ich nicht«, sagte Kim in versöhnlichem Ton. Wieder neigten die beiden den Kopf zur Seite, als ob sie zuhören würden. Kurz darauf ließen sie sich auf die Vorderpfoten nieder und verschwanden in den kargen Sträuchern.

Es war für Kim zur Gewohnheit geworden, diesen Nagetieren zu begegnen. Deshalb hatte sie immer einen Beutel mit Futter bei sich.

Die Sonne stand schon ziemlich tief. Die Intensität verringerte sich merklich. Kim nahm Mütze und Seidentuch vom Kopf und schüttelte ihr kurzes, schwarzes Haar. Aufgrund ihrer indianischen Abstammung glänzte es im Sonnenlicht bläulich. Eine sanfte Brise strich über ihre Wangen. Die warme Luft begann aus dem Canyon hochzusteigen, je mehr sich die Sonne dem Horizont zuneigte. Die Farben der Gesteinsschichten gingen in einen rötlichen Ton über.

Kim stand auf und klopfte den Staub von ihrer Toga. Darunter trug sie nur Shorts und ein knappes T-Shirt. Ihre Füße steckten in halbhohen Kunstlederstiefeln. Die Toga flatterte sanft im Wind. Sie setzte das Kopftuch und die Mütze wieder auf, zog sie jedoch nicht mehr so tief ins Gesicht, und machte sich auf den Weg zu ihrem Elektroroller. Sie wollte zu Hause sein, bevor es völlig dunkel war.

Eine Viertelstunde später erreichte sie das Fahrzeug. Als sie es einschaltete, zeugte nur ein leises Summen von dessen Funktionstauglichkeit. Das durch reine Sonnenenergie angetriebene Gefährt war praktisch geräuschlos und eignete sich sehr gut für Geländefahrten. Es besaß ein satellitengesteuertes Navigationssystem, womit es praktisch unmöglich war, sich zu verirren, und ein ausgeklügeltes Sensorsystem, das Zusammenstöße mit anderen Fahrzeugen oder festen Gegenständen weitgehend verunmöglichte.

 

Kim stülpte sich den Helm über, startete den Roller und machte sich auf den Weg nach Hause. Sie fragte sich, ob sie den Highway oder den kürzeren, jedoch beschwerlicheren Weg quer durch die Wüste nehmen sollte. Die Strecke über den Highway war mit gut sechshundert Kilometern gegenüber den dreihundertachtzig Kilometern durch die Wüste zwar wesentlich länger, aber trotzdem schneller. Es machte ihr jedoch mehr Spaß, auf kleinen Sandwegen durch die Wüste zu fahren, fernab vom üblichen Verkehr des Highways. Und nebst dem schwierigen Gelände mit Klippen und Schluchten gab es auch längere gerade Strecken, auf denen sie auf über dreihundert Kilometer pro Stunde beschleunigen konnte. Also entschied sie sich dafür.

In Boulder City, einem Vorort südöstlich von Las Vegas, in dem sie nichts vom großen Glücksspieltrubel mitbekam, bewohnte Kim einen kleinen Bungalow. Dank des guten Jobs bei Unicom hatte sie es vor anderthalb Jahren gekauft und konnte sich trotz der monatlichen Zinsbelastungen einen Teilbetrag ihres Lohnes beiseitelegen.

Seit gut vier Jahren arbeitete sie als ­Informationstechnikerin bei diesem Softwarekonzern, der auf digitale Steuerungssysteme von Flug- und Raumfahrzeugen spezialisiert war. Ihr Aufgabenbereich war die Erstellung und Pflege von Standardprogrammmodulen, die vom gesamten Entwicklungsteam für die Herstellung individueller Anwendungslösungen verwendet wurde. Ihr eigenes Team umfasste vier weitere ­Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Jeder in der Firma wusste, dass Kim auf ihrem Gebiet die besten Kenntnisse besaß. Trotzdem war sie vor einem halben Jahr, als es darum ging, den Posten des Gruppenleiters neu zu besetzten, übergangen worden. Man zog einen Mitarbeiter einer anderen Abteilung mit wesentlich weniger Kenntnissen ihr vor. Sie hatte diese Ungerechtigkeit stillschweigend hinuntergeschluckt und weiter gewissenhaft ihre Arbeit verrichtet. Es war typisch für sie, in einer solchen Situation nichts zu sagen und ihren Job auf gleiche Weise weiterhin auszuführen.

Kim konzentrierte sich wieder auf den Weg, der in südlicher Richtung gefährlich nahe am Canyonrand entlangführte. Aber sie kannte praktisch jeden Stein und jede Kurve, da sie diese Strecke schon oft gefahren war. Deshalb war es für sie kein Problem, auch hier ein hohes Tempo einzuschlagen. Sie genoss den Nervenkitzel der Geschwindigkeit und den Fahrtwind, der ihre Toga flattern ließ.

Plötzlich kreuzte etwas Dunkles ihren Weg. Das instinktiv ausgeführte Bremsmanöver brachte sie beinahe aus dem Gleichgewicht. Rechtzeitig fing sie sich auf und stabilisierte ihre Fahrt. Sie bremste scharf ab, fuhr mit minimaler Geschwindigkeit weiter und konzentrierte sich wieder auf die Strecke.

War es ein Tier, das vor ihr vorbeigehuscht war? Doch für ein Lebewesen war es eindeutig zu flach gewesen. Oder befand sie sich nicht mehr auf ihrer eigentlichen Route? Nein, sie war sich sicher, nicht von ihrem üblichen Weg abgekommen zu sein. Schließlich wunderte sie sich, dass ihr Sicherheitssystem nichts von diesem Hindernis bemerkt hatte.

Also hielt sie an und stieg ab. Sie drehte sich um, blickte zurück und versuchte zu erkennen, ob irgendwelche Hindernisse auf dem Weg lagen. Dann setzte sie den Helm ab und ging einige Schritte zurück, konnte jedoch im Licht der untergehenden Sonne nichts Außergewöhnliches erkennen. Sie ging noch weiter zurück zu der Stelle, an der sie den ersten Zwischenfall vermutete. Sehr gut zeichnete sich ihre Fahrspur auf dem sandigen Untergrund ab. Sie ging in die Hocke und suchte nach Spuren eines Tieres. Doch da gab es nichts. Sie erhob sich wieder, drehte den Kopf nach rechts und sah in die Tiefe des Canyons.

War da nicht eine Bewegung?

Unmöglich, dachte sie. Es war zu steil, als dass sich hier ein Lebewesen aufhalten konnte. Doch dann hatte sie erneut den Eindruck, etwas zu sehen. Sie richtete den Blick auf die Stelle, an der sie die vermeintliche Bewegung ausgemacht hatte. Etwa zehn Meter unter ihr sah sie einen dunklen Fleck, der nicht dahin zu passen schien. Täuschte sie sich oder hatte er sich soeben bewegt?

Kim starrte gebannt darauf. Und tatsächlich, der Fleck schien sich nicht nur zu bewegen, sondern auch seine Form zu verändern. Das konnte doch unmöglich wahr sein! Ein Tier war es nicht, denn dieses Gebilde war flach und schien direkt an der Gesteinswand zu haften. Wieder hatte Kim den Eindruck, dass es die Position wechselte und sich gleichzeitig verformte. Und es kam direkt auf sie zu!

Sie änderte ihre Position, stützte sich seitlich auf ihre Hüfte und beugte sich erneut über den Canyonrand. Das Ding war verschwunden!

Ihre Augen suchten die nähere Umgebung ab. Als sie sich noch etwas mehr über den Canyonrand lehnte, wäre sie vor Schreck beinahe in den Abgrund gestürzt. Der dunkle Fleck hing direkt unter ihr an der Gesteinswand, keine zwei Meter entfernt. Sie schnellte zurück und atmete ein paar Mal tief durch. Was war das für ein Ding?

In dem Moment, als sie aufstehen wollte, sah sie den dunklen Fleck langsam über den Canyonrand genau auf sie zukriechen. Kim stieß einen spitzen Schrei aus und fiel rückwärts zu Boden. Der Fleck hatte den Rand überquert und bewegte sich immer weiter auf sie zu, während er fortwährend seine Form veränderte.

Kim fing an, mit den Beinen zu strampeln und rückwärts zu krabbeln. Sie geriet in Panik. Hastig versuchte sie, gleichzeitig aufzustehen und sich weiter rückwärts zu bewegen, was nur dazu führte, dass sie immer wieder auf ihrem Gesäß landete. Dann prallte sie mit dem Rücken an einen größeren Felsbrocken und stieß einen schmerzerfüllten Seufzer aus. Schnell kletterte sie rückwärts auf den Stein und zog instinktiv die Beine an.

Nun nahm sie sich Zeit, das Gebilde etwas genauer zu betrachten. Innerhalb des gesamten Flecks krabbelte es, als handelte es sich um ein Riesenheer von Insekten. Es mussten winzig kleine Insekten sein, die sich zu einem Schwarm zusammengefunden hatten, soviel konnte sie erkennen. Aber so genau sie auch hinsah, sie konnte keines der einzelnen Tierchen ausmachen, obwohl das Krabbeln so deutlich war wie auf einem Ameisenhaufen.

Kim griff nach einem Stein und warf ihn mitten auf den Fleck. Nichts passierte. Das Heer der winzigen Partikel umschloss ihn rundherum.

Sie sah sich um und entdeckte in einiger Entfernung einen dünnen, krummen Holzstecken. Langsam kletterte sie auf der Rückseite vom Felsbrocken hinunter, ging ein paar Schritte rückwärts, ohne den krabbelnden Fleck aus den Augen zu lassen. Hastig tastete sie nach dem Stück Holz, musste mehrmals danach greifen, bis sie es endlich zwischen den Fingern spürte. Dann packte sie den Stecken und kehrte langsam wieder zum Felsbrocken zurück.

Der Schwarm hatte unterdessen seine Position auf die rechte Seite des Steins verlegt und kam wieder genau auf sie zu. Vorsichtig kletterte Kim erneut auf den Felsbrocken und kauerte sich nieder. Langsam führte sie die Spitze des Steckens an den Rand des Insektenteppichs. Sie spürte, wie ihre Hand zitterte. Das Zittern übertrug sich auf den dünnen Ast. Dann berührte die Spitze des Stabs den Schwarm. Sie spürte den Widerstand des Bodens, der jedoch sogleich nachgab. Sie hatte den Eindruck, als würde sich der Stecken direkt in die Erde bohren. Erschrocken ließ sie ihn los. Der Stecken fiel hinunter und blieb seitlich am Felsbrocken angelehnt liegen. Die Spitze steckte immer noch mitten im krabbelnden, dunklen Heer. Doch er rutschte langsam nach unten, als würde er aufgesaugt werden.

Aber das wurde er nicht. Die Partikel überzogen ihn … und veränderten seine Form!

Mit blankem Entsetzen verfolgte Kim dieses Schauspiel. Einerseits krümmte sich der Stecken wie ein Grashalm. Andererseits hüllten ihn die Partikel vollständig ein, während sie daran emporkletterten. Anscheinend benutzte der Schwarm den Stecken, um auf den Felsbrocken zu gelangen, auf dem sie gerade saß!

Es dauerte nur ein paar wenige Augenblicke, bis Kim realisierte, was geschah. Hastig kletterte sie auf der Rückseite hinunter und suchte einen faustgroßen Stein, mit dem sie sich langsam wieder dem Felsbrocken näherte.

Der Schwarm hatte mittlerweile den gesamten Stecken umhüllt. Langsam näherte sich Kims Hand, den Stein umschlossen, dem oberen Ende des Steckens. Im Licht der tief stehenden Sonne glitzerten die winzigen Partikel wie Kristallsand. Der Schwarm machte keine Anstalten, das Holzstück zu verlassen und auf dem Felsbrocken weiterzuwandern.

Kims Hand war noch etwa zwanzig Zentimeter entfernt. Sie näherte sich ein weiteres Bisschen und ließ dann den Stein genau auf den Stecken fallen, oder auf das, was von ihm noch übrig war.

Nichts!

Es schien, als habe sich das Stück Holz aufgelöst. Oder es bestand nur noch aus diesen Partikeln.

Kim versuchte sich gar nicht erst vorzustellen, was passieren würde, wenn sie ihren Finger hineinsteckte. Der Mut, den sie aufgebracht hatte, einen Stein auf den Schwarm fallen zu lassen, verließ sie schlagartig, während sich die Angst in ihr wieder ausbreitete.

Dann erschien ihr ein entsetzlicher Gedanke: Gab es noch mehr solcher Schwärme? Voller Panik drehte sie sich um die eigene Achse und suchte die unmittelbare Umgebung ab.

Und tatsächlich! Vom Canyonrand her näherten sich weitere Schwärme in ihre Richtung. Einige schienen einen Bogen um sie zu machen, als wollten sie sie einkreisen. Andere wiederum kamen direkt auf sie zu.

Sie ging ein paar Schritte rückwärts, drehte sich um und rannte zurück zu ihrem Roller, stets nach weiteren Schwärmen Ausschau haltend. Dort angekommen setzte sie hastig den Helm auf, startete ihr Fahrzeug und fuhr los. Da sie kein Risiko eingehen wollte, weiteren Schwärmen zu begegnen, wählte sie für ihre Heimfahrt nun doch den Highway.

3.

Ein krachender Donnerschlag, ähnlich dem Einschlag einer Granate, riss Christopher Vanelli aus seinem unruhigen Schlaf. Nachfolgendes Grollen und Aufflackern weit entfernter Blitzeinschläge deuteten darauf hin, dass sich das Unwetter noch lange nicht legen würde.

Christopher blickte zum Fenster. Feinste Trommelgeräusche an den Scheiben zeugten von einer rasch herannahenden Regenfront. Jede Lichtkaskade ließ die Lamellen der inwendig montierten Fensterroulade gleich scharfkantiger, langer Messer aufblitzen. Zwischen ihnen zeigte sich das Wolkengefüge, das sich wie eine brodelnde Masse auf das Festland zubewegte. Schon wenig später peitschten die Windböen Fontänen geballten Regens in regelmäßigen Abständen gegen Glas und Fassade. Bäume und Sträucher bogen sich in ekstatischer Manier nach dem Willen des Sturms.

Plötzlich huschte eine schattenhafte Silhouette am Fenster vorbei. Christophers bisherige Gleichgültigkeit gegenüber dem stürmischen Treiben änderte sich blitzartig. Wer hielt sich bei einem solchen Sturm im Freien auf? Sollte sich hier ein Einbrecher herumtreiben, hatte er für sein Vorhaben das denkbar ungünstigste Wetter ausgesucht. Oder handelte es sich lediglich um einen Obdachlosen? Es wäre jedoch das erste Mal, dass sich so eine arme Seele hierher verirrt hätte. Aber auch Einbrecher waren bislang beim Cabin Point keine aufgetaucht.

Michelle lag regungslos auf der anderen Seite des Bettes und atmete flach und gleichmäßig. Sie hatte einen wesentlich tieferen Schlaf als er. Die vier Quirls lagen aneinandergekuschelt in ihrem Kunststoffbehälter, in dem sie mit synthetischen Faserdecken ein Nest gebaut hatten, in das sie sich verkriechen konnten. Sie ließen sich durch das Unwetter nicht im Geringsten stören, hatten sie doch solche Phänomene auf ihrem Heimatplaneten MOLANA-III zur Genüge erlebt.

Christopher kroch unter der Decke hervor und schlüpfte in seine Shorts. Leise verließ er das Zimmer, tappte im Halbdunkeln den Gang entlang und durchquerte die geräumige Küche. Der Glaserker bot einen großzügigen Ausblick auf den Vorplatz, auf den steil nach unten führenden Kiesweg und über die gesamte Whiting Bay, von der aufgrund des anhaltenden Regens nicht allzu viel zu sehen war.

Er stellte sich nahe an die Glasscheibe und starrte hinaus, suchte nach einer menschlichen Gestalt, die es nicht gab. Dann kontrollierte er die Außentür. Sie war abgeschlossen. Von innen. War es nur eine Sinnestäuschung gewesen? Seine optische Erinnerung vermittelte ihm jedoch einen anderen Eindruck. Er war sicher, dass es sich um eine menschliche Gestalt gehandelt hatte, die von links nach rechts vor dem Fenster vorbeigehuscht war.

Ein dumpfer Knall schreckte ihn auf, ähnlich eines zuschlagenden Fensters. Das Geräusch kam aus dem Innern des Hauses. Doch kein vernünftiger Mensch würde bei diesem Wetter das Fenster offen lassen. Christopher drehte sich um, durchquerte die Küche und begab sich zurück in den langen Flur. Leise öffnete er das Zimmer, in dem Ernest und Keyna friedlich schiefen, als könnte sie nichts auf der Welt davon abbringen. Das Fenster war geschlossen. Ernest hatte sich in den vielen Jahren, die er hier lebte, an diese Stürme gewöhnt.

 

Geräuschlos zog Christopher die Tür wieder zu und begab sich zum nächsten Zimmer, das seit kurzer Zeit von Neha bewohnt wurde. Seit sich ihre Schwangerschaft dem Ende zuneigte, zog sie sich immer öfter zurück und verbrachte viel Zeit alleine. Vor ein paar Tagen hatte sie schließlich den Wunsch nach einem eigenen Zimmer geäußert. Christopher und Michelle hatten sich überrascht gezeigt, war Neha das Alleinsein doch bisher immer besonders schwergefallen.

Neha ihrerseits hatte Christophers und Michelles Unbehagen sofort gespürt und sie mit der Erklärung beruhigt, dass sie während ihrer verbleibenden Schwangerschaft viel Ruhe benötigen würde und deswegen vermehrt die Einsamkeit suche. In Wirklichkeit verbrachte sie viel Zeit in völliger Abgeschiedenheit und versank oftmals in einen meditativen Zustand. Was sie in solchen Phasen jeweils durchlebte, hatte sie bisher nicht verraten. Christopher vermutete, dass sie dabei mit ihrer Sphäre in Verbindung stand.

Als Christopher vor ihrer Tür stand, hörte er die Geräusche des Sturms deutlicher. Sie kamen aus ihrem Zimmer. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt. Doch bevor er sich auf das Innere konzentrieren konnte, schlug ihm, gleich einer Ohrfeige, ein kalter und feuchter Windstoß ins Gesicht. Unmittelbar danach krachte das Fenster erneut mit einem lautem Knall zu.

Christopher stieß die Tür weiter auf und betrat das Zimmer. Nehas Bett war leer. Die nächste Windböe riss den Fensterflügel wieder auf und fegte einen weiteren Schwall nasskalter Luft durchs Zimmer. Mit ein paar schnellen Schritten erreichte er das Fenster und schloss es.

Aber wo war Neha? In der Toilette brannte kein Licht, soviel hatte er vorhin sehen können, als er an der Tür vorbeigegangen war.

Ein schrecklicher Gedanke beschlich ihn. Wenn sie nicht im Haus war – Küche und Wohnzimmer waren vorhin ebenfalls leer gewesen –, wo war sie dann? Doch nicht etwa draußen im Sturm? War sie aus dem Fenster gestiegen?

Hastig verließ Christopher Nehas Zimmer, eilte zum Erker zurück und starrte erneut nach draußen. Aber so sehr er die gesamte überschaubare Umgebung absuchte, er konnte keine Menschenseele sehen. Er eilte den Gang zurück in sein Zimmer, zog sich einen Pullover über und holte aus dem Schrank seinen Regenumhang.

»Was ist los?«, murmelte Michelle.

»Nichts«, antwortete er leise. »Ich muss nur schnell draußen etwas nachsehen. Schlaf ruhig weiter.«

Ein leises Murren, dann wieder regelmäßiger Atem. Mehr war von Michelle nicht zu hören.

Erneut im Erker angekommen schlüpfte Christopher in seine Stiefel, öffnete die Tür und spürte sofort den peitschenden, nassen Wind. Regentropfen stachen ihm wie unzählige winzige Nadeln ins Gesicht. Schützend zog er die Kapuze über den Kopf und schloss den Klettverschluss.

Gesenkten Hauptes schritt er an seinem Fenster vorbei in die Richtung, in die sich auch der Schatten bewegt hatte. Auf der Südseite des Bungalows führte eine kleine Gartentreppe auf den durch dichtes Gebüsch geschützten Sitzplatz mit offener Feuerstelle. Doch schon von der der ersten Stufe aus konnte Christopher erkennen, dass sich hier niemand aufhielt.

Er drehte sich um. Linkerhand des Sitzplatzes, der Böschung entlang, führte eine steile Steintreppe zum Weg hinab, der in die Whiting Bay hinunterführte. Nach einem Augenblick des Zögerns stieg Christopher, den Blick stets auf den steilen Weg gerichtet, die Stufen hinunter. Als er den letzten Absatz erreicht hatte, glaubte er, für einen kurzen Moment eine Gestalt erkannt zu haben, die weit unten, wo der Pfad nicht mehr so steil war, zwischen den zwei großen Felsen hindurchhuschte. War es Neha? Wenn ja, was wollte sie am Strand?

Ohne zu zögern setzte sich Christopher in Bewegung und rannte den Weg hinunter, immer darauf bedacht, auf dem nassen Kies nicht auszurutschen. Wieder und wieder peitschten Kaskaden von stechenden Wassertropfen in sein Gesicht.

Neha, wo bist du?, dachte er intensiv, in der Hoffnung, sie würde seine Gedanken empfangen.

Nehas Empfangsbereitschaft für mentale Impulse war unterschiedlich. Es gab Momente, in denen sie darauf ansprach und entsprechend reagierte. Aber oftmals geschah nichts. So wie jetzt.

Einige Minuten später erreichte Christopher die beiden Felsen, zwischen denen der Weg schmaler wurde und leicht nach rechts abbog. Ein behelfsmäßiges, von Hand beschriftetes Metallschild mit der Aufschrift CAR TRAP hatte vor langer Zeit unkundige Fahrzeuglenker davor gewarnt weiterzufahren. Ein Relikt aus tiefster Vergangenheit, denn der größte Teil der persönlichen Fortbewegungsmittel auf der Erde bestand aus Bodengleitern oder voll automatisierten Elektromobilen. Im Schutz einer der beiden Felsen hatte dieses Schild auch den Ausläufern der beiden Tsunamis standgehalten, die vor über hundertfünfzig Jahren an die irische Südküste geprallt waren.

Christopher schenkte dem Schild keine Aufmerksamkeit und verschwand zwischen den beiden Felsen. Für einen kurzen Moment spürte er fast nichts mehr vom windigen Regenschauer. Doch als er wenig später auf den mit Sand und feinem Kies bedeckten Strandboden hinaustrat, empfand er den Wind dafür umso heftiger. Einige der Böen rissen ihn beinahe von den Füßen. Er senkte den Kopf, um überhaupt richtig atmen zu können.

Nach einigen Metern blieb er stehen. Er befand sich vor einem unbekannten Gebilde, das schon seit ewiger Zeit hier stand und von dem niemand wusste, wer es angefertigt hatte. Es bestand aus verwitterten Ästen, die in den Boden gerammt und mit großen Steinen fixiert waren. Die gesamte Skulptur sah einem großen Hundeskelett sehr ähnlich. Unter den Einheimischen kursierten die wildesten Gerüchte um dieses Ding. Man munkelte, es sei über hundert Jahre alt. Von den Alteingesessenen getraute sich niemand, in seine Nähe zu treten, geschweige denn, es anzufassen.

Christopher drehte sich um die eigene Achse und inspizierte die nähere Umgebung. An der Felswand, einige Meter vom Hundeskelett entfernt, entdeckte er einen hellen Fleck, der nicht ins Bild passte. Soviel er wusste, gab es hier keine hellen Steine, vor allem nicht so große. Der Sandstein, aus dem die irische Südküste hauptsächlich bestand, besaß eine dunkelgraue Farbe, hervorgerufen durch Schmutzpartikel, die aus der Atmosphäre ausgewaschen und abgeregnet wurden. Stürme und Wellen fraßen sich seit Jahrhunderten ins Landesinnere und veränderten fortwährend den Küstenverlauf.

Christopher schritt auf den weißen Fleck zu und spürte sofort neue Windböen im Rücken. Nach wenigen Metern erkannte er eine am Boden sitzende Gestalt, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen und das Gesicht auf den Knien ruhend.

»Neha?«, schrie er in das Heulen des Windes hinein.

Keine Reaktion.

Er trat noch näher heran, ließ sich unmittelbar vor ihr auf die Knie nieder und berührte mit den Fingern ihren Arm. Die Gestalt zuckte zusammen, hob erschrocken den Kopf und starrte ihn mit großen Augen an. Wasser tropfte von den Haaren und rann über das gesamte Gesicht. Sie zitterte am ganzen Körper.

»Was tust du hier?«, fragte Christopher, als er sich Nehas Gesicht soweit genähert hatte, dass sie ihn trotz des Sturmlärms verstehen konnte. »Du holst dir noch eine Lungenentzündung.«