Der Hüter der Sphären

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6.

Sergeant Luis Conchavez von der Traffic Patrol lehnte an seinem Aerobike und inhalierte den blauen Dunst einer synthetischen Zigarette. Während er die Augen schloss und den Rauch durch die Nase wieder entweichen ließ, zerbrach er sich den Kopf darüber, was hier mitten in der Nacht geschehen sein könnte. Er mochte die Nachtschichten lieber als den Tagesdienst, da es nachts auf den Freeways wesentlich ruhiger zuging. Er konnte es nicht mehr hören, wenn seine Kollegen von den vielen Vorfällen erzählten, die sich täglich aufgrund von Fahrlässig- und Leichtsinnigkeit der Verkehrsteilnehmer ereigneten. Die meisten Fahrer waren viel zu sehr mit ihren elektronischen Spielereinen beschäftigt, statt auf den Verkehr zu achten, und stellten daher eine große Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer dar. Auch die Automatisierung der Fahrzeuge mit den modernsten Leitsystemen und Autopiloten hatte die Zahl der Unfälle nicht wesentlich reduzieren können. Lediglich die Unfallursachen hatten sich verändert. Man vertraute zu sehr der Technik oder man bediente und konfigurierte sie falsch, sodass es zu Störungen und Pannen kam.

Es war kurz vor drei Uhr morgens. Auf dem gegenüberliegenden Fahrstreifen stand ein Robo-Transporter. Solche Fahrzeuge wurden über ein satellitengesteuertes Leitsystem auf einer festgelegten Route von einem Ort zum anderen befördert. Die mit modernsten Sicherheitssystemen ausgerüsteten Gefährte wichen jedem Hindernis aus und hielten, wenn nötig, sogar an. Nun stand eines von ihnen mitten auf dem Freeway 40, etwa dreißig Kilometer westlich von Ash Fork, und rührte sich nicht mehr vom Fleck.

Vor gut einer halben Stunde hatte Conchavez den technischen Sicherheitsdienst herbestellt. Nach seinen Erfahrungen dürfte es gut und gerne noch einmal solange dauern, bis von denen jemand hier aufkreuzte. Zum Glück war dies eine wenig befahrene Gegend, sonst wäre es bestimmt schon längst zu einem Verkehrschaos gekommen.

Obwohl es außer ein paar harmlosen Pannen mit solchen Transportern bisher noch nie Probleme gegeben hatte, hasste sie Conchavez. Fahrzeuge, die nicht von Menschen gelenkt wurden, wirkten auf ihn unheimlich und beängstigend. Er traute der Technik nicht. Er hatte auch keine Lust, in das Gefährt einzusteigen, um nachzusehen, was nicht in Ordnung war. Sollten sich doch die Spezialisten darum kümmern.

Conchavez mochte auch die Leute vom technischen Sicherheitsdienst nicht. Alles aufgeblasene Angeber und Möchtegernagenten. Spielten sich groß auf, obwohl sie nur eine kleine Unterabteilung der Bundespolizei bildeten.

Aus purer Neugier überquerte er die Straße, näherte sich dem Transporter und umrundete ihn mit einer Stablampe in der Hand. Plötzlich hielt er inne. In der Seitenwand des Gefährts klaffte ein Loch mit ausgefransten Rändern. Zuerst dachte er an ein Geschoss, das hier eingeschlagen sein könnte. Doch sogleich verwarf er diesen Gedanken wieder, denn die Ränder der Öffnung konnten unmöglich von einer Rakete oder etwas Ähnlichem verursacht worden sein.

Er ging noch näher heran und richtete den Lichtstrahl direkt auf das Loch. Dann zuckte er erschrocken zurück. War da nicht eine Bewegung?

Fast zufällig zeigte der Lichtstrahl auf den Rand des Lochs. Conchavez stockte beinahe der Atem. Rund um die Öffnung krabbelte es, als wäre ein Insektenschwarm am Werk. Aber das konnten unmöglich Insekten sein. Die einzelnen Partikel waren viel zu klein.

Wahrscheinlich das Ergebnis irgendeines chemischen Experiments, mutmaßte er. Sofort trat er zurück, überquerte die Fahrbahn und begab sich wieder zu seinem Aerobike. Kurz darauf entdeckte er am Horizont einen nahenden Fluggleiter.

Na endlich, dachte er. Sollten die sich mit dem Zeugs auseinandersetzen.

Die blinkenden Positionslichter wurden größer und heller. Wenig später setzte der Gleiter mitten auf der Straße zur Landung an. Er hing eine Weile in der Luft und senkte sich langsam auf die Fahrbahn. Als er aufgesetzt hatte, verstummte das Heulen und Summen. Die Positionslichter blieben eingeschaltet. Starke Scheinwerfer tauchten den Ort des Geschehens in taghelles Licht.

»Na, kommt schon, ihr Idioten«, murmelte Conchavez vor sich hin. »Steigt endlich aus und übernehmt den Fall. Ich will weiter.«

Es dauerte noch fünf Minuten, bis zwei Männer und eine Frau in Uniformen ausstiegen und sich ihm mit energischen Schritten näherten.

»Ich bin Special Agent Colette Hastings vom Technical Security Service. Dies sind die Agents Frank Peters und Don Holloway!«, herrschte ihn die Frau sogleich an. »Was ist hier los?«

Anscheinend hatte sie das Sagen. Die beiden Männer blieben schweigend und mit finsterer Miene hinter ihr stehen.

Fehlt nur noch die Sonnenbrille, dachte er belustigt.

»Sergeant Luis Conchavez von der Traffic Patrol«, antwortete er kühl, blieb weiter an sein Aerobike gelehnt und nickte zum Transporter. »Sehen Sie doch selbst nach. Der Scheißklotz soll ein sogenannter Robo-Transporter sein, aber er rührt sich keinen Zentimeter vom Fleck. Laut Kontrollcode gehört das Ding dem Pharmakonzern Norris & Roach. Die haben hier irgendwo in der Wüste eine Niederlassung. Und da ist ein Loch in der Seitenwand.«

»Mir ist bestens bekannt, dass es sich hier um einen Robo-Transporter handelt. Ich bin zwar eine Frau, aber nicht dumm«, blaffte sie ihn an. »Wir haben die Meldung über eine Störung erhalten. Wir wollen wissen, was Sie bis jetzt festgestellt haben.«

So eine eingebildete Zicke.

»Nichts! Außer diesem Loch«, sagte er gelassen. »Es gehört nicht zu meinem Aufgabenbereich, den Grund für liegen gebliebene Fahrzeuge technisch zu analysieren. Meine Aufgabe besteht lediglich darin, solche Fälle zu melden.«

Die Frau schnaubte verächtlich und nickte Agent Peters zu, worauf sich dieser wie von der Tarantel gestochen umdrehte und sich in Richtung Transporter in Bewegung setzte. Er umrundete ihn und kehrte kurz darauf wieder zurück.

»Da ist tatsächlich ein Loch in der Seitenwand«, sagte er mit monotoner Stimme.

»Schauen Sie im Innern nach, was los ist«, befahl sie ihm kühl.

Daraufhin drehte er sich erneut um, öffnete die Noteinstiegsluke und verschwand darin.

Der Transporter besaß keine Führerkabine im üblichen Sinne, sondern nur eine Notfallsteuerkonsole, die sich auf der Seite des Fahrzeugs befand. Damit konnte es manuell zur nächsten Wartungszentrale gelenkt werden.

Conchavez berichtete der Frau mit gleichgültiger Stimme, wie er den Transporter auf seiner Patrouille vorgefunden hatte. Agent Holloway stand währenddessen weiterhin unbeweglich und leicht versetzt hinter ihr und verzog keine Miene.

Vielleicht ein Robo-Agent.

Während Conchavez wiederholt in abfälliger Weise seine persönliche Meinung über diese Art von Fahrzeugen kundtat, erklang aus dem Transporter ein markerschütternder Schrei. Die noch bis vor kurzem so kühle Frau und die Statue des Mannes hinter ihr drehten sich erschrocken um und eilten zur Einstiegsluke. Conchavez lief hinterher. Hastig steckte Colette Hastings ihren Kopf in die Öffnung und zog ihn sogleich wieder zurück. Dann verharrte sie eine Weile und starrte mit aschfahlem Gesicht entsetzt auf die Öffnung.

»Was ist los?«, fragte Agent Holloway verwirrt, der zum ersten Mal menschliche Züge erkennen ließ. »Was haben Sie gesehen?«

Die Frau trat zur Seite und sah ihm in die Augen. Der überhebliche und arrogante Ausdruck war wie weggeblasen. Entsetzen spiegelte sich in ihrem Gesicht.

Conchavez trat an die Öffnung und steckte vorsichtig den Kopf hinein. Obwohl das Licht im Innern sehr spärlich war, konnte er den Grund von Hastings Entsetzen sofort erkennen. Agent Peters’ Körper lag auf unnatürliche Weise gekrümmt auf dem Boden der Kabine. Das Gesicht und die Hände waren mit einer eigenartigen, dunkelgrauen Substanz überzogen. Mund und Augenhöhlen wirkten wie dunkle Krater. Seine Uniform war in sich zusammengefallen, als wäre der Körper, der vor kurzem noch darin gesteckt hatte, verschwunden. Das Eigenartigste war jedoch, dass sich die dunkelgraue Substanz zu bewegen und zu verformen schien, als würde ein Insektenschwarm einen Kadaver vollständig bedecken und zersetzen. Conchavez kannte keine Insekten, die etwas Derartiges in so kurzer Zeit fertigbrachten.

Angewidert trat er zurück und drehte sich zu Colette Hastings um. »Was ist das?«, fragte er verstört.

»Ich weiß es nicht. So etwas habe ich noch nie gesehen. Scheint irgendeine Art von Insekten zu sein.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Insekten einen menschlichen Körper in so kurzer Zeit vernichten können. Zumindest keine, die in unseren Breitengraden vorkommen.«

Abrupt wandte sie sich von ihm ab, trat unbeholfen einen Schritt vor und sagte mit zittriger Stimme: »Sergeant Holloway, benachrichtigen Sie die Seuchenschutzbehörde. Sie sollen ein Team herschicken.«

»Jawohl, Ma’am«, antwortete dieser kurz.

»Sergeant Conchavez, bitte rufen Sie noch weitere Patrouillen hierher und lassen Sie die Gegend weiträumig abriegeln. Niemand darf sich diesem Transporter nähern.«

Conchavez lief zu seinem Aerobike und benachrichtige über den Kommunikator die Leitstelle.

Eine Stunde später wimmelte es von Menschen. Die Leute der Seuchenschutzbehörde erschienen mit drei Gleitern und einem großen Transporter, der ein fahrbares Untersuchungslabor enthielt.

Die Verkehrspatrouille hatte die Gegend hermetisch abgeriegelt. Niemand konnte sich unbemerkt dem Ort des Grauens nähern. Menschen in weißen Schutzanzügen liefen wild durcheinander. Conchavez’ Vorgesetzter der Traffic Patrol und noch ein paar andere anscheinend wichtige Leute waren ebenfalls erschienen und stellten ihm immer wieder dieselben Fragen. Doch auf seine eigene Frage, was mit Sergeant Peters passiert sei, erhielt er keine Antwort. Langsam begann ihm die ganze Sache gehörig auf die Nerven zu gehen. Zudem wurde er über sämtliche Vorkommnisse zu absolutem Stillschweigen verpflichtet.

 

Gegen Mittag führten ihn Sicherheitsbeamte zu seinem Aerobike und eskortierten ihn anschließend durch die Absperrungen.

Natalia Kirova traute ihren Augen nicht, als sie die Messdaten der Untersuchung auf dem Display sah. Sie hatte den ganzen Nachmittag und die halbe Nacht damit verbracht, die dunkelgrauen Partikel zu analysieren. In ihren zweiundzwanzig Jahren als Mikrobiologin hatte sie schon manche Ungereimtheit erlebt. Bisher hatte sich alles auf irgendeine Weise erklären lassen. Doch dieses Mal zweifelte sie entweder an der Funktionstauglichkeit der Geräte oder an ihrem Verstand. Was sie hier zu sehen bekam, war schlicht und einfach nicht möglich.

Bei den Partikeln schien es sich um Einzeller in Molekülgröße zu handeln. Es stellte sich jedoch heraus, dass sie nicht biologisch, sondern synthetisch waren. Ursprünglich, denn sie fand heraus, dass die Partikel mit den organischen Zellen von Agent Peters Körper eine Verbindung eingegangen waren.

Kurz nachdem sie mit ihrem Team am Unfallort eingetroffen war, hatten sie den Leichnam, oder das, was von ihm noch übrig war, mit Trockeneis besprüht und danach in eine Isolierbox verpackt. Im mobilen Untersuchungslabor wurden Proben entnommen und analysiert. Das Ergebnis hatte das gesamte Team vor den Kopf gestoßen.

Natalia Kirova hatte ein einziges Partikel isoliert und es unter dem Elektronenmikroskop beobachtet. Es passierte überhaupt nichts. Das einzelne Partikel war völlig inaktiv. Als sie jedoch eine ganze Kolonie von Partikeln beobachtete, konnte sie rege Aktivitäten feststellen. Die Partikel funktionierten also nur im Kollektiv!

Sehr eigenartig war, dass Agent Peters’ Zellen anscheinend noch lebten und sich teilten. Kirova konnte allerdings nicht feststellen, ob sie eine eigenständige Existenz führten oder ob sie von den synthetischen Einzellern am Leben erhalten und gesteuert wurden.

Die wohl verblüffendste Tatsache war jedoch, dass die organischen Zellen zwei verschiedene DNS-Codes enthielten. Der eine war mit jenem von Agent Peters identisch. Für den zweiten hatte sie keine Erklärung. Hastig aktivierte sie ihren Kommunikator und wählte die zentrale Datenbank an.

»Natalia Kirova, Identifikationscode SD463-89a23f7, ich benötige die Daten zu folgendem DNS-Code.«

Sie betätigte ein paar Tasten und übermittelte den DNS-Code.

»Zugriff genehmigt und Datenempfang bestätigt«, klang eine synthetische Stimme aus dem Gerät. »Die angeforderten Daten werden sofort übermittelt.«

Kirova leitete den Empfang auf ihren Rechner um, ein längliches Gerät mit einem breiten Display, das um ihren linken Unterarm geschnallt war.

Wenig später erklang ein kurzes Signal und bestätigte den Empfang der Daten. Sie blickte auf das Display und las: »DNS-Code Jennifer Rosenberg, 26 Claremont Street, Boulder City.«

7.

Kim wurde durch Schreie und anderen Lärm aus dem Schlaf gerissen. Flackerndes Licht drang von draußen durch den Flur in ihr Schlafzimmer. Ein Blick auf die digitale Zeitanzeige sagte ihr, dass es kurz nach fünf Uhr morgens war. Vom Schlaf immer noch halb gelähmt, rappelte sie sich hoch, schlurfte ins Wohnzimmer und blickte zwischen den Lamellen hindurch aus dem Fenster.

Draußen standen zwei Gleiter der örtlichen Polizei mit Blaulicht. Zwei uniformierte Beamte lehnten sich an die Fluggeräte und schienen zu warten. Der Lärm kam allerdings nicht von ihnen, sondern vom Haus der Rosenbergs. Es machte den Anschein, als hätte Benjamin Probleme mit zwei weiteren Beamten.

Kim ging zurück in ihr Schlafzimmer, zog sich Shorts und ein T-Shirt an und verließ das Haus. In diesem Moment sah sie, wie sich Benjamin zwischen zwei Beamten wand und sich zu befreien versuchte. Anscheinend hatten sie ihm Handschellen angelegt, denn seine Hände befanden sich auf dem Rücken.

Kim näherte sich der Grundstücksgrenze. Sofort kamen die beiden Beamten von den Gleitern auf sie zu.

»Bleiben Sie zurück, Miss«, sagte der eine und breitete beide Arme aus, um sie daran zu hindern, zwischen den Sträuchern hindurchzutreten.

»Was ist hier los?«, fragte sie verärgert.

»Das sehen Sie doch, wir nehmen eine Verhaftung vor.«

»Sie verhaften Ben Rosenberg?«

»Genau! Nun gehen Sie wieder zurück in ihr Haus. Sie können hier nichts tun.«

»Was wird ihm vorgeworfen? Was soll er getan haben?«

»Tut mir leid, wir können Ihnen darüber keine Auskunft geben.«

»Sie können ihn doch nicht einfach mitnehmen! Er hat nichts verbrochen! Ich kenne ihn sehr gut.«

»Bitte Miss, lassen Sie uns unseren Job erledigen.«

Der Beamte trat noch näher auf sie zu und verwehrte ihr den Zugang vollständig.

In diesem Moment wurde Benjamin an ihr vorbeigeführt.

»Ben, was ist los?«, rief sie ihm zu.

»Ich hab keine Ahnung. Sie haben mich nach Jenny gefragt. Ich wollte wissen, wo sie ist, aber sie sagen es mir nicht.«

»Ben, ich werde dich da rausholen. Mach dir keine Sorgen. Es ist bestimmt nur ein Missverständnis.«

»Ruf Dan Levinson an und berichte ihm, was passiert ist. Du kennst ihn ja.«

»Okay, werde ich machen. Wir werden alles klären.«

Benjamin, der sich mittlerweile beruhigt hatte, wurde zum vorderen Gleiter geführt und auf den Rücksitz verfrachtet. Kurz darauf schwebten die beiden Fluggeräte davon.

Kim wandte sich ab und rannte in ihr Haus zurück. Sie sprach Dan Levinsons Name in ihren Kommunikator, worauf dieser umgehend die Verbindung herstellte. Es dauerte eine Weile, bis der Gesprächspartner sich meldete.

»Dan?«, sprach Kim aufgeregt ins Headset. »Entschuldige, dass ich dich so früh anrufe.«

»Was ist denn los?«, fragte Levinson mit verschlafener Stimme.

»Ben wurde soeben verhaftet.«

»Wie bitte?« Nun klang er wesentlich frischer.

»Vier Polizisten haben ihn in Handschellen abgeführt.«

»Was hat er verbrochen?«

»Ich weiß es nicht. Sie haben ihn gefragt, wo Jenny sei, aber er weiß es doch selbst nicht.«

»Wieso weiß er nicht, wo Jenny ist? Ist sie nicht bei ihm?«

»Eben nicht. Sie ist seit gestern verschwunden. Ben dachte, sie sei bei ihrer Mutter. Aber dort ist sie auch nicht.«

»Was für eine Scheiße soll das denn sein? Jenny verschwunden und Ben verhaftet? Die denken doch nicht etwa, er hätte ihr etwas angetan?«

»Keine Ahnung, aber ich befürchte, darauf wird es hinauslaufen. Er hat mich gebeten, dich anzurufen.«

»Ja, das war das Beste, was du tun konntest. Wir müssen jetzt einen klaren Kopf bewahren.«

»Wir müssen ihn da rausholen.«

»Zuerst sollten wir in Erfahrung bringen, was ihm vorgeworfen wird. Ich werde gleich zum Bezirksgefängnis fahren und mich um die Angelegenheit kümmern.«

»Ich komme mit.«

»Brauchst du nicht.«

»Ich will aber. Ich hole noch einige frische Kleider für Ben und seinen E-Book-Reader, falls sie ihn länger dabehalten wollen.«

»Also gut, treffen wir uns vor dem Bezirksgefängnis.«

Benjamin saß seit über einer Stunde in Handschellen und mit Fußfesseln um seine Knöchel auf einem unbequemen Stuhl in einem kahlen, grauen Raum ohne Fenster. An verschiedenen Stellen an den Wänden konnte er winzige Linsen von Überwachungskameras erkennen. Er wusste, dass irgendwelche Kriminalpsychologen an Monitoren saßen und seine Bewegungen und sein Mienenspiel studierten. Das taten sie immer vor einer Befragung. Auf diese Weise versuchten sie herauszufinden, wie viel Druck ein Verdächtiger bei einem Verhör ertragen konnte und ob seine Gestik oder Mimik etwas über Schuld oder Unschuld verrieten.

Obwohl Benjamin sich keines Verbrechens bewusst war, plagte ihn eine innere Unruhe. Missverständnisse und Justizirrtümer hatte es schon immer gegeben und würden auch in Zukunft vorkommen. Am meisten jedoch machte ihm die Ungewissheit über Jennifers Verbleib zu schaffen. Immer wieder versuchte er, sich zu beruhigen, um möglichst wenig von seinen Emotionen zu verraten. Doch er war sich völlig im Klaren darüber, dass es ihm kläglich misslang. Hatte seine Festnahme etwas mit Jennifers Verschwinden zu tun? War ihr etwas zugestoßen? Wurde er dafür verantwortlich gemacht? Er glaubte nicht an Zufälle, deshalb war es für ihn praktisch ausgeschlossen, dass die beiden Vorfälle nichts miteinander zu tun hatten.

Das Summen der elektronischen Türverriegelung holte ihn aus den Gedanken. Zwei Beamte in Zivil betraten den Raum und setzten sich ihm gegenüber an den breiten Tisch. Sie begrüßten ihn freundlich und sahen ihm lächelnd in die Augen.

»Ich bin Detective Shane McCallen. Das ist mein Kollege Detective Bradley Bishop«, erklang die dünne Stimme des jüngeren der beiden, ein Mann um die dreißig, mit glattem, blondem Haar und Seitenscheitel. »Mister Rosenberg. Wir werden Ihnen nun einige Fragen stellen und hoffen, dass Sie mit uns kooperieren. Je genauer Sie uns antworten, desto schneller haben Sie alles hinter sich.«

»Wessen werde ich beschuldigt? Welchem Dezernat gehören Sie an?«

»Wir sind vom Morddezernat.«

»Mord? Ich habe niemanden ermordet!«

»Bitte nennen Sie uns fürs Protokoll Ihren vollständigen Namen und Ihre Adresse.«

Benjamin wusste, dass jedes Wort, das in diesem Raum gesprochen wurde, aufgezeichnet wurde. Er räusperte sich, versuchte sich erneut innerlich zu beruhigen und nannte die gewünschten Angaben.

»Mister Rosenberg«, fuhr der Blonde fort. »Wissen Sie, warum Sie hier sind?«

»Nein, ich habe keine Ahnung.«

Die beiden Detectives sahen sich für einen kurzen Moment an.

»Können Sie uns verraten, wo sich Ihre Frau Jennifer Rosenberg derzeit aufhält?«

Oh Gott, es ging tatsächlich um Jennifer. Ihr musste etwas zugestoßen sein. Nun machten sie ihn dafür verantwortlich.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er besorgt. »Sie ist seit vorgestern nicht mehr nach Hause gekommen.«

»Sie haben keine Ahnung, wo sie hingegangen ist?«

»Zuerst dachte ich, sie wäre bei ihrer Mutter.«

»Was meinen Sie mit zuerst?«

»Ich habe dort am späten Nachmittag angerufen, aber sie wusste nichts über Jennifers Verbleib.«

»Was haben Sie daraufhin getan?«

»Nichts. Später habe ich es meiner Nachbarin erzählt.«

»Wer ist Ihre Nachbarin?«

»Kim Thomas. Eine junge, alleinstehende Frau.«

»Haben Sie ein Verhältnis mit ihr?«

»Um Gottes willen, nein! Wie kommen Sie denn auf so etwas?« Benjamin schaute McCallen entsetzt an. »Das würde ich Jennifer nie antun!«

Wieder sahen sich die beiden kurz an.

»Bitte sagen Sie mir, wo Jennifer ist.« Benjamins Stimme klang flehend.

»Mister Rosenberg«, ergriff Detective Bishop das Wort. »Es tut uns sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Frau tot ist.«

Obwohl er mit dem Schlimmsten gerechnet hatte, traf ihn diese Aussage wie ein Schwert mitten ins Herz. Er schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. In seinen Gedanken tauchten die Erinnerungen an die vielen schönen Momente mit seiner Frau auf, liefen ab wie ein Film. Der Klumpen im Magen ließ nicht lange auf sich warten. Sein Hals zog sich unbarmherzig zusammen.

Die beiden Detectives senkten ihre Köpfe und starrten auf die Tischplatte. Sie ließen Benjamin Zeit, sich von seinem Schmerz zu erholen.

»Wie ist das passiert?«, fragte Benjamin nach einer Weile mit gebrochener Stimme.

»Wir können es Ihnen noch nicht sagen«, antwortete Bishop.

»Sie wissen nicht, wie sie gestorben ist?«

»Nein. Tut mir leid.«

»Kann ich sie sehen?«

»Das ist leider im Moment nicht möglich.«

»Warum nicht?«

»Es ist nicht möglich. Mehr können wir Ihnen dazu nicht sagen.«

»Wo haben Sie sie gefunden?«

»Mister Rosenberg. Bitte stellen Sie uns keine Fragen. Wir können Ihnen darüber noch nichts sagen.«

»Ist sie ermordet worden? Werde ich verdächtigt?«

»Mister Rosenberg. Bitte!«

Nun setzte Shane McCallen wieder zum Sprechen an: »Mister Rosenberg. Haben Sie oder Ihre Frau in letzter Zeit irgendwelche Waren bestellt oder verschickt?«

Benjamin sah ihn verwundert an.

»Nun, vor etwa drei Monaten habe ich meinem Neffen einen neuen E-Book-Reader geschickt. Vor einem Monat bestellten wir eine neue Leuchtfolie fürs Wohnzimmer.«

 

»Nichts Größeres in letzter Zeit?«

»Nein. Ausgeschlossen.«

»Wie kommt es dann, dass ein auf den Namen Ihrer Frau gebuchter Robo-Transporter unterwegs zu Ihnen war?«

Benjamin starrte die beiden Detectives konsterniert an.

»Ich habe keine Ahnung. Was für eine Fracht?«

»Etwas sehr Gefährliches. Mehr dürfen wir Ihnen dazu nicht verraten.«

»Was hat das Ganze mit dem Tod meiner Frau zu tun?«

»Ihre Leiche wurde in diesem Transporter gefunden«, antwortete McCallen. Oder das, was von ihr noch übrig war, fügte er in Gedanken hinzu.

»Ich kann Ihnen versichern, dass ich mit diesem Transporter nichts zu tun habe. Egal, was darin transportiert worden ist.«

»Im Moment laufen die Ermittlungen noch. Bis die forensischen Untersuchungen abgeschlossen sind, bleiben Sie als Tatverdächtiger in Untersuchungshaft. Wenn Sie einen Anwalt haben, steht es Ihnen frei, ihn zu kontaktieren.«

Benjamin verzichtete darauf, ihnen mitzuteilen, dass dieser bereits unterwegs war.

Als die beiden Detectives aufstanden und den Raum verlassen wollten, fragte Benjamin: »Von wo ist dieser Transporter abgeschickt worden?«

»Aus Tuba City«, antwortete McCallen.

Benjamin blieb bei dieser Antwort beinahe das Herz stehen.