Die Kolonie Tongalen

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6.

Christopher Vanelli spürte mit jedem Schritt, wie ihm schwindlig wurde, was auf den geringeren Sauerstoffgehalt der Luft in dieser Höhe zurückzuführen war. Er hatte sich gegenüber dem Bergführer bisher nichts anmerken lassen, aber nun verstärkte sich der Effekt so sehr, dass er es nicht mehr verbergen konnte.

Sein Begleiter Dawa Tshering, ein Einheimischer aus dem tibetischen Hochland, hatte dies jedoch schon längst erkannt und sein Tempo sukzessiv an Christophers Leistungsfähigkeit angepasst, ohne dass dieser davon etwas bemerkt hatte.

Christopher, knapp einen Meter neunzig groß und schlank, kannte Dawa schon seit einiger Zeit. Es war nicht das erste Mal, dass er mit seinem tibetischen Freund zu einer der letzten Gletscherregionen auf der Erde im Gebiet des Himalaja unterwegs war.

Christopher war von Gletschern fasziniert. Vor den großen Krisen gab es sie noch an vielen Orten auf der Erde. Doch während des massiven Klimawandels seit Ende des zwanzigsten Jahrhunderts waren die meisten von ihnen dahingerafft worden. Bevor sich Christopher Ernest Walton und Eric Daniels angeschlossen hatte, arbeitete er als freiberuflicher Fotograf und Filmer. Doch seit er mit der Space Hopper im Weltraum unterwegs war, übte er diese Tätigkeit nur noch selten aus. Trotzdem wurde er immer wieder von wissenschaftlichen Institutionen für Aufträge angefragt. Da sein persönliches Interesse an Gletschern mittlerweile auch diesen Institutionen bekannt war, handelte es sich bei den Aufträgen oft auch um solche, die damit zu tun hatten.

Sein gegenwärtiger Auftrag führte ihn zu einer Gletscherhöhle, die sich vor einigen Wochen durch Verschiebung der Eismassen gebildet hatte. Die Wissenschaftler konnten anhand seiner Bilder zu wichtigen Erkenntnissen gelangen und entscheiden, ob sich der Standort für geplante Experimente und Forschungen eignete.

Christopher hatte sich dank einiger lukrativer Aufträge dieser Art eine moderne holografische Kameraausrüstung anschaffen können, die er auch für andere Zwecke benutzte. Auch wenn er mit dem Team der Space Hopper im Weltraum unterwegs war, nutzte er viele Gelegenheiten, um Bilder zu schießen.

Sein größtes Interesse galt jedoch den Gletschern. Es war geweckt worden, als er vor Jahren verschiedene Berichte über den damals größten Alpengletscher zu lesen bekam, den Aletschgletscher in der Schweiz, der in rasantem Tempo zu schmelzen begonnen und dadurch eine verheerende Naturkatastrophe ausgelöst hatte. Ganze Bergregionen mussten mangels Trinkwasser evakuiert werden. Die Flüsse unterhalb des Gletschers führten eine Zeit lang permanent Hochwasser, aufgrund dessen auch in den Tälern weite Teile evakuiert werden mussten.

Diese Berichte weckten in ihm auch das Interesse am Klimawandel selbst, der Ende des zwanzigsten Jahrhunderts eingesetzt hatte und immer noch andauerte.

Während sich damals der globale Temperaturanstieg, hervorgerufen durch den Treibhauseffekt, immer mehr beschleunigte und zum rasanten Abschmelzen von Gletschern und Polareis führte, veränderten sich auch die Meeresströmungen. Es kam zu einer Umverteilung der Luftmassen. Einerseits wurde die heiße Luft aus der Äquatorgegend immer langsamer wegtransportiert, andererseits stauten sich kalte Luftmassen an Orten, an denen vorher ein mildes Klima geherrscht hatte. Viele Gegenden vertrockneten, andere wiederum wurden von Überschwemmungen und Hochwasser heimgesucht. Das Ansteigen des Meeresspiegels verschlang zusätzlich große Küstenregionen. Ganze Bevölkerungsgruppen wurden zu Klimaflüchtlingen, für die es anfangs nicht einmal eine gesetzliche Grundlage gab, um sie überhaupt als legitime Flüchtlinge einzustufen.

Die Regenwälder verschwanden vom Weltbild und verwandelten sich zu kargen Steppen, nicht etwa hauptsächlich durch Rodung oder blinde Abholzung, sondern sie vertrockneten durch die höheren Temperaturen und durch Wassermangel. Der Regenwald im Amazonasbecken war zudem von Sandstürmen in der afrikanischen Sahara abhängig. Diese mehrere Kilometer hohen Sandmassen, mit wertvollen Mineralien angereichert, wurden von den starken Winden über den Atlantik nach Westen getragen, vermischten sich mit Regenwolken, die sich vor der südamerikanischen Küste bildeten und ins Landesinnere getrieben wurden, wo sie sich ihrer Last in Form von Regen entledigten. Das Amazonasbecken bedankte sich für diese vielseitige Düngung mit einer beispiellosen Vielfalt. Doch durch die steigende Verdunstung von Meerwasser entstanden im Süden der Sahara neue Monsunregen, die der Sahelzone genug Wasser bescherten, damit diese von der Flora zurückerobert werden konnte. Die entsprechenden Sandstürme, die das Amazonasbecken mit Mineralien und Dünger versorgt hatten, blieben aus.

Innerhalb eines halben Jahrhunderts verschwanden sämtliche Alpengletscher, der größte Teil des Eispanzers von Grönland und das Polareis in der Arktis. Auch von den Gletschern im Himalaja blieb nicht viel übrig. Einzig der fast fünftausend Meter dicke Eispanzer im Innern der Antarktis konnte dieser Entwicklung länger standhalten, auch wenn hier vor allem das Schelfeis an den Küsten immer schneller abbrach, in wärmere Gewässer trieb und schmolz. Dadurch besaß das Festlandeis vielerorts keinen Halt mehr, rutschte nach und versank ebenfalls in den Fluten. Der innere Kern des kontinentalen Eispanzers konnte sich jedoch bis zum heutigen Zeitpunkt einigermaßen halten.

Eine gefährliche Entwicklung hatte sich in der sibirischen Tundra und in Alaska ergeben, in denen das Auftauen der Permafrostböden nebst Kohlenstoffdioxid Unmengen von Methangas freisetzte. Immer öfter kam es zu sogenannten Methanrülpsern, die auf einen Schlag derart große Mengen dieses Giftgases freisetzten, dass es zu einer Sauerstoffverdrängung kam. Dadurch wurde jegliches sauerstoffabhängige Leben in diesen Gegenden vernichtet. Ganze Regionen wurden mit Überflugverboten belegt, da es immer häufiger vorkam, dass Flugzeuge explodierten, die in eine Methanwolke flogen.

Als die Meerestemperaturen soweit angestiegen waren, dass die Methanhydratvorkommen an den Kontinentalabhängen zu schmelzen begannen, verloren die sedimentierten Hänge ihren Halt und rutschten auf den Meeresgrund. Durch diese enorme vertikale Materialverschiebung entstanden Tsunamis, deren Ausmaße sich der Mensch bis zum damaligen Zeitpunkt nie hatte vorstellen können.

Dawas Stimme riss Christopher aus seinen Gedanken. Seit er den Sauerstoffmangel spürte, hatte er kein Wort mehr gesprochen. Dawa kannte Christopher gut genug, um diesen Umstand richtig zu interpretieren. »Wir sind bald da«, sagte er und blickte zu ihm zurück.

Christopher richtete sich auf und nickte seinem Freund zu. Es dauerte jedoch noch eine volle Stunde, bis sie ihr geplantes Ziel erreichten. Als er die horizontale Spalte zwischen Eis und glattem Fels erblickte, ließ er sich in den Schnee fallen und atmete erst einmal kräftig durch. Obwohl er mit seinen sechsunddreißig Jahren noch relativ jung war, machte ihm der Aufstieg in diese Höhe zu schaffen. Er hätte sich zwar bequem mit einem Gleiter hochfliegen lassen können. Aber er wollte sich solche Herausforderungen nicht entgehen lassen.

Nach einigen Minuten öffnete er seinen Rucksack, holte seine Geräte hervor und konfigurierte sie auf die Umgebung und die Lichtverhältnisse. Dawa lächelte, was er eigentlich oft tat, wenn sich ihre Blicke trafen. Das war die Art der Tibeter. Sie waren von Grund auf freundlich und höflich. Als er Christopher vor einigen Jahren zum ersten Mal begleitet hatte, hatten sie sofort ihre Sympathien bemerkt und sich angefreundet. Seither versuchte Christopher jeweils, den Zeitpunkt seiner Expeditionen mit Dawas Verfügbarkeit abzustimmen. Dawa arbeitet als Lehrer und Sporttrainer an einer Schule in Zhongba, nahe der Grenze zu Nepal und hatte gerade Schulferien.

Christopher erhob sich und ging zum Eingang der Spalte. Dort ließ er sich auf die Knie nieder und blickte hinein. Es war stockdunkel. Durch den ständigen Blick auf die Schneelandschaft brauchten die Augen etwas mehr Zeit, um sich auf diese Dunkelheit einzustellen. Gefolgt von seinem Freund kroch er auf allen Vieren hinein und schaltete die Stirnlampen ein. Er sah sich um und konnte erkennen, dass die Höhle im Innern höher war, sodass er sich problemlos aufrichten konnte. Nach einer Weile hatten sich seine Augen besser an die Dunkelheit gewöhnt, und er konnte die ungefähren Ausmaße der Höhle noch besser erkennen. Sie dehnte sich vorwiegend in die Breite aus und war unterschiedlich hoch. Im Hintergrund wurde sie immer niedriger. Der Felsen stieg mehr und mehr an. Ein Ende war nicht zu erkennen.

Christopher verteilte die Leuchtkörper, ging anschließend in der Mitte in die Hocke und las auf dem Display des Belichtungsmessers die Ergebnisse ab. Dawa zeigte auf einige sehr interessante Stellen. Christopher begann, ein Bild nach dem anderen zu schießen.

Eine Stunde später verspürte er Hunger. Zusammen setzten sie sich hin, packten den Proviant aus ihren Taschen und nahmen ihre karge Mahlzeit ein. Eine weitere halbe Stunde später packten sie die Reste wieder ein und verstauten sie in ihren Taschen. Während des Essens hatten sie die Höhle genauer in Augenschein genommen, woraus sich konkretere Pläne für weitere Aufnahmen ergaben.

Christopher packte einige Leuchtkörper in seine Hosentasche und kroch langsam tiefer ins Innere, jedoch immer darauf bedacht, nie den Halt unter den Füssen zu verlieren. Dawa folgte ihm in sicherem Abstand. Zu seinem Erstaunen entdeckte Christopher im Innern einen niedrigen Seitengang, der zu einer weiteren Kammer führte. Er leuchtete sie aus und stellte fest, dass sie weitaus größer war als die Eingangshöhle. Vorsichtig kroch er in den Seitengang, bis er sich in der großen Kammer befand. Hier konnte er ohne die Leuchtkörper überhaupt nichts sehen, da das Tageslicht nicht bis hierher vordrang. Er verteilte sie wieder in einem Kreis und nach oben gerichtet auf dem Boden, sodass sie den Raum mit einer angenehmen Helligkeit ausfüllten.

 

Die Decke leuchtete in den vertrauten, wunderschönen Blautönen, die Christopher in der Natur bisher nur selten zu Gesicht bekommen hatte. Erneut ließ er die Kamera ein Bild nach dem anderen schießen, während Dawa in regelmäßigen Abständen die Leuchtkörper verschob und somit die reflektierenden Muster im Eis veränderte.

Plötzlich bemerkte Christopher, dass Dawa an einem bestimmten Punkt stehen geblieben war und nur noch in eine Richtung blickte. Christopher ließ die Kamera sinken und sah in dieselbe Richtung. Eine dunkle Stelle erregte seine Aufmerksamkeit. »Was siehst du da?«

Dawa antwortete nicht sofort, machte einen Schritt auf die Stelle zu und blieb wieder stehen, ohne den Blick abzuwenden. Christopher trat neben ihn und erkannte ein kleines Loch im Eis, aus dem ausschließlich Finsternis drang.

»Was ist das?«, fragte er und ging noch etwas näher.

»Pass auf!«, warnte Dawa. »Die Eisdecke könnte einstürzen.«

»Wie kommst du darauf?«

»Ich vermute, unter uns befindet sich ein großer Hohlraum.«

»Woran erkennst du das?«

»An der Akustik. Hör genau hin!« Dawa schnalzte kurz mit der Zunge und wartete einen Augenblick. »Hast du es gehört?«

»Ja.« Kurz nachdem Dawa das Geräusch erzeugt hatte, drang aus dem dunklen Loch ein schwacher Hall an seine Ohren.

»Wenn wir uns auf den Boden legen, können wir uns näher heranbewegen.« Dawa machte den Anfang und robbte langsam auf das Loch zu. Christopher folgte ihm vorsichtig.

Das Loch war etwa einen halben Meter hoch, dafür aber mehr als doppelt so breit. Nebeneinander krochen sie langsam hinein, immer darauf bedacht, den Boden auf seine Stabilität zu prüfen. Als der Gang zu Ende war, stellten sie fest, dass das Licht ihrer Stirnlampen auf keine Hindernisse traf. Sie waren anscheinend zu schwach, um diesen Hohlraum ausleuchten zu können.

Christopher gab einen Laut von sich und erschrak über den langen, aber leisen Widerhall, den er vernahm.

»Die muss riesig sein«, sagte Dawa beeindruckt.

»Riesig scheint nur der Vorname zu sein.«

»Das ist sehr eigenartig.«

»Warum meinst du?«

»Hohlräume in Gletschern entstehen, wenn sich die Eismassen bewegen. Das tun sie meistens ruckartig, wenn der Druck oder die Spannung zu groß wird. Die Hohlräume, die dadurch entstehen, sind für gewöhnlich nicht so groß.«

»Willst du damit sagen, dass dieser Hohlraum aus einem anderen Grund entstanden ist?« Christopher blickte seinen Freund von der Seite fragend an.

»Ja.«

»Was glaubst du, wie diese Höhle entstanden ist?«

»Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Aber sie liegt nicht, wie ich zuerst vermutet hatte, unter uns, sondern vor uns.«

»Wie kommst du darauf?«

»Achte mal auf die Fläche vor uns.«

»Sie ist spiegelglatt. Das ist allerdings sehr merkwürdig.“

»Alles deutet daraufhin, dass dies irgendwann mal ein unterirdischer See war, der jetzt zugefroren ist. Bei den hier herrschenden Temperauren muss das Eis sehr stabil sein.«

»Du meinst, wir könnten problemlos darauf gehen.«

»Ich glaube schon.«

»Du bist dir aber im Klaren darüber, dass uns hier niemand findet, wenn wir einbrechen und nicht mehr rausfinden.«

»Ich bin überzeugt, dass dies nicht passieren wird. Wir werden uns aber trotzdem gegenseitig absichern. Ich werde zurückgehen und die Seile holen.«

Kurz darauf war Dawa verschwunden. Christopher versuchte mit seiner Stirnlampe, verschiedene Bereiche der Höhle auszuleuchten, was ihm jedoch wegen deren Größe kaum gelang. Doch in einiger Entfernung glaubte er, das Glitzern einer Spiegelung wahrgenommen zu haben. Erneut versuchte er, den Lichtstrahl in diese Richtung zu lenken und konnte kurz darauf dieselbe Lichtreflektion erkennen.

Wenig später kam Dawa mit Seilen und einer Teleskopstange zurück. Letztere befestigte er vor dem Einstieg des Durchgangs und band das eine Ende eines der Seile daran. Das andere Ende reichte er Christopher, der es sich sogleich um die Hüften schnürte. Dawa tat es im mit dem zweiten Seil gleich.

»Ich werde zuerst gehen, während du mein Seil hältst«, sagte Christopher.

»Dasselbe wollte ich gerade umgekehrt vorschlagen.«

Christopher lächelte seinen Freund an, drehte sich um und kroch in die Höhle hinein, genau in die Richtung, in der er die Spiegelung gesehen hatte. Um die Stabilität des Eises zu prüfen, schlug er in regelmäßigen Abständen mit dem Eispickel Löcher in den Boden. »Du kannst nachkommen«, rief er seinem Kameraden zu. »Das Eis ist hier sehr dick und stabil.«

Als Dawa neben ihm auftauchte, hatte sich Christopher bereits aufgerichtet und beleuchtete den Boden.

»Siehst du, wie dunkel das Eis ist. Das zeugt von einer sehr hohen Dichte. Für einen Einsturz besteht keine Gefahr.«

Christophers Aufmerksamkeit galt jedoch etwas ganz anderem.

Dawa schien dies zu bemerken. »Was ist das?«

»Die Spiegelung ist mir vorhin schon aufgefallen.« Christopher machte ein paar Schritte und blieb wieder stehen. Die Reflektion hatte sich verstärkt. Er richtete den Lichtstrahl langsam nach oben. Erneut machte er einige Schritte auf das Objekt zu.

»Sei vorsichtig«, hörte er Dawas Stimme hinter sich. Kurz darauf hatte er ihn eingeholt und stand neben ihm. »Was ist das denn?« Nun galt auch Dawas Aufmerksamkeit dem Objekt vor ihnen.

Als sich Christopher erneut vorwärts bewegte, hatte er nur noch das Objekt im Blickfeld. Er spürte, dass Dawa sein Seil straff hielt, um ihn abzusichern. Doch dies wäre nicht nötig gewesen, da der eisige Boden extrem hart und stabil war. Mit jedem Schritt glaubte Christopher, dem Objekt näher zu kommen, doch dann musste er feststellen, dass er sich gewaltig getäuscht hatte. Die Distanz hatte sich anscheinend kaum verändert.

»Ich verstehe das nicht«, sagte er, als Dawa ihn erneut eingeholt hatte. »Nun haben wir doch schon eine ganz schöne Strecke in dieser Höhle zurückgelegt, aber mir scheint, dieses Objekt ist immer noch gleich weit entfernt.«

»Das ist eine optische Täuschung«, antwortete Dawa. »Es ist viel größer, als wir es eingeschätzt hatten. Die Höhle selbst ist auch viel höher, als wir gedacht hatten. Schau mal nach oben. Unser Licht reicht nicht bis zur Decke.«

»Du hast recht.«

Nach wie vor den Boden prüfend, gingen sie nun gemeinsam vorwärts. Zwischendurch drehten sie sich um und stellten irgendwann fest, dass sie den Höhlenausgang nicht mehr erkennen konnten.

Plötzlich waren die Seile zu Ende. Sie sahen sich fragend an.

»Ich werde zurückgehen und mein Seil lösen«, sagte Dawa spontan und machte sich auf den Weg. Als er wenige Minuten zurückkehrte, spürte Christopher, dass sein Seil wieder nachgab. »Ich habe mein Seil an deines geknüpft. Auf diese Weise haben wir die doppelte Länge zur Verfügung. Ich werde mich einfach bei dir einhaken.«

Zuversichtlich gingen sie weiter bis sich das Seil erneut anspannte. Sie hatten sich dem Objekt zwar ein gutes Stück genähert, waren jedoch immer noch nicht nahe genug, um zu erkennen, um was es sich dabei handelte.

»Was nun?«, fragte Christopher ratlos.

Dawa hakte sich von Christopher los, nahm seine Stirnlampe ab und legte sie auf den Boden. »Binde dich los und leg das Ende des Seils neben meine Lampe. Wir werden ohne das Seil weitergehen. Wir lassen meine Lampe hier, damit wir wieder hierherfinden.«

»Bist du sicher, dass wir das tun sollten?«

»Der Boden ist stabil. Es wird uns nichts passieren.« Dawa löste Christophers Seil und legte es auf den Boden. »Wir müssen darauf achten, zusammenzubleiben.«

Einige Minuten später blieben sie stehen. Sie hatten keine Vorstellung davon, welche Strecke sie mittlerweile zurückgelegt hatten.

Aber sie hatten das Objekt erreicht.

Sie standen davor, starrten darauf und fanden keine Worte. Ihre Verblüffung war zu groß, um sich auch nur im Geringsten vorzustellen, um was sich dabei handelte. Es besaß eine spiegelglatte Oberfläche, hart und glänzend. Aber über eines waren sie sich im Klaren:

Was vor ihnen in die Höhe ragte, war kein Eis.

Christopher zog seinen Handschuh aus und legte seine Hand auf die Oberfläche. Im ersten Moment spürte er Kälte, die aber sogleich verschwand. Zudem glaubte er, dass sich die Oberfläche plötzlich nicht mehr so hart anfühlte, wie noch kurz zuvor. Erschrocken entfernte er seine Hand und starrte völlig entgeistert auf die Stelle, an der sie gelegen hatte.

Keine Spiegelung mehr!

Im Schein seiner Lampe sah er einen mattblauen Fleck, dessen Umrisse genau seine Hand beschrieb, während die Fläche darum herum nach wie vor glänzte.

»Das ist doch unmöglich«, sagte Dawa und berührte mit seiner Fingerspitze den Fleck. »Er ist weich. Was ist das für ein Material?«

Auch Christopher berührte nun den Fleck. »Keine Ahnung. Auf jeden Fall kein Eis. Aber auch kein Fels. Fühlt sich an wie ein Kunststoff.«

»Könnte dies ein Teil eines Fluggleiters sein?«, fragte Dawa.

»Glaube ich nicht. Schau dir mal die Form an.« Christopher leuchtete mit der Lampe nach oben. Das Gebilde hatte scharfe, gerade Kanten und wurde immer schmaler. »Ich kenne keine Fluggleiter mit einer solchen Form.«

»Aber etwas Natürliches ist es auch nicht.«

»Da gebe ich dir recht.« Christopher sah Dawa für einen Moment in die Augen. Dann drehte er sich um die eigene Achse und leuchtete in alle Richtungen.

Dawa, der mit seinem Blick dem Lichtstrahl folgte, war genauso sprachlos wie Christopher. In unterschiedlichen Entfernungen gab es Dutzende weiterer Objekte mit ähnlichen Formen. Bizarre Gebilde, die aus dem Eis nach oben ragten.

Plötzlich bemerkte Christopher, dass Dawa ihn entsetzt anstarrte. »Was hast du?«

»Schau dir mal deine Hand an«, antwortete er besorgt.

Als Christopher das Licht auf sein Handfläche richtete, erkannte er die blaue Verfärbung. Erschrocken streifte er sie an seiner Hose ab. Doch es half nichts. Die Verfärbung blieb.

»Lass uns von hier verschwinden!«, sagte er und machte sich auf den Rückweg, gefolgt von seinem Freund.

Als sie Minuten später in die zweite Höhle zurückkehrten, hörten sie aus der Eingangshöhle das Empfangssignal von Christophers Kommunikator. Hastig sammelten sie die Leuchtkörper ein, verstaute die Geräte und krochen zurück in die Eingangshöhle. Christopher nahm den Kommunikator und steckte dessen Clip an sein Ohr.

»Wie schnell kannst du in Geneva sein«, hörte er die energische Stimme Ernest Waltons.

»In Geneva?«, fragte Christopher verwundert. »Was soll ich dort?«

»Komm einfach so schnell, wie es dir möglich ist, hierher! Wir haben neue Aufträge.«

»Das könnte etwas problematisch sein.«

»Problematisch? Warum das denn?«

»Ich befinde mich in einer Gletscherhöhle mitten im Himalaja.«

Am anderen Ende herrschte einen Moment Stille. Dann kam ein Räuspern, dann noch ein paar unverständlich gemurmelte Wörter. Nach einer Weile fuhr Ernest fort: »Wie lange brauchst du bis in die Zivilisation zurück?«

»Wenn wir jetzt gleich aufbrechen, etwa drei Tage.«

»Kannst du dich nicht runterfliegen lassen?«

»Wenn es unbedingt sein muss.«

»Es wäre gut, wenn du es einrichten könntest. Wir haben zwei wichtige Aufträge, die nicht warten können.«

»Ich werde mich gleich auf den Weg machen.«

»Falls du noch etwas zu erledigen hast oder besorgen musst, dann tu es auf dem Weg hierher. Wir werden anschließend länger unterwegs sein.«

Ernest hatte die Verbindung unterbrochen. Christopher legte den Kommunikator beiseite. Er zerlegte seine Ausrüstung in ihre Einzelteile und verstaute sie im Rucksack. Danach verließ er zusammen mit Dawa die Höhle und rief über den Kommunikator einen Fluggleiter.

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