Loe raamatut: «Alle Farben weiß»
CHRISTA LUDWIG
alle Farben weiß
eine Erzählung
Inhalt
minus drei: Finger
minus zwei: Fußgelenk
minus eins: Augen
null: Haare
eins: Köpfe
zwei: Schulter
drei: Mund
vier: Mund
fünf: Gesichter
sechs: Hände
sieben: Hände
acht: Hand
neun: Gesicht
Leseprobe
minus drei
Finger
Diese Worte standen am Beginn der entscheidenden Wende in Selinas Leben: «Du bist besser als jeder Samurai. Der braucht nur ein scharfes Schwert und genügend Schwung, um ein Haar zu durchtrennen, du aber kannst es spalten, wirklich spalten, der Länge nach, deine Finger haben Bewegungen im µ-Bereich.»
Das sagte der Professor im Kurs «Aktzeichnen». Es blieb offen, ob dies ein Kompliment sein sollte oder ein weiterer Hinweis auf ihr Scheitern. Sie sah Stefan grinsen, er schüttelte sein rechtes Handgelenk, lockerte es, als wollte er gezielt darauf hinweisen, dass er anstelle von µ-Bewegungen in den Fingern die vollkommene Sicherheit im Handgelenk habe, aber Niklas schaute Selina ernst und anerkennend an. Der Professor gab ihr das Blatt zurück.
«Im Bilderfälschen wärst du unschlagbar», sagte er, «aber, sorry, das unterrichte ich nicht.»
Damit saß die Ohrfeige, und er ging weiter, mit jenem leicht wiegenden Schritt, den Selina immer an ihm beobachtete, wenn er im Wohlgefühl eines Erfolges badete, und sie dachte zum ersten Mal: Du heißt gar nicht André, Professor, du heißt Andreas, stinknormal deutsch!, und sie dachte das auch zum letzten Mal, wichtiger war er nicht. Aber Niklas!
Es war ein übler Tag für sie. Die Unterrichtsstunde hatte schon schlimm begonnen. Sie war in den Kursraum gekommen, hatte das Aktmodell gesehen und spontan gedacht: Das ist Niklas! Und erst danach: Ah, heute mal ein Mann.
Es war natürlich nicht Niklas, der saß bereits auf seinem Platz und ordnete seine Stifte, und Selinas Sekundenverwechslung war keineswegs naheliegend, denn auch in ihren romantischsten Träumen blieb sie immer der Realität verhaftet, oder genauer, sie blieb dem wirklichen Niklas vollkommen treu. Der hatte relativ kurze Beine im Verhältnis zu einem langen Oberkörper, und der auf dem Podium sitzende, ihr unbekannte junge Mann schien vom Sockel einer griechischen Statue aus der Hochklassik herabgestiegen zu sein. Aber beim Betreten des Raumes hatte Selina ihn schräg von hinten gesehen und die nahezu blonden, leicht gelockten Haare, die ihm fast bis auf die Schultern fielen, konnte man für die von Niklas halten. Mit einem kleinen eifersüchtigen Stich hatte sie sich gefragt, wem außer ihr diese Verwechslung passiert war. So war sie zu ihrem Platz gegangen, irritiert, mit einem leichten Schwindelgefühl. Es dauerte, bis sie sich von dem Gedanken ‹Das ist Niklas› trennen und den Mann auf dem Podium anschauen konnte, der Stift in ihrer Hand zitterte in Amplituden weit jenseits des µ-Bereichs, bis sie endlich fähig war zu zeichnen, langsam, sorgfältig, genau, korrekt. Mit verbissenem Widerwillen sah sie, was entstand: kein Bild, nur ein Abbild, ausdruckslos schön. Stefan hatte in derselben Zeit aus seinem lockeren Handgelenk drei Skizzen auf das Papier geschüttelt, und André sammelte noch einmal bewundernde Blicke für besonders treffende Bemerkungen aus Studentinnenaugen, als er kommentierte: «He, Stefan, ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass du einen Männerkörper zeichnen kannst.»
Nach dem Kurs wollte Selina eigentlich allein zur Mensa gehen, aber Niklas holte sie ein, lief eine Weile schweigend neben ihr her, murmelte dann leise «arroganter Arsch» und rettete ihre Mittagspause.
Sie hatten eine große Wohnung in der Innenstadt gemietet, Altbau, hohe Räume, Wohnküche, alles etwas heruntergekommen, aber das störte niemanden, eine ideale WG, sechs Kunststudenten, drei Frauen, drei Männer – es hätte rein rechnerisch also aufgehen können. Das tat es nicht. Laura und Leon waren ein Paar, stabile Beziehung, seit Jahren. Die Schlafgemeinschaften der anderen vier waren ungleich verteilt. Irene, die ihren altmodischen Namen verabscheute und ihn darum englisch aussprach, schlief mit Stefan oder Niklas, nicht abwechselnd, sondern meist mit Stefan, und Selina mit keinem von beiden.
«Du kannst doch Niklas haben», hatte Irene ihr angeboten, «warum nimmst du ihn nicht? Ich bin nicht scharf auf ihn. Er ist hübscher als Stefan, aber Stefan ist besser, viel besser!»
«Ich kaue noch eine alte Beziehung durch», hatte Selina gelogen.
Und Irene hatte verständnisvoll genickt und gesagt. «Schluck’s runter, spül’s runter, bringt nichts, ich mach das nicht mehr.»
In dieser schönen großen Wohnung, in diesem idealen Umfeld quälte sich Selina durch ein zähes Leben. Ausgerechnet Stefan, den sie für einen geilen Primitivling hielt, ungebildet und ignorant, dem die hohe Begabung nur durch ein Versehen des Schicksals zugefallen war, sagte beim gemeinsamen Essen in der Wohnküche nicht lange nach Andrés verheerendem Satz über ihre Haarspalterei in µ-Bewegungen: «Du bist wie Grete Siebenschein!» Während Selina empfindlich getroffen zusammenzuckte, fragten Irene und Niklas synchron: «Wie wer?»
Selina versuchte, allen Blicken auszuweichen, weder wollte sie zur Kenntnis nehmen, dass Stefan offenbar Doderer gelesen hatte und Niklas nicht, noch wollte sie Niklas bloßstellen – Irene war ihr egal –, und schon ganz und gar nicht wollte sie sich eingestehen, dass dieser Vergleich stimmte. Aber Stefan hatte sie erwischt.
«Komm schon», sagte er, «gib’s zu, du hast verstanden, was ich meine, du weißt, wer Grete Siebenschein ist.»
Sie hob den Kopf, blickte Stefan gerade in die Augen – grau mit einem Hauch von hellem Braun –, stand auf und ging. Als sie die Tür ihres Zimmers zuzog, hörte sie noch, wie Stefan erklärte. Sie setzte sich auf ihr Bett. Grete Siebenschein! Sie hatte zwei Semester Germanistik studiert, ein Seminar über Heimito von Doderers große Wien-Romane gemacht, und immerzu hatte sie denken müssen: Wenn ich auf Kunst umsteige, wenn ich wirklich auf Kunst umsteige, dann bin ich wie Grete Siebenschein.
Die schöne junge Jüdin in Doderers Roman liebte Musik wie Selina Kunst. Grete spielte Klavier. Und sie übte. Sie rang um das Konzertniveau. Und sie übte. Sie wurde immer sicherer, sie mühte sich, sie quälte sich, sie spielte die Noten, perfekt wie ein Automat.
Selinas Leben überschritt die Grenze zum Katastrophenstatus, als sie erkennen musste, dass Niklas in Irene verliebt war. Nicht unerfahren im Umgang mit verheerenden Gemütszuständen, verdrehte sie die neue Wahrnehmung sofort von Bitternis in schmerzhafte Süße, indem sie sich sagte: Natürlich, das musste passieren, er hat ein paarmal mit ihr geschlafen, das ging von ihr aus, sie hat ihn gekrallt, weil Stefan nicht da war, und wenn Niklas mit einer Frau schläft, dann liebt er sie, so ist er eben, er kann nicht anders.
Irene hatte aus einem Hotel das Zimmerschild mitgenommen, jene kleine Papptafel, die man in Türklinke oder -knauf einhängen kann, auf der einen Seite steht grün «Jetzt aufräumen» und auf der anderen rot «Bitte nicht stören». Meist hing das Schild, die grüne Seite sichtbar, an ihrer Klinke oder lag in wechselnden Farben auf dem Boden, weil es immer, wenn sie die Tür von innen öffnete, herunterfiel. Wenn es aber an dem dafür in die Tür geschlagenen Nagel auf Augenhöhe unübersehbar rot jeden abwies, fehlte mit Sicherheit Stefan in der Wohnung. Oder – selten – Niklas. Der saß dann stattdessen in der Küche mit offener Tür und Blick auf das Zimmerschild, trank den billigen italienischen Rotwein von Norma, und seine Augen pendelten wie eine alte Uhr, nur sehr viel langsamer, von Schild zu Weinglas, von Rot zu Rot. Wenn Selina vorbeiging, sofern sie in der Wohnung war, tat sie das immer, würgte er eine hilflose, weindurchtränkte Silbenfolge, die sie begierig als ihren Namen verstand.
So saßen sie dann in der Küche und durchlitten gemeinsam dieselben Qualen, nur dass Niklas Rot sah, das Schild an der Tür, den Wein in seinem Glas, Selina aber das dunkle Braun seiner Augen, das dem ihrer eigenen so sehr glich, als seien sie Geschwister, freilich nur Augengeschwister, denn mit der Fülle seiner dunkelblonden Locken konnten ihre farblos bräunlichen langen Strähnen nicht mithalten. So sezierten sie ihre Herzen, hielten den Atem an und stießen ihn in kleinen Seufzern wieder aus, weitgehend gleichzeitig. Selina fand den Rhythmus und fügte sich ein, aber während sie wusste, was ihn quälte, hatte er von ihren Empfindungen nicht einmal eine Ahnung. In ihr drehte sich vom Kopf bis zu den Hüften ein schlanker, mehr röhren- als trichterförmiger Wirbelsturm, in dessen Zentrum die klassische Stille im Auge des Hurrikans ruhte. In tiefem, wohlig geborgenem Frieden erreichte ihren Kopf nur ein einziger Gedanke: Wie er sie liebt! Oh, wie er lieben kann! Wie sehr!
Wenn aber dann durch die rot versperrte Tür jener kleine kurze scharfe Schrei drang, zuckte Niklas’ ganzer Körper zusammen, und während Selinas Augen trocken zwinkerten, flossen aus seinen Tränen, die er weder durch Abwenden des Kopfes noch durch Vorhalten einer Hand zu verbergen suchte. Unter dem Vorwand einer tröstenden Geste berührte Selina mit zwei Fingerspitzen seine Hand, die das Weinglas umklammerte. Sie verharrten in stummer, still leidender Gemeinsamkeit, die Selina als atemberaubend, intensiv, innig, als eine intime Nähe erlebte, zu der ihr zumindest in diesem Augenblick keine Steigerung einfiel. Sie verlor jedes Zeitgefühl, es konnten Minuten oder Stunden so vergehen, gern auch ihr ganzes Leben, aber wahrscheinlich waren diese Szenen immer nur kurz, denn für Stefan und Irene war alles meist schnell erledigt, und sobald erste Geräusche aus dem Zimmer drangen, sprang Niklas auf, stürzte den Rest Rotwein in seine Kehle und verschwand leicht taumelnd in seinem Zimmer. Ob er die Trennung von Selinas Fingerspitzen bemerkte, blieb ebenso offen wie die Frage, ob er die Berührung überhaupt wahrgenommen hatte. Selina leckte die Fingerkuppen wie eine offene Wunde und huschte in ihr Zimmer. Da saß sie auf ihrem Bett, ihr war schwindlig, weil die Drehbewegung des Hurrikans ihre äußeren Hautschichten erreichte und sich gegen die Rotation der Erde zu stemmen schien. Sie spürte, wie sie von außen nach innen langsam erkaltete, und wusste: So fühlt sich ein Klumpen Lava, den der Vulkan gnadenlos ausgespuckt hat!
Selinas Studium war ein verlorener Kampf gegen die sich stets wiederholende Erkenntnis, dass an ihren Arbeiten außer der Perfektion nichts perfekt war. Die mangelnde künstlerische Begabung durch Fleiß zu ersetzen brachte mehr Frust als Befriedigung. Freudlos sammelte sie gute Zensuren in allen theoretischen Fächern und blickte voller Neid auf die gerade noch passablen Noten, die ihre fünf WG-Partner in diesen Seminaren nachlässig abhakten. Alle ihre Erfolge hatten den Charme von Trostpreisen, die nicht trösteten, und ein gelegentliches: «He, das ist doch super! Ich wünschte, ich hätte das!» von Leon oder Irene half ihr so wenig wie Stefans spöttisches «Also intelligent bist du!». Gut benotete mindere Fähigkeiten – Selina hätte sie aufs Spiel gesetzt, aber an allem Spielerischen konnte sie ja nicht teilnehmen, das war das Metier der anderen, und als André sie in seine Sprechstunde orderte, war ihr klar, dass er ihr nicht eine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft anbieten wollte.
«Gib’s auf!», riet er ihr und versuchte einen väterlichen Tonfall, der ihm natürlich nicht gelang und unter der antrainierten Jugendlichkeit nur als ältlich großväterlich durchklang. «Wechsel’ zu Kunstgeschichte, du könntest promovieren und ein Museum leiten, aber damit würdest du deine andere Begabung verschwenden. Mach’ Restauration, ich sehe dich in italienischen Kirchen Fresken restaurieren, das wär’s. Ich schreib dir ein bestes Gutachten für beides. Dann kannst du vielleicht das Grundstudium überspringen.»
Selina wehrte sich trotzig.
Und wahrscheinlich hätte sie noch jahrelang ihr Scheitern inszeniert, wenn sie nicht einige Monate später die WG hätte verlassen müssen, weil sie schwanger war.
minus zwei
Fußgelenk
Irene war ausgezogen. Sehr plötzlich. Ohne erkennbaren Grund und ohne zu sagen, wohin sie ging. Sie beantwortete weder E-Mails noch WhatsApps und war nach ein paar Wochen unter ihrer Handynummer gar nicht mehr zu erreichen. Es wurde heftig darüber diskutiert, vor allem von Laura und Leon, Stefan machte hin und wieder eine zynische Bemerkung, Niklas schwieg und litt, und erst als Selina selber ging, überlegte sie, ob Irene wohl dasselbe Problem gehabt hatte, aber sie verwarf den Gedanken.
Irenes Zimmer blieb leer, sie konnten die Miete auch zu fünft bezahlen und brauchten kein neues WG-Mitglied, Laura und Leon vermissten Irene nicht, Stefan konnte sie leicht auswärts ersetzen und Niklas sowieso nicht. Nach ein paar Wochen mit nur zwei Frauen in der Wohnung, von denen eine für ihn tabu war, schien Stefan die Situation doch recht unpraktisch zu finden und gab Selina zu verstehen, dass sie Irenes Erbe antreten möge. Er kam mit zwei Gläsern und einer Flasche Rotwein in ihr Zimmer – es war der gleiche billige Normawein, den Niklas immer in der Küche getrunken hatte –, stellte alles auf ihren Schreibtisch, legte das Hotelschild daneben und sagte: «Guck mal, das hat sie dagelassen.»
«Komisch», sagte Selina, «das braucht sie doch.»
Stefan zuckte die Achseln.
«Soll ich es an deine Tür hängen?», fragte er. «Ich meine, mit der roten Seite nach außen?»
«Ich hab da keinen Nagel auf Augenhöhe.»
«Kann ich einschlagen», bot er an.
«Ich lass mich nicht von dir nageln», sagte sie.
Aber sie warf ihn nicht hinaus, und sie tranken den Wein.
«Ich weiß, dass du in Niklas verliebt bist», sagte Stefan, und während sie entschieden leugnete, bewunderte sie wieder seine klare, genaue Beobachtungsgabe und dachte: Warum eigentlich nicht? Ich hab doch keinen anderen, ist schon so lange her, wär doch mal wieder schön …
Und während Stefan das Schild – rot abweisend – an ihre Türklinke hängte, überfiel sie ein kleines, böses Gefühl, eine Art Rache an Niklas für ihre einsame Gemeinsamkeit in der Küche, für die unsinnige Innigkeit, die zerrissene Zärtlichkeit, für ihr lustvolles, frustvolles Ertrinken im gleichen billigen Wein.
Stefan überraschte Selina noch einmal. Mit Niklas in der Küche sitzend hatte sie ihn sich ganz anders vorgestellt. Er wiederholte mehrmals mit stammelnden Fingern und weicher Stimme «Ich liebe dich!», das klang nicht einmal wie eine Lüge, denn es gab nicht vor, eine Wahrheit zu sein, sie nahm es dankbar entgegen, es half ihr sehr.
Sie trug in jenem Sommer ein Fußkettchen aus Halbedelsteinen. Malachit und Obsidian, Mondstein, Opal und immer wieder Rosenquarz begleiteten jeden ihrer Schritte mit einem kühlen glatten Hüpfen am Fußgelenk, und regelmäßig wie ein Refrain wiederholte sich in der Runde die wärmere Berührung ovaler Bernsteinperlen; nur wenn sie lange in der Sonne lag, kippte das Wechselspiel in sein Gegenteil, die Steine nahmen mehr Hitze auf als das erhärtete Harz, das sich wenig veränderte und das sie darum «mein Freund» nannte, «mein Beständiger». Manchmal jedoch fühlte es sich unvermittelt wie Plastik an, billig und chemisch, künstlich und nachgemacht.
Stefan wurde immer seltsam still, wenn er das Kettchen um ihr Fußgelenk drehte, er schien geradezu melancholisch, wenn er es über ihre Haut gleiten ließ, immer im Uhrzeigersinn, als wollte er sie aufziehen, und so wirkte es auch. Dabei berührte er sie nicht, seine Hände blieben in einer Ferne, die sie als kaum erträgliche Nähe empfand, niemals durfte sie das Kettchen ablegen. Sie aber begann, seine Haare zu lieben. Ihre Fingerspitzen ertasteten seine kurzen Stoppeln als deutlich gebogen, das hatte sie nicht gewusst; aber sehr wohl wissend, dass Niklas jetzt nicht Rotwein trinkend in der Küche saß, versank sie in dem Gefühl, dass sie nur warten müsste, lange genug warten müsste, bis die angedeuteten Kringel in ihren Fingern wachsen würden, Stoppeln zu Locken, und dann würde sie Niklas’ Kopf in den Händen halten, jetzt, genau jetzt.
Sie musste nicht so lange warten, ein oder zwei Haarschnitte, eher Rasuren über Stefans dunklen Schopf, und sie zitterte unter dem Mann, den sie liebte. Es war Wirklichkeit und kein Traum, es war Tatsache und keine Verwechslung, es war ungültig, denn Niklas war betrunken. Er hatte den Alkohol aus allen Gläsern, Bierkrug bis Weinglas, mehr eingeatmet als geschluckt, weil Irene nicht zurückgekommen war, und Leon hatte doch gesagt: «Wartet mal bis zum Seminarfest, da sitzt die am Tresen, hundert pro, und garantiert will sie wieder einziehen!» Aber sie kam nicht.
Niklas entschuldigte sich eine Woche lang täglich bei Selina für das, was er «den peinlichen Ausrutscher, kommt nie wieder vor» nannte, bis sie es wirklich nicht mehr schaffte, dieses Ereignis goldverbrämt in ihr Regal der Seligkeiten zu stellen. Da schon erkannte sie, dass sie würde gehen müssen, und als sie zwei Monate später merkte, dass sie schwanger war, stand ihr Entschluss. Von den vier Möglichkeiten, die ihr nun blieben, verwarf sie drei, eine – Stefan in die Verantwortung zwingen – mit leichtem Schulterzucken, die beiden anderen nach langem Kampf: Informationen über Abtreibung, Gespräche mit anderen Frauen, die dies hinter sich hatten, machten ihr diese Entscheidung unmöglich. Aber der Gedanke an ein Leben mit Niklas wehte eine Weile süßlich durch ihre Tagträume, während ihr immer bewusst war, dass es die Süße der Verwesung war, einer verfallenden Lüge, die sich auf immer zersetzen würde, aber niemals sterben dürfte, sie liebte Niklas nicht verzweifelt genug, um dies sich selbst, und zu sehr, um es ihm anzutun.
Es war Stefans Kind, sie durfte nicht daran zweifeln. Das Kondom war geplatzt. Er hatte es gemerkt, als er es abzog, und mit einem leisen Fluch auf den Boden geklatscht.
«Hast du die Pille danach?»
«Nein.»
«Geh in die Apotheke und hol welche.»
Sie nickte.
«Scheiße, es ist Samstag!», sagte er. «Muss wohl schnell gehen, scheiße, Irene hätte eine gehabt. Weißt du, welche Apotheke aufhat?»
Er tippte hektisch auf seinem Smartphone herum.
«Mach dir keinen Kopf», sagte sie, «da passiert nichts, ist nicht der richtige Zeitpunkt.»
«Sicher?»
«Ziemlich.»
«Das ist deine Entscheidung.»
Er griff nach seinen Kleidern und lief nackt aus ihrem Zimmer.
Sie zog sich langsam an. So ganz stimmte das nicht mit dem richtigen, dem unrichtigen Zeitpunkt. Sie ging zum Fenster, sie rechnete, aber die Mathematik versagt bei Gleichungen mit zu vielen Unbekannten, x=Eisprung, y auch, davon hing alles ab, nach dem Eisprung ist es auch für die Pille danach zu spät, das wusste sie aus ihrer Zeit mit Marcus. Sie blickte hinunter auf die Straße. Wie immer waren mehr Radfahrer als Autos zu sehen. Irgendwie beruhigte sie das. Sie horchte in ihren Körper, der sagte ihr nichts.
Ich muss schnell sein, dachte sie.
Aber sie war nicht schnell. Als doch ein Auto durch die Straße fuhr, riss es mit seinem Tempo eine Angst quer durch ihren Bauch, ihr Blick klammerte sich an einen Radfahrer, kam zur Ruhe und ließ Zeit vergehen, die letzte Zeit, in der sie hätte handeln können. Und das Einzige, was sie dann tat, war Aufräumen, ihre Kleider, ihr Zimmer, die Decken, alles um das geplatzte Kondom herum, das noch immer auf dem Boden lag und da nicht liegen bleiben konnte. Schließlich nahm sie es mit ein paar Tempotüchern auf, trug es ins Bad, wollte es in den kleinen Abfalleimer dort werfen, da war schon eins und sie zuckte zurück.
Der Eimer ist voll, dachte sie, da passt nichts mehr rein, auf keinen Fall dies, das geht nicht, gar nicht, so ein Quatsch, wirf es endlich weg, weg, weg!
Sie wusch es gründlich, trocknete es ab, trug es zurück, wickelte es in ein Handtuch und schob das unten in ihren Schrank. Dann rannte sie aus dem Zimmer, aus der Wohnung, die Treppe hinunter, riss ihr Rad aus dem Ständer, fuhr zur nächsten Apotheke, schnell, nun war sie schnell.
Von diesem Tag an ging Stefan ihr aus dem Weg, er mied alle Gelegenheiten, mit ihr allein zu sein, und kam nie wieder in ihr Zimmer. Sie vermisste ihn, sie hatte sich an ihn gewöhnt, und mehrmals erwischte sie sich dabei, dass sie das Kettchen um ihr Fesselgelenk drehte, Malachit und Obsidian, Mondstein, Opal und immer wieder Rosenquarz und ein wärmeres Streifen von Bernstein im Refrain, und immer im Uhrzeigersinn, rund und rundherum. Dann fehlte er ihr schmerzlich, doch ihre Zeit hier war abgelaufen, ihre Uhr drehte sich gegen den Sinn.
Eineinhalb Monate später verließ sie die WG. Sie meldete sich in Andrés Sprechstunde an, bat um die versprochenen Gutachten, behauptete, sie wolle sich eine Auszeit nehmen und entscheiden, ob sie ins Theoretische – Kunstgeschichte – oder ins Praktische – Restauration – gehen wolle. André war äußerst verständnisvoll, wirkte geradezu erleichtert. «Ich hab immer mitgelitten, wenn du dich so gequält hast!», versicherte er, und sie glaubte ihm.
Ihr Auszug aus der WG war weniger spektakulär als Irenes, denn alles schien klar und offen.
«Du weißt doch», sie grinste Stefan an, «Grete Siebenschein, letztlich hat die’s auch gesteckt.»
Sie versprachen, Kontakt zu halten, «Du bleibst ja in unserer WhatsApp-Gruppe!» «Lieber nicht, ich brauch Abstand.»
«Schick uns deine Adresse», «Klar, aber meine E-Mail bleibt», und Niklas murmelte sein «tschuldigung, du weißt schon …», sie nickte und ging, und keiner wusste, dass sie schwanger war.
Tasuta katkend on lõppenud.