Loe raamatut: «Die Siebte Sage»
CHRISTA LUDWIG
Die Siebte Sage
Inhalt
Flucht mit einem Schuh
Freundschaft
Flucht ins Gefängnis
Hinter der Blumenmauer
Ein Aramine mit Herz zerbeißt seine Zunge
Geheimnisse
Glückstag
Die geprügelte Sonne
Der weiße Lakai
Das Gesetz
Januãos letzte Augenblicke
Träume
Das Hdorigo-Rot
Blindenschule
Ein Wieder-Sehen
Das Zeichen von Leben oder Tod
Wasser
Abwasser
Der Tod ist da, wo du daheim bist
Im Saal der weichen Stimmen
Katzenorgel
Das Gastmahl unter der Erde
Lesen ist lebenswert
Auf der Suche nach dem verborgenen Schmutz
Das dreimal gewendete Blatt
Ein paar Wörter, die du vielleicht nicht kennst?
Meinen jungen Lektorinnen und Lektoren
Alles erfunden?
Flucht mit einem Schuh
Wasser!
Dshirah liebte Wasser. Daheim in der weiten Ebene am Fluss, wo man immer rechtzeitig sah, ob sich jemand näherte, durfte sie die Schuhe ausziehen und im Wasser planschen. Sie konnte sogar ein wenig schwimmen. Die fünf Jungen, die vor ihr in dem schmalen künstlichen Bach mitten in der Stadt herumsprangen, konnten das bestimmt nicht.
«Dshirah!», schrie Silbão und spritzte ihr Wasser ins Gesicht. Er war ein Freund ihres Bruders und sie mochte ihn. Doch sie wandte sich ab.
Ich hätte nicht mit den Jungen gehen sollen, dachte sie. Aber in einer Stadt wie Al-Cúrbona ist es nicht leicht, allein nach Hause zu gehen, wenn die Schule zu Ende ist. Jenseits des kleinen Platzes sah sie die Mädchen aus ihrer Klasse gerade in einer Straße verschwinden. Eine drehte sich um und winkte ihr zu. Beinahe hätte Dshirah zurückgewinkt, es zuckte in ihrer Hand, aber sie presste noch rechtzeitig den Arm an den Körper. Drei Tage hintereinander war sie mit diesem Mädchen bis zur Plaza de las Poemas gegangen, drei Tage, das war fast der Beginn einer Freundschaft. Und Dshirah hatte den Eltern doch fest versprochen, dass sie nie nie nie eine Freundin haben würde, sonst hätte sie nicht zur Schule gehen dürfen.
Ein nasser Ball traf sie im Rücken. Silbão lachte. Das Wasser reichte ihm bis zum Knie. Es floss hier mit nur leichter Strömung am Rand der sacht abfallenden Straße in einem kunstvollen Bachbett aus bunten Fliesen mit Schnörkeln und Ornamenten. Silbão bückte sich, patschte auf das Wasser, dass es spritzte und sprühte. Im Regen der Tropfen sah er noch schöner aus, allerdings nicht klüger. Er war ein Aramine mit schwarzem, gewelltem Haar und dunklen Augen.
«Dshirah, Dshirah wasserscheu …», rief er, «wasserscheu, wasserscheu, wasser-, wasser-, scheu, neu, freu?»
Er kam nicht weiter. Im Verse-Machen war Silbão ein völliger Versager. Er schaute hilflos auf den kleinen Kirr, der auf den Randfliesen saß. Kirr hatte helle Haare, er war ein Barde wie Dshirah. Er hob den Kopf und sagte: «Dshirah, Dshirah wasserscheu, fasst keinen Tropfen Wasser an, es sei denn, dass man’s trinken kann.»
«Fasst keinen Tropfen Wasser an …», schrie Silbão.
«Ich bin nicht wasserscheu», unterbrach Dshirah und trat näher an den Bach.
Ich muss gehen, dachte sie, weg! Weg!
Aber sie war elf Jahre alt und wollte mit anderen Kindern spielen, nicht immer nur daheim mit ihrem Bruder und mit – oh, sie hatte eine Freundin! Doch das durfte niemand wissen.
Silbão sprang an einer bunten Schlange aus mehreren Fliesen entlang, die sich am Boden des Bachbettes ringelte. Er lachte.
Ich muss gehen, dachte Dshirah und sagte: «Ich kann nur nicht ins Wasser, weil meine Schuhe dann so rutschig werden.»
«Zieh sie aus!»
Die Sandalen der Jungen lagen alle auf der Straße.
«Das geht nicht. Meine Mutter bindet sie immer so fest. Ich krieg sie nicht auf.»
Niemand kriegt sie auf, dachte sie, die auch nicht.
Denn Dshirah trug keine Sandalen, sondern weiche Lederschuhe. Bänder waren über Kreuz ihre Unterschenkel hinauf gewickelt und unter ihrem Knie mit einem Knoten zusammengehalten, den niemand öffnen konnte, nicht einmal ihre Mutter. Die schnitt ihn jeden Abend auf und zog neue Bänder ein.
Silbão hörte auf zu planschen.
«Warum hast du nur diese Schuhe an?», fragte er.
Er kam häufig Dshirahs Bruder besuchen und wusste, dass sie diese Schuhe immer trug.
«Hast du keine Sandalen?»
«Das geht dich nichts an», sagte Dshirah. «Und überhaupt – du hast mir gar nichts zu sagen.»
Das stimmte. Zwar war Silbão ein Aramine und gehörte damit zu jenem Volk, das vor über vierhundert Jahren die Südbarden überfallen und das Land erobert hatte, aber das war inzwischen kaum noch wichtig. Viel bedeutsamer war, dass Silbãos Hemd auf der rechten Schulter einen Ziegenkopf trug, während auf Dshirahs linke Schulter ein Pferdekopf gestickt war. Hirtenkinder waren sie alle in der Hirtenschule, aber sie waren damit nicht alle von gleichem Rang. Die Ziegenhirten waren die niedrigsten. Unter ihnen standen nur noch die geächteten Metzger, aber deren Kinder gingen in eine andere Schule. Dshirahs Familie hütete die Halbblutfohlen des Kalifen, und nur der kleine Kirr mit dem Pferdekopf auf der rechten Schulter war höher gestellt als sie, denn sein Vater betreute die Vollblutfohlen.
Silbão war ein friedlicher Junge. Er lachte noch immer und rief: «Dshirah, Dshirah wasserscheu …»
«Ich kann schwimmen!», schrie Dshirah.
Da lachten sie alle.
Weg, dachte sie, weggehen.
Aber sie sprang ins Wasser, hüpfte über die roten und goldenen Fliesenfische, spritzte Silbão Wasser ins Gesicht, lachte und spritzte, lachte und spritzte, rannte den Bach hinunter, die Jungen folgten und lachten, sie hüpfte, rutschte und fiel.
«Glaubt ihr es jetzt?», fragte sie.
Silbão nickte. «Ich komme heute zu euch und du zeigst mir, wie du schwimmst.»
Sie hätte es nicht sagen dürfen.
Weg, dachte sie, weg.
Sie sprang aus dem Bachbett und merkte nicht, dass sich am Rand eine Fliese gelöst hatte. Das Band ihres rechten Schuhs blieb daran hängen, und sie hatte das Bein so heftig aus dem Wasser geschwungen, dass es riss.
«He», sagte Silbão, «jetzt kannst du den Schuh ausziehen.»
Und Kirr grinste: «Und auf einem Bein hüpfen, ohne zu rutschen.»
Dshirah hielt die losen Enden zusammen, humpelte ein Stück, sagte: «Ich muss heim.»
Aber die Jungen folgten ihr. Da rannte sie. Sie gewann einen kleinen Vorsprung, weil die Jungen verblüfft stehen blieben. Als sie sich aber umdrehte, sah sie, dass sie ihr nachliefen. Sie bog in eine Seitenstraße. Sollte sie versuchen, das Schuhband wieder zu verknoten? Silbãos Kopf erschien am Ende der Straße, da jagte sie in wilder Angst davon. Sie fühlte, wie das Band sich ihren Schenkel hinunterringelte, sie versuchte die Schuhsohle mit den Zehen zu halten, doch dadurch wurde sie langsam, und die Jungen holten auf. Sie sprang über die mit glatten Steinen gepflasterten Straßen. Es war am frühen Nachmittag. Die Menschen kamen gerade erst wieder aus ihren Häusern gekrochen, noch war es heiß. Nicht heiß genug, um ihre Schuhe schnell zu trocknen. Sie glitt aus, fiel einem fremden Mann in den Weg und fühlte an ihrem rechten Fuß keinen Schuh. Er war weg. Sie zog das rechte Bein an, setzte sich auf den Fuß, der Mann reichte ihr eine Hand, um ihr aufzuhelfen, sie nahm sie nicht. Dicht hinter dem Fremden sah sie ihren Schuh liegen. Da stießen die Jungen gegen den Mann. Der schimpfte, drehte sich um. Dshirah sah, wie Silbão nach ihrem Schuh griff. Sie sprang auf und rannte, schneller jetzt, noch schneller.
Al-Cúrbona war eine schöne Stadt. Sie lag am Hang über dem Fluss. Hoch über allen Häusern schwebte die Palaststadt des Kalifen. Neben den größeren Straßen flossen auf einer oder auf beiden Seiten die kleinen Bäche in ihren bunten, kunstvollen Betten. Ihr Wasser sammelte sich in Brunnen, schoss in Kaskaden und kleinen Wasserfällen über die Hänge und sprühte Fontänen an Straßenecken. Obwohl die Häuser sich nach außen schlicht gaben und fast allen ihren Schmuck in den Innenhöfen zeigten, hatten auch die Fassaden ihren eigenen Stil. In vielen Farben gewebt waren die Vorhänge vor den Türen, um den Türrahmen war eine Leiste mit bunten Ornamenten in den weißen Putz gemalt, und vor den wenigen Fenstern hingen Blumen.
Dshirah blieb stehen.
Die schmale Gasse, in die sie sich geflüchtet hatte, war menschenleer. Sie keuchte. Ein heftiger Schmerz stieß in ihre linke Seite. Aber die Jungen schienen ihr nicht mehr zu folgen.
Sie haben nichts gemerkt, dachte sie, nur, wie komme ich jetzt nach Hause?
Sie versuchte herauszufinden, wo sie war. Neben den Türen hingen Schilder: Schneider, Weber, Schuster – sie überlegte, ob sie in eines der Schusterhäuser schleichen und ein paar Schuhe stehlen sollte, doch das schien ihr noch gefährlicher, als mit einem Schuh weiterzugehen. Sie kannte diese Gasse nicht, aber solange sie abwärts- und der Sonne entgegenlief, war sie auf dem Heimweg. Sie bemühte sich, weiterhin durch unbelebte Gassen zu gehen, doch immer mehr Vorhänge wurden beiseite geschoben. Um diese Zeit drängten die Menschen hinaus. Es war also besser, wieder zu rennen.
«Da! Da ist sie!»
Silbão und die anderen Jungen! Sie lief genau auf sie zu. Dshirah drehte sich um und stürmte planlos durch die Gassen und Straßen. Schon füllten die sich mit Leuten, schon musste sie sich im Zick-Zack um fremde Körper schlängeln. War das ein Vorteil? Konnte sie so den Jungen leichter entkommen? Aber jedes Paar Augen war genauso gefährlich wie Silbãos schwarze Pupillen. Und da hörte sie ihn wieder. Erschrocken sprang Dshirah geradeaus, dahin, wo Platz war, wo niemand ging –
«He, du!», schimpfte eine Männerstimme – und Dshirah merkte nicht, dass sie den schlimmsten aller Fehler gemacht hatte. Sie war über eine Baustelle gelaufen, ein kleines Geviert, das auf einer Kreuzung für ein neues Muster von Fliesen vorbereitet wurde. Man hatte den Boden mit frischem Sand bestreut. Den hatte man nass gemacht, geebnet. Als Dshirahs rechter Fuß darauf trat, fühlte sie kurz die feuchte Kühle einer glatten Fläche, fest, aber nicht hart.
Wieder rennend, schaute sie zurück, sah die Jungen aus der Menge kommen, sah – nur im fernsten Winkel ihres Blicks –, wie die Arbeiter sich über den Sandboden beugten, wie Kirr stehen blieb. Sie hörte, dass er etwas rief, verstand es aber nicht. Da tat sie, womit die Jungen nicht rechnen konnten: sie verschwand hinter dem Vorhang des nächsten Hauses, sie fühlte schon am Stoff, dass es ein Adelshaus war.
Ein Hirtenkind in einem Adelshaus, ohne Auftrag, etwas zu holen oder abzugeben – natürlich wusste sie, wie streng das verboten war. Trotzdem atmete sie auf. Hierhin würden ihr die Jungen auf keinen Fall folgen. Sie würde durch das Haus und den Patio schleichen und das Gebäude auf der anderen Seite wieder verlassen – denn Dshirah wusste genau, wie ein Adelshaus von innen aussah, und sie wusste ziemlich genau, wer sich um diese Tageszeit wo aufhielt.
Wenn jemand kommt, sage ich, ich soll die Geburt eines Fohlens melden, dachte sie. Dann bin ich eben im falschen Haus, ich habe mich verlaufen.
Ein paar Frauen kamen ihr entgegen, die beachteten sie nicht, also war sie im Gesindetrakt und damit immerhin auf der richtigen Seite. Aber dann kam ein Mann vorbei und trat ihr in den Weg. Und leider gab es hier Fenster. Wer den ganzen Tag arbeiten muss, braucht Licht. Sie schob den bloßen Fuß hinter die Ferse des Schuhs.
«Was machst du hier?», fragte der Mann.
Sie zeigte auf ihre linke Schulter.
«Ich bin Dshirah, die Tochter von Tazihlo, dem Hüter der Halbblutfohlen. Ich soll die Geburt des Fohlens melden.»
Der Mann nickte.
«Geh durch den Patio. Die Verwalter sitzen am Teich der Goldfische. Einer wird dich zum Herrn führen.»
Glück gehabt! Jetzt wusste sie genau, wohin sie nicht gehen würde.
Sie lief der Nase nach, fort von dem Geruch nach gebratenem Fleisch und auf den Duft von Blumen zu. So erreichte sie den Patio. Er war sehr groß. Wer hier wohl wohnte? Die Bäume und Hecken schützten sie, eine gelbe Katze putzte sich im Schatten, mitten im Garten rauschte der Springbrunnen, sonst war es still. Sie mied den Teich und kam zum Hauptgebäude. Hier war es dämmrig, man hielt die Sonne und die Hitze fern. Aber nun durfte ihr niemand mehr begegnen. Der Herr war also wahrscheinlich im Haus. Hoffentlich in seinen Arbeitsräumen. Die mussten rechts sein. Links ging es zur Halle und von da auf die Straße. Wenn jetzt nicht von oben eine der Frauen herunterkam …
Dshirah schlüpfte an den Wänden entlang, lautlos über dicke Teppiche, durch den Flur, durch den Vorhang – sie stand auf der Straße und – vor der Plaza de las Poemas. Im ersten Augenblick wusste sie nicht, was größer war, ihr Schrecken oder ihre Erleichterung. Sie musste durch das Haus eines Ministers gegangen sein, aber den Jungen war sie entwischt. Auf keinen Fall würde auch nur einer ihr auf diesem Weg folgen. Nur – sie war noch lange nicht zu Hause. Sie stellte sich dicht an die weiße Hauswand und trat mit dem Schuh über den bloßen Fuß. Wie sollte sie weitergehen? Hier rannte niemand, weder auf dem endlosen Platz noch auf den Wegen um ihn herum. Und – oh! – sie hatte jetzt nicht mehr die Jungen hinter sich, keinen Grund zu rennen, keine Möglichkeit vorzutäuschen, dies sei ein Spiel.
Die Plaza de las Poemas war kein Ort der Hast, sondern eine Stätte des geruhsamen Schreitens. Nur den kleinen Kindern, die in den Bächen planschten, war das Laufen gestattet. Die Männer saßen auf den Steinbänken. Die meisten trugen das araminische Tuch um den Kopf gebunden, doch es waren auch bardische Gesichter darunter. Sie redeten, besprachen philosophische, mathematische und rechtliche Fragen, zwei spielten Schach mit lebendigen Figuren, der eine mit Dunkelleuten aus Afrika, der andere mit hellen Figuren aus dem Norden, die Dshirahs Volk ähnlich sahen. Auch die wenigen Frauen, die sich verhüllt und tief verschleiert am Rande bei den Kindern aufhielten, bewegten sich langsam und gemächlich. Dshirah schaute, ob sie eine Strecke fand, auf der niemand ging, eine Schlangenlinie quer über den Platz, immer weit genug entfernt von Augen, die ihr auf den nackten Fuß schauen konnten. Sollte sie sich in die Nähe der Philosophen begeben, die vielleicht darüber nachdachten, ob der Himmel oder ob das Wasser blau sei? Oder lieber an den Rechtsgelehrten vorbeigehen, die sich mit Sicherheit – wie immer – darüber stritten, ob man zum Tode Verurteilte köpfen sollte, wie es bei den Araminen üblich war, oder erhängen, wie die Barden verlangten?
Sie schaute nach links.
Da war die Fassade eines alten araminischen Gotteshauses, das gut gepflegt, aber seit der Zeit von Armei dan Hasud leer war. Sie schaute nach rechts. Da war das größte der prachtvollen Bäder dieser Stadt, in der es fast 800 öffentliche Bäder gab, und nicht eines hatte Dshirah jemals von innen gesehen. Nirgendwo ein Weg, frei von Menschen und deren Blicken. Und dann erkannte sie rechts neben sich auch noch das vergoldete mannshohe Gitter im Maul eines Mosaiklöwen. Hier endete der Löwengang, der bis zu dem Käfig mit den beiden Löwen oben im Palast von Kalif Hisham III. führte. Wenn sie nicht bald einen Fluchtweg fand, brauchten die Rechtsgelehrten nicht mehr über Schwert und Strick zu verhandeln. Wenn man sie so, wie sie hier stand, erwischte, würde man ihre Familie weder köpfen noch hängen, dann würden die Löwen endlich einmal wieder etwas zu jagen haben, bevor sie es fraßen.
Von links kam Lärm, Unruhe, Bewegung. Rettung? Eine Gruppe kleiner Kinder, Dshirah sah das Zeichen der Bäcker und Köche auf ihren Hemden. Sie wurden vielleicht zum ersten Mal auf die Plaza geführt, der Lehrer gab ihnen ein Zeichen und sie stürmten los. Sie sollten hier lesen lernen. Denn der Platz war mit Buchstaben, Silben, Worten gepflastert. Die Dichter kamen hierher und erfanden im gemächlichen Schreiten hin und her, kreuz und quer über den Platz endlose Gedichte, die entstanden und vergingen und die außer der Sonne niemand las. Aber man glaubte in Al-Cúrbona, dass die kurzlebigen Gedichte die Luft durchtränkten, das Atmen würzten, die Lungen reinigten.
«Ich helfe euch!», rief Dshirah und warf einen fragenden Blick auf den Lehrer. Der schaute auf ihre Schulter, sah den Pferdekopf, ja, sie war vom selben Rang wie die Kinder der Bäcker und Köche, und er nickte.
So sprang Dshirah mit den Kindern über den Platz, von Buchstabe zu Buchstabe, sagte: «Gota, alef, fora …», die Kinder sprachen ihr nach und hüpften. Sie hatte keine Angst, dass die Kleinen ihr Geheimnis entdeckten, denn in Al-Cúrbona lernten alle immer zuerst lesen und dann zählen. So sprangen sie an dem Brunnen vorbei und um die große marmorne Statue von Armei dan Hasud herum. Der Gelehrte saß nachdenkend, den Kopf auf die rechte Hand gestützt, ein stilles, freundliches Lächeln lag auf seinem Gesicht. Dshirah blieb stehen und grüßte ihn mit einem leichten Neigen des Kopfes, und das taten auch die kleinen Kinder. Armei dan Hasud zu achten, lernte man in Al-Cúrbona so früh, wie den Kalifen zu ehren.
Dshirah erreichte das südwestliche Ende des Platzes. Durch die anschließenden Straßen würde sie wieder rennen dürfen.
«Geht denselben Weg zurück», sagte sie, winkte dem Lehrer auf der anderen Seite noch einmal zu, wollte in den Gassen verschwinden, hörte einen Schrei: «Dshirah!!!» Silbãos Stimme. «Warte! Warte doch! Dshirah!!!» Und sie rannte.
Er wird mich einholen, dachte sie, er ist schneller als ich, er weiß ja, in welche Richtung ich laufe, ich muss nach Haus, wo soll ich sonst hin?
Es war jetzt nicht mehr so voll in den Gassen. Die meisten, die nicht mehr arbeiten mussten, hatten sich schon mit ihren Freunden auf der Plaza oder auf den anderen Plätzen bei den Springbrunnen getroffen. Dshirah kam gut voran. Aber was nützte ihr das? Sie konnte versuchen, Silbão zu täuschen, und in die kleinen quer liegenden Gassen verschwinden, doch das würde ihr nicht helfen. Auch Silbão war klug genug, um zu wissen, dass er sie auf der weiten Ebene zu ihrem Elternhaus sehen und einholen konnte. Er musste sie nur überholen und dann am Stadtrand warten.
Zaiira, dachte Dshirah, es tut mir leid, ich will dir das nicht antun, aber nur du kannst mich retten.
Zaiira war ihre heimliche Freundin. Ihr Vater war ein adliger Aramine und der oberste Verwalter der Gestüte des Kalifen. Er hatte viel mit Dshirahs Vater zu besprechen, Zaiira begleitete ihn oft und Dshirahs Familie hatte nicht bemerkt, dass sich die beiden Mädchen mehr als nur vom Ansehen kannten. Zaiiras Haus war das letzte am Stadtrand vor den weiten Ebenen, in denen die halbwilden Sorraia-Pferde lebten.
Dshirah lief in eine schmale Seitengasse, dort wohnten Sattler. Vor den Häusern lagen Berge von gegerbtem Leder. Sie verkroch sich darin, sie war zu erschöpft und musste verschnaufen. So wartete sie, bis sie Silbão vorbeilaufen sah. Jetzt erst merkte sie, wie sehr ihr der rechte Fuß wehtat. Sie ging ja niemals barfuß wie die anderen Kinder, nie. Auf dem glatten Pflaster in der Stadt würde sie schon noch laufen können, aber nicht über das Feld in der Ebene. Sie ging langsamer weiter, die Gassen waren leer und sie kannte jetzt ihren Weg.
So erreichte sie Zaiiras Haus. Hier war sie ein gern gesehener Gast. Sie musste sich nur vor den Dienern verbergen, bis Zaiira ihr ein Hemd mit einem Schwert auf der Schulter brachte. Sobald sie das trug, war sie in diesem Haus die Tochter eines Offiziers. Zaiiras Eltern grinsten über den kleinen Betrug. Sie kümmerten sich wenig um die Rangordnung, sondern freuten sich mit ihrer einzigen Tochter an dieser Freundschaft. Zaiira war zwölf und das einzige Kind des Fürstenhauses Al-Antvari. Sidi Antvari hatte keinen Sohn. Seine Frau hatte nach Zaiira kein gesundes Kind mehr geboren. Ein Junge hatte drei Tage gelebt und war dann gestorben. Natürlich hätte Antvari sich eine zweite Frau nehmen können, eine dritte, eine vierte, aber er hatte sich entschieden, mit dieser und keiner anderen Frau zu leben. So war es Sitte gewesen im Volk der Barden, die meisten bardischen Familien hielten sich noch heute daran, und einige Araminen hatten sich ihnen angeschlossen.
Dshirah trat durch den Haupteingang ein, ging die Stufen hinauf zu den Frauengemächern. Auf der Treppe war es dunkel. Sie stolperte über etwas Weiches, hörte ein Fauchen und sah Zaiiras Falbkatze die Stufen hinunterlaufen, ein heller Streifen, fahlgelb wie die halbwilden Sorraia-Pferde. Dshirah trat in Zaiiras Zimmer. Aber ihre Freundin war nicht dort. Sie hörte Stimmen auf der Treppe. Zwei Dienerinnen stritten. Das würden sie nicht wagen, wenn die Herrschaft im Haus wäre. War Zaiira mit ausgegangen? Oder war sie hinten bei den Stallungen? Oder unten im Patio? Dshirah schaute aus dem Fenster hinunter in den Innenhof. Sie sah niemanden. Wenn sie aus dem Fenster kletterte, am Weinlaub hinunter bis in den Patio, sich dann weiter schlich bis zu den Stallungen … Oder sollte sie hier warten? Aber es war sehr leicht möglich, dass eine Dienerin kam, um zu putzen. Sie blickte noch einmal über den Patio. War wirklich niemand da? Nein. Sie schwang sich aus dem Fenster, ließ sich an den Ranken hinunter und das letzte Stück fallen. Sie fiel Zaiira vor die Füße, die mit einem Buch auf einer Bank an der Hauswand saß und ihr nicht ins Gesicht schaute. Zaiira war so blass, wie ihr dunkles araminisches Gesicht überhaupt blass sein konnte. Sie starrte auf Dshirahs bloßen Fuß, dann hob sie den Kopf und sagte: «Du?»
Dshirah verbarg den Fuß nicht mehr, sah der Freundin in die Augen und sagte: «Ja. Ich.»