Loe raamatut: «Eigenständig im Alltag unterwegs (E-Book)», lehekülg 2

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Lebenslanges Lernen

Auch wenn sich das Verständnis von lebenslangem Lernen oft im engeren Sinne an einer möglichst optimalen Teilhabe am Arbeitsmarkt orientiert, finden wir die dahinterliegenden Grundsätze wichtig. Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation beschreibt das Konzept so: «Das lebenslange Lernen umfasst sämtliche Lernformen, die im ganzen Leben genutzt werden, um das eigene Wissen zu stärken und Kompetenzen zu erweitern.»[17] Weiter wird spezifiziert: «Die Beherrschung der Grundkompetenzen bildet eine unabdingbare Voraussetzung für lebenslanges Lernen und die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.»[18] Mit Blick auf die Klient*innen in stationären und teilstationären sozialpädagogisch-agogischen Einrichtungen sind beide Aussagen gleichermassen von Bedeutung: einerseits, dass sich Lernen nicht auf formale Lernformen wie Schulbildung beschränkt, in jeder Lebensphase stattfindet und sich am Kompetenzerwerb orientiert; andererseits, dass das Beherrschen gewisser Grundkompetenzen – und dazu gehört heute beispielsweise auch der Umgang mit digitalen Medien im Alltag – eine Voraussetzung für die gesellschaftliche Teilhabe ist. In Bezug auf Menschen mit einer Beeinträchtigung ist elementar, dass ihnen das Entwicklungspotenzial zum Lernen nicht abgesprochen wird. Aufgrund der Differenz von Lebens- und Entwicklungsalter ist es gut möglich, dass gewisse Lernschritte wie zum Beispiel Geld zählen lernen erst im Erwachsenenalter erfolgen, andere vermeintlich komplexere Lernschritte im Regelbereich hingegen schon im frühen Schulalter bewältigt werden können.

Begrifflichkeiten in diesem Buch
Begriffsdefinitionen[19]

 Kenntnisse bezeichnen die Gesamtheit der Fakten, Grundsätze, Theorien und Praxis in einem Arbeits- oder Lernbereich.

 Fertigkeiten umfassen die Fähigkeit, Kenntnisse anzuwenden und Know-how einzusetzen, um Aufgaben auszuführen und Probleme zu lösen. Dazu gehören kognitive Fertigkeiten (logisches, intuitives und kreatives Denken) und praktische Fertigkeiten (Geschicklichkeit und Verwendung von Methoden, Materialien, Werkzeugen und Instrumenten).

 Kompetenz ist die nachgewiesene Fähigkeit, Kenntnisse, Fertigkeiten sowie persönliche, soziale und methodische Fähigkeiten in Arbeits- oder Lernsituationen und für die berufliche und/oder persönliche Entwicklung zu nutzen.

Was wir unter Lernschwierigkeiten verstehen

Analog der Grundhaltung des Modells der funktionalen Gesundheit[20] gehen wir von der Prämisse aus, dass die ganzheitliche Lebens- und Entwicklungssituation einer Person bei der Frage der Kompetenzförderung auch die Umweltfaktoren mit ihren Ressourcen und Barrieren miteinschliesst. Lernschwierigkeiten verstehen wir demnach als Ausgangslage mit einem spezifischen Förderbedarf, schwerpunktmässig in den Bereichen Kognition sowie soziale und emotionale Kompetenz. Die Bereiche der Motorik und Sensorik spielen immer auch eine Rolle. Der spezifische Förderbedarf für Menschen mit Sinnesbehinderungen oder motorischen Einschränkungen ist nicht Teil unserer Ausführungen. Das Buch kann zwar auch für diesen Bereich Inputs liefern, wir verweisen hier aber auf bestehende Literatur aus dem heilpädagogischen Bereich.

Wie wir mit den Begriffen Andragogik, Sozialpädagogik, Agogik umgehen

Wir sprechen im vorliegenden Buch meist von «Sozialpädagogik» und beziehen uns damit auf das weite Berufsfeld von Sozialpädagog*innen, das Klient*innen aller Altersklassen einbezieht. Für die bessere Lesbarkeit haben wir darauf verzichtet, konsequent den Doppelbegriff «Sozialpädagogik-Andragogik» zu verwenden. Der Vollständigkeit halber möchten wir aber hier dennoch einen Überblick über die verschiedenen Begrifflichkeiten geben:[21]

 Agogik: Überbegriff für alle Lernprozesse mit professioneller Begleitung, der Begriff umfasst alle Altersstufen.

 Andragogik: wird im Zusammenhang mit Lernprozesse von Erwachsenen verwendet, laut Duden ist die wörtliche Bedeutung «Wissenschaft der Erwachsenenbildung».

 Pädagogik: wird im Kontext von Lernprozesse von Kindern gebraucht, sowohl die Ebene der Bildung als auch die Ebene der Erziehung werden dabei berücksichtigt.

In der Praxis werden die Begriffe nicht immer konsequent verwendet. Häufig wird auch im Bereich von Erwachsenen von Pädagogik gesprochen und auch die Literatur ist hier nicht immer stringent.

Was wir unter echten Lernchancen verstehen

Wir meinen mit echten Lernchancen professionell gestaltete, an die jeweilige Lebenswelt und Ressourcenvoraussetzung angepasste und sinnvoll sequenzierte Lernsituation für Klient*innen, mit dem Ziel der Förderung von Selbstwirksamkeit im Bereich Alltagskompetenzen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass wir mit dem vorliegenden Buch an ein zeitgemässes Bildungsverständnis anschliessen und eine Theorie-Praxis-Relation wichtiger Inhalte des LP21 zu «Wirtschaft, Arbeit, Haushalt (mit Hauswirtschaft)» sowie zu «Medien und Informatik» als Querschnittsthema im Kontext von stationären und teilstationären sozialpädagogisch-agogischen Institutionen leisten. Es gibt daneben im LP21 viele überfachliche Kompetenzen, die auch im Kontext der sozialpädagogischen und agogischen Arbeit wichtig sind. Wir fokussieren auf die Selbststeuerungskompetenz, da diese zentral in alle Themenbereiche des Buches hineinspielt. Wir sind überzeugt, dass jede*r Klient*in in jeder Lebensphase lernfähig ist und ein Anrecht auf angemessene Förderung hat. Wichtig ist dabei, dass sowohl Lerninhalte wie Lernziele, Lernmethoden und Hilfsmittel der jeweiligen Situation der Lernenden angepasst werden. Ausgangs- und Ankerpunkt sind bei allen Klient*innen deren Lebenswelten, also ihr individueller Umgang mit Lebenslagen, verbunden mit den subjektiven Erfahrungen und Überzeugungen. Deshalb befasst sich der Hauptteil dieses Buches auch damit, wie eine angemessene pädagogische Umsetzung der Lerninhalte mit Blick auf die Klient*innen lebensweltorientiert angepackt und in den Institutionsalltag integriert werden kann.

3. Lebensweltorientierung im Kontext von Hauswirtschaft

Die lebensweltorientierte Perspektive, begründet durch Hans Thiersch, ist in der sozialpädagogischen Arbeit weitverbreitet und ein wichtiger theoretischer Zugang. Ziel der lebensweltorientierten Arbeit ist es, die Klient*innen bei der Gestaltung eines gelingenderen Alltags zu unterstützen. Darunter wird verstanden, dass die Klient*innen in der Lage sind, ihr Leben mit all seinen täglichen Herausforderungen so zu bewältigen, dass sie selbst zufrieden sind, aber auch so, dass sie im Kontext der jeweiligen Gesellschaft bestehen können. Ressourcen im institutionellen Rahmen sollen so eingesetzt werden, dass die Klient*innen auch in Institutionen ein Leben in grösstmöglicher Selbstständigkeit und «Normalität» führen können. Um diese Ziele zu erreichen, müssen Alltagskontexte individuell pädagogisch-agogisch gestaltet werden. Die angestrebte Selbstständigkeit kann man auch als Handlungsfähigkeit bezeichnen. Im Alltag handlungsfähig zu sein, geht einher mit der Erlangung von Selbstwert, Anerkennung und Selbstwirksamkeit.

Lebenswelten sind Alltagswelten, und das ist der Schnittpunkt zur Hauswirtschaft. In der gelingenden Gestaltung des Alltags liegt das Potenzial zu mehr Selbstständigkeit und Selbstbestimmung. Gleichzeitig muss hier die Balance zwischen einer normgeleiteten Realität und der Individualität jeder Person gefunden werden. Ein Beispiel: Wenn ein chronisch psychisch kranker Klient seine Kleider nicht im Schrank, sondern auf dem Boden aufbewahren will, weil er sich – warum auch immer das in seiner Lebenswelt so ist – dadurch sicherer fühlt, entspricht das zwar normgeleitet nicht der Regel, aber aus lebensweltlicher Sicht kann das Verhalten trotzdem in Ordnung sein. Selbst dann, wenn diese Ordnung die «Normalität» der Sozialpädagogik irritiert. Voraussetzung ist in diesem Beispiel allerdings, dass ein Minimum an Hygiene gewährleistet wird, damit es nicht zu einer Gesundheitsgefährdung kommt. Lebensmittel im Kleiderhaufen oder feuchte Kleidung, die schimmelt, wären hier eine Grenze des Tolerierbaren. Der Grat zwischen der eigenen Perspektive des gelingenden Alltags und der Akzeptanz der Realität der Klient*innen ist immer wieder eine Herausforderung und bedarf der ständigen Reflexion. So ist beispielsweise Fairtrade und Konsumerziehung im Setting einer Jugendwohngruppe grundsätzlich ein sinnvoller Inhalt sozialpädagogischer Schulung, der zum Nachdenken und Diskutieren anregt. Wenn es sich allerdings um eine Wohngruppe mit geflüchteten Minderjährigen handelt, sollte zuerst thematisiert werden, wie diese mit all den vorhandenen, aber für sie aktuell unerreichbaren Konsumverlockungen umgehen können.

Hauswirtschaft als pädagogisch-agogische Ressource mit dem Ziel einer gelingenden, möglichst selbstbestimmten Alltagsgestaltung sowie einer maximalen gesellschaftlichen Teilhabe und Teilnahme führt also dann zum Erfolg, wenn gleichzeitig eine lebensweltorientierte Sichtweise anstelle eines normierten Weltbildes eingenommen wird. Weiter muss die Balance zwischen «Normalität» und «Individualität» stets reflektiert werden. Dieses Ausloten und die damit verbundene Förderung der Klient*innen im Alltag ist für alle Zielgruppen sinnvoll, wenn auch die angestrebten Kompetenzen unterschiedlich weit gehen. Während eine Jugendliche zum Beispiel lernt, wie sie ihren Jugendlohn verwalten muss, damit das Geld bis Ende Monat reicht, lernt der Klient mit einer kognitiven Beeinträchtigung die Bedeutung der Geldmünzen in Relation zu einzelnen Gütern kennen. Beide haben im Alltag Lernschritte gemacht. Den Menschen Entwicklungsfähigkeit zuzuschreiben und Lernmöglichkeiten zu eröffnen, gehört zu einem humanistischen Berufsverständnis und zeigt sich gerade eben im gelebten Alltag besonders deutlich. Selbstverständlich ist der Ansatz der Lebensweltorientierung von Hans Thiersch komplexer und beinhaltet auch eine politische Dimension, da sich die Soziale Arbeit für möglichst gute Lebenslagen der Klient*innen einsetzen soll.

Lebenspraktische Themen pädagogisch gestalten

Wir haben dargelegt, wieso Hauswirtschaft ein sehr reichhaltiges Lernfeld ist, das Sie aktiv nutzen können und sollen. In diesem Kapitel nähern wir uns ein erstes Mal der ganz konkreten pädagogischen, lebenspraktischen Gestaltung dieses Lernfelds.

Stellen Sie sich folgende Situation aus dem Praxisalltag vor: Ein Kind auf Ihrer Wohngruppe hat Geburtstag und wünscht sich eine Torte mit frischen Himbeeren. Es ist allerdings Januar. Was tun Sie?

1 Ich kaufe frische Importhimbeeren, schliesslich will ich dem Kind eine Geburtstagsfreude machen.

2 Ich bespreche mit dem Kind die Saisontabelle für Früchte und schaue, ob wir die Torte mit anderen Früchten machen können, zum Beispiel mit Äpfeln.

3 Ich bespreche mit dem Kind die Einkaufsoptionen und ihre ökologischen Vor- und Nachteile, und wir wählen schliesslich als Alternative zu den frischen die tiefgekühlten Himbeeren.

Alle drei Reaktionen sind zwar menschlich nachvollziehbar, aus pädagogischer Sicht und mit Blick auf die Erweiterung der Alltagskompetenzen bieten sich allerdings nur bei Reaktion b) und c) echte Lernchancen: In der Diskussion mit der Betreuungsperson lernt das Kind die Saisonalitäten kennen, es setzt sich mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen auseinander, lernt mögliche Alternativen zum Einkauf von CO2-intensiver Importwaren kennen, erfährt, dass man Rezepte variieren kann, und erhält am Schluss zum Geburtstag einen Kuchen, der ihm dennoch schmeckt – und vielleicht ja noch einen Gutschein für einen Kuchen mit frischen Himbeeren, der während der Himbeersaison eingelöst werden kann. Mit anderen Worten: Auch wenn die Reaktion a) nett gemeint ist, wird das Kind in diesem Beispiel um wichtige Lernerfahrungen gebracht.

Stellen Sie sich eine zweite Situation vor: Wiederum steht ein Geburtstag an, dieses Mal in einer Institution für Erwachsene mit kognitiven Beeinträchtigungen. Eine Klientin kommt mit der Bitte auf Sie zu, für einen Mitbewohner den Geburtstagskuchen selbst backen zu dürfen. Sie nehmen die Planung in die Hand – was tun Sie?

1 Sie finden die Idee zwar gut, aber die Zeit ist knapp und Sie denken nicht, dass die Klientin wirklich einen schmackhaften Kuchen backen kann. Sie lassen sie daher wählen, was es für ein Kuchen sein soll, kaufen ihn aber in der Bäckerei ein.

2 Sie wählen ein Rezept aus, kaufen die Zutaten ein, wiegen die Zutaten ab und lassen die Klientin den Teig umrühren. Damit der Kuchen nicht zu schief rauskommt, füllen Sie den Teig aber selbst in die Backform und überwachen den Backprozess.

3 Sie besprechen mit der Klientin, was für einen Kuchen sie backen könnte, wählen ein dem Lernniveau angepasstes Kochbuch aus, lassen sie einen Einkaufszettel erstellen und einkaufen gehen, und assistieren ihr während des Backprozesses. Die Vorbereitung für den Kuchen nimmt viel Zeit in Anspruch und das Ergebnis ist leider leicht angebrannt, aber dennoch essbar.

Wiederum sind alle drei Reaktionen im Alltag gut nachvollziehbar, haben allerdings sehr unterschiedliche pädagogische Wirkungen: Bei Reaktion a) und b) schmeckt zwar wahrscheinlich der Kuchen sehr gut, aber es geht etwas Entscheidendes verloren, nämlich der ganze Lernprozess und die Motivation, überhaupt einen Kuchen als Geburtstagsüberraschung zu backen. Auch wenn die Klientin bei Teilentscheiden (Kuchen auswählen) oder Teilschritten (Teig umrühren) involviert war, hatte sie nur eine sehr limitierte Lernchance. Ganz anders bei Reaktion c): Hier wird das Kuchenbacken von Anfang an als Lernsituation genutzt und entsprechend gestaltet. Die Klientin lernt die notwendigen vorbereitenden Teilschritte kennen, erhält Anleitungen oder Hilfsmittel, um das gesetzte Ziel möglichst eigenständig zu erreichen (z.B. ein Bilderkochbuch, falls das Lesen schwerfällt) und hat am Schluss einen Kuchen als Ergebnis – zwar etwas angebrannt, aber dafür selbst gemacht und mit doppelter Freude zum Verschenken.

Die beiden fiktiven Situation zeigen mehrere wichtige Aspekte auf:

 Im stationären und teilstationären sozialpädagogisch-agogischen Alltag gibt es viele potenzielle Lernchancen – aber nur, wenn diese als solche erkannt und pädagogisch aufbereitet werden.

 Die Schaffung und Gestaltung von Lernprozessen hin zu mehr Selbstständigkeit gehört zu den wichtigsten sozialpädagogisch-agogischen Aufgaben. Nicht nur das Endresultat zählt, sondern insbesondere der Lernprozess – dieser sollte daher auch im Zentrum der Arbeit stehen.

 Damit Lernprozesse stattfinden, müssen sie gut geplant, sinnvoll rhythmisiert, in den Alltag integriert und unterstützend umgesetzt werden.

 Generell gilt: Je grösser der eigenständige Anteil an der Bewältigung einer Aufgabe, desto grösser das Erfolgserlebnis. Insbesondere Teilschritte und Hilfsmittel müssen im Lernprozess gut an die Kenntnisse und Fertigkeiten der Lernenden angepasst werden.

 Erfolgserlebnisse motivieren für mehr, und Motivation ist gleichzeitig der Schlüssel für die Erweiterung der eigenen Kompetenzen. Gut umgesetzte Lernsituationen im Alltag stärken die Selbstständigkeit und Eigenmotivation der Klient*innen entscheidend.

Um das Potenzial im Alltag zu nutzen, muss zunächst der pädagogische Wert dieser Alltags-Lernsituationen erkannt und explizit gemacht werden. Denn damit Lernsituationen ihre Wirkung entfalten können, muss ihnen genügend Zeit eingeräumt werden. Wer die Erweiterung der Alltagskompetenzen anhand von pädagogisch aufbereiteten Lernsituationen nicht als Prinzip, sondern als optionalen Zusatz einstuft, wird im Berufsalltag womöglich immer wieder an der Ressourcenfrage scheitern. Es braucht daher eine bewusste Entscheidung eines Teams respektive einer Institution, solche Alltagskompetenzen aktiv und innovativ zu fördern und die Qualität der eigenen sozialpädagogisch-agogischen Arbeit – neben anderen Zielen wie etwa Coping-Strategien im Umgang mit Stress – auch an der Erweiterung der Alltagskompetenzen der Klient*innen zu messen. Durch die sichtbaren, konkreten Erfolge im Alltag können zudem weitere Synergien für die übergeordneten (Förder-)Ziele der Klient*innen entstehen.

Damit das im Alltag gut gelingt, braucht es Arbeit auf unterschiedlichen Ebenen: Es geht sowohl um das Erkennen und Nutzen von vorhandenen Arbeitsfeldern als auch um das Initiieren von Denk- und Diskussionsprozessen im Team und in der Institution. Im ganz Praktischen geht es zudem um das Auswählen und Gestalten von geeigneten Lernsituationen. Wann immer möglich sollte die Schwerpunktsetzung zudem partizipativ mit den Klient*innen geschehen. Wie Sie das auf einfache Weise tun können, zeigen wir Ihnen im Folgekapitel. Unser Modell SALSA unterstützt Sie in der Umsetzung einfach und praxisnah.

4. Modell SALSA: Spezifische, alltagskompatible Lernsituationen systematisch finden und anleiten

Wir haben für den Praxisalltag ein Modell entwickelt, mit dessen Hilfe Sie einfach und strukturiert geeignete Lernsituationen finden und gestalten können. Auf den folgenden Seiten erklären wir den Grundsatz des Modells. Unter den thematischen Kapiteln finden Sie jeweils die themenorientierte Umsetzung des Modells sowie im dritten Teil des Buches zusätzlich Beispiele für die Gestaltung von spezifischen Lernsituationen.


Abbildung 1: SALSA-Modell (eigene Darstellung, Copyright Christa und Monika Luginbühl, CC BY-NC-ND 4.0)

Um geeignete Lernsituation zu finden, müssen Sie zuerst die Rahmenbedingungen klären. Es lohnt sich, dass Sie sich hierfür genügend Zeit nehmen, denn die Wahl der Lernsituation ist entscheidend für den Erfolg Ihrer Klient*innen. Klären Sie die Rahmenbedingungen in den Schritten 1 und 2 des Modells.

Schritt 1: Grundhaltung reflektieren

Seien Sie sich im Klaren, mit welchem Menschenbild, welcher Grundhaltung und welchen Grundwerten Sie Ihren Beruf ausüben. Gehen Sie beispielsweise bei allen Klient*innen davon aus, dass es Lernpotenzial gibt? Wo sehen Sie dieses? Wie steht es mit Ihren Berufsambitionen: Wollen Sie Erfolge bei Ihren Klient*innen sehen? Und was werten Sie dabei als Erfolg? Fordern und fördern Sie Ihre Klient*innen oder überfordern Sie sie manchmal? Sind Sie oft im Zeitstress und greifen dadurch (zu) schnell helfend ein? In welchen Situationen sind Sie besonders stolz auf Ihren Beruf, wann macht er Ihnen richtig Spass, und wann finden Sie ihn besonders schwierig? Wer hat in Ihrem Team welche Stärken, und wie können Sie diese bei der Bearbeitung verschiedener Lernfelder sinnvoll nutzen? Wie gehen Sie selbst mit hauswirtschaftlichen Themen um? (Siehe auch Annex 1 mit einer Checkliste zur Bearbeitung dieser Fragen, S. 333.)

Schritt 2: Lernfelder erkennen

Nicht jede eigentlich sinnvolle Lernsituation ist im jeweiligen institutionellen Kontext auch umsetzbar. Es gibt institutionelle Organisationsabläufe, die Lernfelder eher begünstigen oder hemmen. Ist beispielsweise die Küche zentral organisiert, wird es schwierig mit dem Kochen ganzer Menüs. Sie könnten aber trotzdem einen Geburtstagskuchen auf der Gruppe backen. Als potenzielles Lernfeld könnten Sie initiieren, dass jede Gruppe einmal wöchentlich selbst kocht und das dafür notwendige Budget erhält. Analysieren Sie, welche Ressourcen Sie nutzen können, sowohl auf institutioneller Ebene wie auch auf Ebene der Gruppe und individueller Ebene des*der Klient*in. Nutzen Sie vorhandene Optionen, erweitern Sie diese, wo es der institutionelle Rahmen einfach zulässt, seien Sie punktuell visionär und diskutieren Sie ganz neue Organisationsformen und Prozesse. Wichtig ist dabei: Ihre Klient*innen wachsen nur an den Lernsituationen, die sie auch umsetzen – denken Sie also nicht hauptsächlich in Zukunftsszenarien, sondern packen Sie konkret dort an, wo Sie bereits heute Lernchancen ermöglichen können. (Siehe auch Annex 2 mit einer Checkliste zur Bearbeitung dieses Themenfelds, S. 334.)

Lernen im Alltag kann auf zwei Arten geschehen. Implizit, sozusagen «by the way» machen wir jeden Tag neuen Erfahrungen. Diese können auch als Lernerfahrungen gesehen werden, da sie unsere früheren Erfahrungen bestätigen oder auch infrage stellen. Bei Letzterem müssen wir neue Strategien finden, um die Situation zu bewältigen. Diese Momente sind wichtig, um potenzielle Lernfelder und Lernchancen zu erkennen. Daneben gibt es aber auch agogische Lernsituationen, in denen Lernmöglichkeiten bewusst und gezielt kreiert werden, um die Klient*innen zu fördern. Wir sprechen hier von angeleiteten Lernsituationen, welche die Klient*innen dazu befähigen sollen, auch in variablen Situationen handlungsfähig zu bleiben. Dies betrachten wir auf den folgenden Seiten genauer.