Zeitenfülle

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Zeitenfülle
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Christian Bock

Zeitenfülle


Herausgegeben von

Gisbert Greshake, Medard Kehl

und Werner Löser

Christian Bock

Zeitenfülle

Annäherungen an das paradoxe Verhältnis von Vergänglichkeit und Vollendung

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2017 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

ISBN 978-3-429-04334-6 (Print)

978-3-429-04910-2 (PDF)

978-3-429-06330-6 (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

VORWORT

Die vorliegende Arbeit ist im Sommersemester 2015 von der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom als Dissertation unter dem Titel »Die theo-logische Struktur der Zeit. Christlicher Äon als Perichorese von Chronos, Kairos und Pleroma« angenommen worden. Neben der Umformulierung des Titels wurde sie für die Veröffentlichung geringfügig überarbeitet.

Die Frage nach der Zeit und dem Umgang mit ihr begleitet mich seit langem auf unterschiedlichste Weise: als existentielle Anfrage und biographische Erfahrung, als denkerische Herausforderung durch ein vielschichtiges Phänomen und Einladung zum interdisziplinären Dialog, endlich als Aufgabe einer lebensdienlichen Theologie.

Vor diesem Hintergrund sei allen gedankt, die mir auf diesem Weg ihre Zeit geschenkt haben.

Zuerst gilt dieser Dank P. Elmar Salmann OSB, der das Entstehen dieser Untersuchung kenntnisreich und inspirierend begleitet hat. Sein geduldiges Interesse am Entstehungsprozess der Arbeit zeigte sich besonders darin, dass er sich für rasche Rückmeldungen, hilfreiche kritische Hinweise und anregende Gespräche stets großzügig Zeit nahm. Ebenso danke ich P. Felix Körner SJ für die Erstellung des Zweitgutachtens. Bei Herrn Prof. Dr. Gisbert Greshake bedanke ich mich für die Initiative zur Aufnahme der Untersuchung in die »Studien zur systematischen und spirituellen Theologie« des Echter-Verlages. Auch den Mitherausgebern, P. Medard Kehl SJ und P. Werner Löser SJ, sei an dieser Stelle gedankt.

Mein besonderer Dank gilt darüber hinaus jenen, die mir dieses Dissertationsprojekt ermöglicht haben: allen voran dem Erfurter Altbischof Dr. Joachim Wanke, der mir am Beginn des Projektes eine zweijährige Freistellung ermöglichte, sowie Weihbischof Dr. Reinhard Hauke, der Sorge dafür getragen hat, dass das Projekt auch danach noch fertiggestellt werden konnte, schließlich dem Bistum Erfurt für die großzügige finanzielle Unterstützung. Nicht zuletzt sei ausdrücklich den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern der Pfarrei St. Franziskus in Sömmerda gedankt, ohne deren entlastende Unterstützung und begleitendes Gebet in den vergangenen fünf Jahren eine Fertigstellung der Arbeit sicher nicht möglich gewesen wäre.

Am Ende sei ein herzlicher Dank an alle gerichtet, mit denen ich den vergangenen Jahren in besonderer Weise verbunden gewesen bin. Stellvertretend für viele seien genannt: die Gemeinschaft des Collegium Germanicum et Hungaricum in Rom, P. Klaus Peter SJ für das geistliche Geleit, Franziska Eberhardt für sorgfältiges Korrekturlesen, Hubertus Iffland und Claudia Wanierke für manche Ermunterung zum Durchhalten sowie Sascha Jaeck für die Erstellung des Layouts.

Gewidmet sei diese Arbeit schließlich meinen Eltern Dagmar und Hubertus Bock sowie meinem Onkel Domkapitular Bernhard Bock, die mich von Anfang an gelehrt haben, dass die bisweilen so eng erscheinende Zeit tatsächlich ins Weite führt.


Sömmerda, Juni 2016Christian Bock

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

ERSTER TEIL

Phänomenologische Hinführung

I. Thematische Vorbemerkung: Die theo-logische Relevanz der Frage nach der Zeit

II. Methodische Vorbemerkung

1. Perichorese als Thema, Reflexionsbegriff und Methode …10

2. Chronos, Kairos und Pleroma als phänomenologische Schlüsselbegriffe

3. Äon als theologischer Schlüsselbegriff

4. Grenzen der Untersuchung

III. Die begleitende Frage: Die mögliche Gestalt einer Wirklichkeit nach dem Tod

IV. Das geleitende Interesse: Die zeitliche Gestalt der durch den Tod begrenzten Wirklichkeit

1. Das lebensdienliche Interesse am Kairos: Gegenwart als kairologische Gestalt heutiger Zeiterfahrung

a) Kairologischer Zeitumgang

b) Die Vergegenwärtigungstendenz im Kontext heutiger Zeiterfahrung

c) Das Urphänomen Gegenwart als kairologische Mitte perichoretischen Zeitverständnisses

2. Das philosophische Interesse am Chronos: Gegenwart als chronologische Gestalt der Zeit

a) Zeit als Erfahrung von Vergänglichkeit

b) Die Chronologisierung der Zeit

c) Die philosophische Interpretation der Gegenwart aus chronologischer Perspektive

(1) M. Heidegger: Gegenwart als Dynamik der Zeit aus der Zukunft

(2) H. Rombach: Gegenwart als Dynamik der Zeit aus der Gegenwart

(3) P. Ricœur: Gegenwart als Dynamik der Zeit aus der Vergangenheit

(4) M. Cacciari: Gegenwart als Dynamik der Zeit ohne Chronos

3. Das theologische Interesse am Pleroma: Gegenwart als pleromatische Gestalt der Ewigkeit

a) Das Missverhältnis von Chronos, Kairos und Pleroma

b) Das Missverhältnis von Zeit und Ewigkeit

c) Das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit als perichoretisches Ineinander von Gegenwart und Pleroma

d) Die theologische Interpretation der Gegenwart aus pleromatischer Perspektive

(1) K. Rahner: Heranreifende Gegenwart

(2) K. Barth: Umfasste Gegenwart

(3) H. U. v. Balthasar: Durchbrochene Gegenwart

(4) W. Pannenberg: Dauernde Gegenwart

(5) J. Moltmann: Kommende Gegenwart

V. Die resultierende These: Christlicher Äon als Perichorese von Chronos, Kairos und Pleroma

VI. Zum Begriff der Perichorese

1. Zur Geschichte des Begriffs der Perichorese

a) Die ursprüngliche Bedeutung

b) Der Eingang in die Theologie: Christologische und trinitarische Perichorese

c) Die anschließende Rezeption des Begriffs

d) Die umstrittene Aktualität des Perichoresebegriffs

(1) Universalität der Perichorese: C. Sorč

(2) Unzulänglichkeit der Perichorese: M. Mühling

e) Fazit

 

2. Zeit und Perichorese: Denkanstöße

a) Zeit perichoretisch gedacht: Der Vorschlag K. Barths

b) Perichorese zeitlich gedacht: Der Entwurf P. Hünermanns

3. Zusammenfassung: Perichorese als Reflexionsbegriff und Theologumen

VII. Der doppelte Gang der Untersuchung

1. Formale Ausrichtung: Perichorese als Reflexionsbegriff

2. Materiale Ausrichtung: Perichorese als Theologoumenon

3. Die perichoretische Einheit von formaler und materialer Ausarbeitung

VIII. Exkurs: Alternative Einheitsmodelle von Zeit

1. Die morphologische Einheit der Zeit

a) Der Ansatz K. Gloys

b) Würdigung und Anfrage

2. Die tripolare Einheit der Zeit

a) Der Ansatz W. Achtners, S. Kunzes und T. Walters

b) Würdigung und Anfrage

IX. Die perichoretische Einheit der Zeit

ZWEITER TEIL

Philosophische Durchführung: Gegenwart aus der subjektiven Perspektive des Nunc

I. Formale Analyse: Gegenwart als perichoretisches Ineinander von Chronos, Kairos und Pleroma

1. Gegenwart als Chronos

a) Die Notwendigkeit der Kritik eines einseitig chronologisierten Zeitverständnisses

b) M. Heidegger: Die vulgäre Zeit

c) H. Rombach: Die fließende Zeit

d) P. Ricœur: Die aporetische Zeit

e) M. Cacciari: Die allverschlingende Zeit

f) Fazit: Der entmachtete Chronos

g) Ausblick: Die chronologische Dynamik der Gegenwart

2. Gegenwart als Kairos

a) Die gegenwärtige Brisanz kairologisch überformter Zeit

b) M. Heidegger: Die ursprüngliche Zeit als Augenblick

c) H. Rombach: Die konkrete Zeit als Situation

d) R Ricœur: Die konfigurierte Zeit als Erzählung

e) M. Cacciari: Die oszillierende Zeit als Äon

f) Fazit: Der gehobene Kairos

g) Ausblick: Der kairologische Zustand der Gegenwart

3. Gegenwart als Pleroma

a) Die prekäre Frage nach dem Ganzen der Zeit

b) M. Heidegger: Das Ganze der Zeit im Augenblick

c) H. Rombach: Das Ganze der Zeit in der Situation

d) P. Ricœur: Das Ganze der Zeit in der Erzählung

e) M. Cacciari: Das Ganze der Zeit im Äon

f) Fazit: Das gegenwärtige Pleroma

g) Ausblick: Die pleromatische Ganzheit der Gegenwart

H. Materiale Analyse: Die Zeitsignatur menschlicher Existenz

1. M. Heidegger: Existentieller Selbstbezug und zukünftige Zeit – Sorge

2. H. Rombach: Existentieller Weltbezug und gegenwärtige Zeit – Konkreativität

3. P. Ricœur: Existentieller Gemeinschaftsbezug und vergangene Zeit – narrative Identität

4. M. Cacciari: Existentieller Gottesbezug und äonische Zeit – Rekreation

5. Fazit: Die temporale Gestalt der Gegenwart aus der Perspektive menschlicher Existenz

6. Ausblick: Gegenwart als das Geheimnis menschlicher Existenz

a) Die Unabweisbarkeit des Geheimnisses

(1) M. Heidegger: Gegenwärtige Endlichkeit

(2) H. Rombach: Gegenwärtiger Zu-Fall

(3) P. Ricœur: Gegenwärtige Vermittlung

(4) M. Cacciari: Gegenwärtige Neuschöpfung

b) Die unabweisbare Gottesfrage

(1) M. Heidegger: Der letzte Gott als Theo-Logisierung der Endlichkeit

(2) H. Rombach: Der kommende Gott als Theo-Logisierung des Zu-Falls

(3) R Ricœur: Der biblische Gott als Theo-Logisierung der Vermittlung

(4) M. Cacciari: Der christliche Gott als Theo-Logisierung der Neuschöpfung

7. Geheimnis und Gottesfrage als Einladung zum Perspektivwechsel

8. Die philosophische Neuausrichtung der begleitenden Frage

DRITTER TEIL

Theologische Durchführung: Gegenwart aus der göttlichen Perspektive der Sempernitas

I. Vorbemerkung: Die prekäre Bestimmung des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit

1. K. Rahner: Ewigkeit als Frucht der Zeit

2. K. Barth: Ewigkeit als die die verlaufende Zeit umfassende Zeit

3. H. U. v. Balthasar: Vertikale Durchkreuzung der Zeit durch die Ewigkeit

4. W. Pannenberg: Dauer als zeitliches Abbild der Ewigkeit

5. J. Moltmann: Perichorese von Zeit und Ewigkeit

6. Fazit: Abschied vom klassischen Zeit-Ewigkeitsschema

II. Formale Analyse: Gegenwart als perichoretisches Ineinander von Altem und Neuem Äon

1. Das Schema von Altem und Neuen Äon

a) Exkurs: Der Verständnishorizont des Äonenbegriffes

(1) Etymologische Bestimmung des Äonenbegriffes….

(2) Der Äonenbegriff im biblischen Kontext

Altes Testament

Neues Testament

(3) Die weitere Rezeption des Äonenbegriffes

b) K. Rahner: Gleichzeitigkeit mit divergierenden Richtungskoeffizienten

c) K. Barth: Ungleichzeitige Gleichzeitigkeit

d) H. U. v. Balthasar: Reziprozität von Weltsituation und Weltziel

e) W. Pannenberg: Selbstbezogenes Jetzt und antizipierender Augenblick

f) J. Moltmann: Äonische Phasenverschiebung

g) Fazit: Das Äonenschema als theologischer Verständnisschlüssel eines perichoretischen Zeitverständnisses

2. Alter Äon

a) K. Rahner: Zeit der Freiheit

b) K. Barth: Zeit als Geschenk Gottes

c) H. U. v. Balthasar: Zeit der Liebe

d) W. Pannenberg: Zeit als endliche Dauer

e) J. Moltmann: Zeit der Schöpfung

f) Fazit: Die befristete Zeit des Alten Äon

3. Neuer Äon

a) K. Rahner: Ewigkeit als endgültige Auszeitigung der Freiheit

b) K. Barth: Ewigkeit als Treue Gottes

c) H. U. v. Balthasar: Ewigkeit als trinitarische Zeit Gottes

d) W. Pannenberg: Ewigkeit als zeit überbrückende Dauer

e) J. Moltmann: Ewigkeit der Neuschöpfung

f) Fazit: Die unbefristete Ewigkeit des Neuen Äon

 

4. Christlicher Äon als theologische Struktur der Zeit

a) K. Rahner: Gegenwart als Ereignis

b) K. Barth: Gegenwart als »Ver-Kehr« zwischen Gott und Mensch

c) H. U. v. Balthasar: Gegenwart als dramatische Gestalt der Liebe Gottes

d) W. Pannenberg: Gegenwart als Feld

e) J. Moltmann: Gegenwart als Perichorese

f) Fazit: Zeit als Perichorese von Gegenwart und Ewigkeit

g) Philosophische Rückvergewisserung

(1) M. Heidegger: Christlicher Äon als Ereignis

(2) H. Rombach: Christlicher Äon als Kokarde

(3) P. Ricœur: Christlicher Äon als Erzählung

(4) M. Cacciari: Christlicher Äon als rekreierende Unterbrechung

(5) Fazit: Wirklichkeit als Gegenwart des Christlichen Äon

III. Materiale Analyse: Die Zeitsignatur christlicher Existenz

1. Die temporale Gestalt des Christlichen Äon

a) K. Rahner: Die Fülle der Zeiten im absoluten Heilsbringer

b) K. Barth: Perichoretisches Heilsgeschehen in Christus

c) H. U. v. Balthasar: Universale Concretum

d) W. Pannenberg: Proleptische Antizipation des Eschatons in Christus

e) J. Moltmann: Geistesgegenwart

f) Fazit: Mensch und Schöpfung in Christi Gegenwart

2. Die temporale Gestalt christlicher Existenz

a) K. Rahner: Freiheit

b) K. Barth: Zuversicht

c) H. U. v. Balthasar: Darbietung

d) W. Pannenberg: Selbstständigkeit

e) J. Moltmann: Hoffnung

f) Fazit: Christliche Existenz als perichoretische Gegenwärtigkeit

3. Die theologische Neuausrichtung der begleitenden Frage

VIERTER TEIL

Perichoretische Zusammenführung

I. Schlussbetrachtung: Perichorese als Thema, Methode und Reflexionsbegriff

1. Perichorese als Thema: Das perichoretische Ineinander der Perspektiven von Sempernit as und Nunc

2. Perichorese als Methode: Das perichoretische Ineinander der philosophischen und theologischen Perspektiven

3. Perichorese als Reflexionsbegriff: Die theo-logische Struktur der Zeit als Perichorese von Chronos, Kairos und Pleroma

II. Die Lebensdienlichkeit perichoretisch gedeuteter Zeit

III. Perichoretischer Ausblick: Anstöße zum theologischen Weiterdenken

1. Protologisch-eschatologische Perspektive

2. Anthropologische Perspektive

3. Christologische Perspektive

4. Trinitarische Perspektive

5. Ekklesiologische Perspektive

6. Sakramental-liturgische Perspektive

7. Soteriologische Perspektive

8. Fazit: Die perichoretische Christusförmigkeit der Zeit

IV. Metaphorischer Schluss

V. Die perichoretische Neuausrichtung der begleitenden Frage

Literaturverzeichnis

I. Hilfsmittel

II. Primärliteratur

Hans Urs v. Balthasar

Karl Barth

Massimo Cacciari

Martin Heidegger

Jürgen Moltmann

Wolfhart Pannenberg

Karl Rahner

Paul Ricœur

Heinrich Rombach

III. Weitere Literatur

Zuversicht

Wenn alles rings befleckt ist

vom Schatten Blut des Lichts

die Helle zugedeckt ist

Verloren Sag das nicht

Verknüpfe verknote mit Worten

was immer die Erde mag

find Freude allerorten

Hoffnung jeden Tag

Einen sichren Anfang baust du

schweigend sprich nur nicht gleich

des Seins Brennpunkt schaust du

eine Herbstzeitlose bleich

František Halas 1

1 Nachdichtung durch Franz Fühmann, in: F. FÜHMANN, Gedichte und Nachdichtungen, Rostock 1978, 93.

ERSTER TEIL

Phänomenologische Hinführung

I. Thematische Vorbemerkung: Die theo-logische Relevanz der Frage nach der Zeit

Wer sich mit der Frage nach der Zeit auseinandersetzt und dabei verschiedene Zeitkonzeptionen in ihrem jeweiligen historischen, soziologischen, kulturellen, religiösen, denkerischen und weltanschaulichen Kontext betrachtet, sieht sich mit einer vielgestaltigen Fülle unterschiedlicher Zeitverständnisse konfrontiert1. In ihnen schlägt sich die gesamte Bandbreite mannigfaltiger Zugänge des Menschen zur Weltwirklichkeit nieder. Die Weisen, Zeit zu erfahren und mit ihr umzugehen, sind so unterschiedlich wie die sie begründenden Kulturen. Dementsprechend variantenreich fallen die Antworten aus, die auf die Frage nach der Vergänglichkeit und der Einteilung der Zeit (Chronos), nach spezifischen Eigenzeiten und der nie wiederkehrenden einmaligen Gelegenheit (Kairos), sowie nach dem Ziel, der Unvergänglichkeit, der Ewigkeit beziehungsweise der Fülle der Zeit (Pleroma) gegeben werden. Aus dieser kontrastreichen Vielfalt resultiert notwendig die prinzipielle Unabgeschlossenheit eines jeden Zeitverständnisses und die Vorläufigkeit aller Zeittheorien. Dies wird bereits in der jeweils bewussten oder auch unbewussten Vorentscheidung deutlich, der zufolge Zeit etwa als vorfindliches Phänomen, als abstrakte Definition, als physikalisch-mathematisches Maß, als Form und Bedingung von Anschauung, als eine die Wirklichkeit konstituierende Matrix oder auch als reine Illusion verstanden wird. Zeit kann in ihrer vieldimensionalen Komplexität weder vollständig erfasst noch in ihrer grundsätzlichen Vorgegebenheit auf eine rein verfügbare Variable reduziert werden. Bei aller Erkenntnis bleibt sie rätselhaft und fordert dadurch zur ständigen Auseinandersetzung mit ihr heraus. So entzieht sie sich grundsätzlich einem einseitig rationalen Zugriff, da sie wesentlich Geheimnis ist. Insofern ist Zeit nicht nur physikalische Größe oder psychologische Bedingung, sie ist darüber hinaus – als Symbol und Zeichen – mit Sinn und Bedeutung aufgeladen, sie kann – als System und Ideologie missbraucht – den Umgang mit ihr bis zur Maßlosigkeit steigern, sie kann – als Gabe und Spiel gedeutet – dem Leben als rechtes Maß dienlich sein und schließlich – als Verheißung und Abgrund zugleich – zu einer existentiellen Frage des Glaubens werden. Die objektivierende Befragung der Zeit deckt nie etwas anderes als deren rationale Unfassbarkeit auf, so dass gerade seit der beginnenden Neuzeit neben dem (eher vernachlässigten) Raum2 die Zeit in ihrer komplexen Vieldeutigkeit zur letzten Platzhalterin jenes Geheimnisses wurde, das sich als verborgene Gegenwärtigkeit des ewigen Gottes nach und nach zu verflüchtigen begann, bis dessen erklärter Tod in der Moderne die Frage nach der Zeit, wie H. Blumenberg notiert, zu einem der »Reste des Unerreichlichen«3 macht: »Raum und Zeit sind die neuzeitlichen Dimensionen des Unerreichbaren.«4

Dieser Erfahrung entspringen die vielfältigen Weisen, nach Zeit zu fragen und über sie nachzudenken. Die Tatsache ihrer Unerreichbarkeit verwehrt einen erschöpfenden Zeitbegriff, wenngleich das Fragen nach ihr dadurch immer neu motiviert wird. Theoretische Zeitreflexionen bewegen sich gewöhnlich in Spannungsfeldern, die auf die Erfahrung ihrer Vergänglichkeit zurückgehen. Zeit wird deshalb vorwiegend auf ihre chronologische Seite hin bedacht, das heißt auf die Frage nach der Verschränkung der drei Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie deren Lokalisierung im menschlichen Bewusstsein (subjektive Zeit) oder der äußeren Wirklichkeit (objektive Zeit). Die darüber hinausweisende Erwägungen über Ursprung und Vollendung der Zeit, wie auch über die Unvergänglichkeit und Ewigkeit alles Zeitlichen, haben in rein empirisch begründeten und naturwissenschaftlich ausgerichteten Denkmodellen keinen Platz. Auch wenn diese Konzeptionen in der großen Linie abendländischen Zeitdenkens stehen, für das von Anfang an auch die Frage nach der Ewigkeit bedeutend war, hat sich das Hauptaugenmerk auf die chronologische Einheit der Zeit gerichtet. Spätestens mit dem mechanischen Weltbild der Neuzeit ist diese Chronologisierung der Zeit zum Paradigma modernen Zeitverständnisses geworden.

Vor diesem Hintergrund erscheint dem Menschen Zeit als wertvolles und verwertbares Gut zugleich. Weil sie im Blick auf die befristete Lebenszeit des Einzelnen als endlich und angesichts der unermesslichen Weltzeit notwendig als zu kurz wahrgenommen wird5, zielen die Bemühungen des Menschen gewöhnlich darauf ab, die ihm gegebene Zeit sinnvoll und gut zu nutzen. Der mit dem mechanistischen Weltbild der Neuzeit einhergehende Quantifizierungsschub in der Handhabung und Beherrschung der Welt hat sich auch auf den Umgang mit der Zeit ausgewirkt: Die immer effizientere Taktung der Zeit ermöglichte eine zunehmend rentablere Planung und Ausbeutung von Zeiträumen6. Unter dem allherrschenden Diktat der chronologischen Seite der Zeit ging vor allem in den technisierten und industrialisierten Staaten das Bewusstsein weitestgehend dafür verloren, Zeit als ein für die Erfahrung komplexes und ein für das rationale Verstehen widersprüchliches Phänomen sowie als ein für eine sinnstiftenden Weltdeutung im letzten unergründliches Geheimnis wahrnehmen zu können7. Die mit der Chronologisierung der Zeit einhergehende Beschleunigungstendenz der Moderne scheint mit dem Beginn und dem derzeitigen Ausbau der globalen Vernetzung durch das Internet ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht zu haben. Die theoretisch jederzeit und überall herstellbare Realpräsenz virtueller Wirklichkeiten bedarf keiner chronologischen Wartezeiten mehr, um Informationen, Kommunikation, Bildung, Arbeit, Unterhaltung und Konsum sofort und augenblicklich verfügbar zur Hand zu haben, wobei das »Zur-Hand-Haben« längst kein Bildwort mehr ist, sondern dem technischen Standart jener handgerechten Kommunikationsmittel entspricht, mit deren Hilfe der Nutzer die ganze Welt »im Griff« hat8. Dabei bleibt die unermessliche Fülle der sich daraus ergebenden Möglichkeiten einer radikal neuen und überall verfügbaren Herstellung von bisher unerreichbarer Wirklichkeit nicht ohne Auswirkung auf den Umgang mit der Zeit. In der Gestaltung des Lebens und Arbeitens des global vernetzten Menschen im angehenden 21. Jahrhundert verliert die Monokultur chronologischer Zeitbeherrschung zunehmend an Bedeutung zugunsten eines Zeitumgangs, dessen Fokus sich mehr und mehr auf die je konkreten Gegenwartsgestalten mit der ganzen sich in ihnen anbietenden Fülle von Möglichkeiten richtet9. Die Gegenwart selbst wird zur Maßgabe eines solchen Zeitumgangs. Die globalen Gesellschafts-, Wirtschafts- und Finanzsysteme wie auch die Lebensgestaltung des Einzelnen werden freilich auch in Zukunft nicht ohne eine Taktung planbarer Zeit auskommen. Jedoch scheint die chronologische Einseitigkeit im Zeitumgang und das daraus folgende Verständnis des Phänomens der Zeit als reiner Chronos durch die derzeitige Vergegenwärtigungstendenz aufgebrochen. Angesichts der unermesslich erscheinenden Fülle von Möglichkeiten, die eine virtuell-reale Gegenwart je und je neu bietet, sind mit dem Kairos und dem Pleroma wieder jene Dimensionen der Zeit in das Zeitbewusstsein eingerückt, die durch ihre einem chronologischen Zeitumgang entgegenstehende Unvorhersehbarkeit und Ineffizienz fast gänzlich verdrängt worden waren. Der global vernetzte Mensch erfährt sich beständig neu im Kairos einer an potentiellen Möglichkeiten unerschöpflichen Gegenwart stehend. Dabei ist er ausgerichtet auf eine Fülle, die er in zunehmendem Maße zu vergegenwärtigen, jedoch nie endgültig zu erreichen vermag.

Durch dieses Unerreichbare der Zeit ist die Frage nach der Ewigkeit jeder Zeitspekulation unabweisbar mitgegeben, auch wenn diese als infinites Absolutum der Zeit vor dem Hintergrund des Plausibilitätsverlustes eines metaphysisch überhöhten Zeit-Ewigkeitsdualismus verloren gegangen zu sein scheint. Hinsichtlich der damit verbundenen Entstellungen einer zeitenthobenen Ewigkeit im Sinne eines unendlichen Kontinuums oder einer erstarrten Gegenwartssingularität kann dies freilich nur als konsequent und notwendig angesehen werden. Das Bemühen jedoch, den letzten Rest der für die jeweilige Gegenwart unerreichbaren Zeit durch die Vergegenwärtigung der beiden temporalen Dimensionen Vergangenheit und Zukunft einzuholen, steht dabei in der Gefahr, den Versuchungen jener ideologischen Kompensationen zu erliegen, die die verloren gegangene Ewigkeit entweder durch das Vergangene oder durch das Zukünftige zu ersetzen trachten: einmal in der regressiven Versuchung, Vergangenheit durch historisierende Wieder-holung erreichbar und Gegenwart damit zum Ort traditionalistischer Zukunftsabwehr zu machen, dann in der progressiven Versuchung, Zukunft durch Her-stellung erreichbar und Gegenwart damit zum Ort utopischer Vergangenheitsabkehr zu machen. Diese Versuche bleiben insofern defizitär, als die Erreichbarkeit der Vergangenheit durch Zementierung des Vergangenen (auf Kosten des Zukünftigen) und die Erreichbarkeit der Zukunft durch Verabsolutierung des Künftigen (auf Kosten des Vergangenen) die Gegenwart selbst unerreichbar werden lassen, welche zu einer verfügbaren Projektion des vermeintlich Erreichten herabgemindert wird. Bedingung solcher Reduktion ist die Einseitigkeit des auf die chronologische Seite der Zeit fixierten Zeitverständnisses, dessen strukturellen Bezugspunkte sich allein auf die drei zeitlichen Ekstasen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschränken. Ein solches Verständnis von Zeit wird auf die phänomenologische Beobachtung ihrer aus der kosmischen Entropie abgeleiteten Unumkehrbarkeit eingeengt. Entscheidend hierbei ist einzig der messbare Zeitraum, der zu einer quantifizierbaren Größe und nur aufgrund seiner Vergänglichkeit zu einem wertvollen Gut wird, dessen Qualifizierung sich freilich allein in seiner Verwertbarkeit erschöpft10. Die in die Gegenwart projizierten Dimensionen von Vergangenheit und Zukunft sind damit bloße Illusionen einer derartig herstellbaren Gegenwart, welcher nicht nur die Ewigkeit verloren gegangen ist, sondern auch der unmessbare Kairos als Ausdruck ihrer letzten Unverfügbarkeit und qualitativ-erfüllten Gestalt. Neben der temporalen Nichtigkeit von Vergangenheit und Zukunft kann innerhalb eines rein chronologischen Zeitverständnisses auch im Blick auf die Gegenwart nichts anderes als deren quantitativ-temporale Ausdehnungslosigkeit und damit deren wesenlose Nichtigkeit festgestellt werden. Dass ein derart einseitiges Zeitverständnis nicht haltbar ist, musste nicht erst durch die Relativitätstheorie und die Erkenntnisse der Quantenphysik im 20. Jahrhundert erwiesen werden11. Bereits Augustinus macht diese Unzulänglichkeit im Rahmen seiner Zeitanalyse geltend12. Zeit ist mehr als reiner Chronos. Sie ist das Getrenntsein des in der Gegenwart miteinander Verbundenen. Gegenwart ist damit mehr als eine reine Leerstelle oder haltlose Projektionsfläche inmitten eines quantifizierten Kontinuums nichtiger Zeitpunkte. Sie ist als »Urphänomen«13 die Verbundenheit des durch die Zeit voneinander Getrennten. Im Jetzt der Gegenwart verbinden sich deshalb chronologisch zerstreute Vergänglichkeit, kairologisch konkrete Gestalt und pleromatisch verheißene Ganzheit zu einer einheitlichen Erfahrung von Wirklichkeit, an der der Geheimnischarakter der Zeit selbst ablesbar wird.

Philosophische und theologische Denker haben deshalb nie aufgehört, auf die Einseitigkeiten eines rein chronologischen Zeitbewusstseins hinzuweisen, die sich daraus ergebenden Folgen für den Zeitumgang zu untersuchen und diese kritisch in den Blick zu nehmen. Während die quantenphysikalische Interpretation des Kosmos derzeit in Bereiche des Weltverständnisses vordringt, in denen der Faktor t gegenüber einer alles rationale Verstehen übersteigenden Wirklichkeitsdeutung allenfalls noch eine flankierende Rolle spielt14, wäre es die Aufgabe einer lebensdienlichen Theologie, heutiger Zeitwahrnehmung zu einem Bewusstsein aufzuhelfen, das im Phänomen der Zeit zuerst wieder jenes Geschenk zu erkennen vermag, das Gott dem Menschen und seiner Schöpfung gemacht hat. Im Geheimnis der Gegenwart, die durch die technisch-virtuellen Möglichkeiten in das Zentrum gegenwärtigen Zeitumgangs gerückt ist, ließe sich demnach jene anfängliche Spur finden, die der Schöpfer unwiderruflich in seine Schöpfung eingeschrieben hat: die Spur des Ewigen. Eine lebensdienliche Theologie sollte deshalb darauf aufmerksam machen, dass sich gegenwärtiger Zeitumgang nicht allein auf die potentiell nützlichen und konsumierbaren Möglichkeiten der Gegenwart beschränkt.