Die Königin der Tulpen

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Die Königin der Tulpen
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Inhalt

Das Buch

Der Autor

Titelseite

Impressum

Widmung

Prolog: Freitag, 10. Juli, 22.14 Uhr

1: Samstag, 11. Juli, 9.42 Uhr

2: Samstag, 11. Juli, 10.04 Uhr

3: Samstag, 11. Juli, 11.38 Uhr

4: Samstag, 11. Juli, 11.58 Uhr

5: Sonntag, 12. Juli, 15.42 Uhr

6: Sonntag, 12. Juli, 15.59 Uhr

7: Sonntag, 12. Juli, 16.10 Uhr

8: Montag, 13. Juli, 19.13 Uhr

9: Montag, 13. Juli, 19.58 Uhr

10: Dienstag, 14. Juli, 17.12 Uhr

11: Dienstag, 14. Juli, 20.06 Uhr

12: Dienstag, 14. Juli, 23.27 Uhr

13: Mittwoch, 15. Juli, 17.15 Uhr

14: Mittwoch, 15. Juli, 18.48 Uhr

15: Mittwoch, 16. Juli, 19.05 Uhr

16: Mittwoch, 15. Juli, 21.14 Uhr

17: Mittwoch, 15. Juli, 22.07 Uhr

18: Mittwoch, 15. Juli, 22.21 Uhr

19: Donnerstag, 16. Juli, 8.56 Uhr

20: Donnerstag, 16. Juli, 10.14 Uhr

21: Donnerstag, 16. Juli, 16.17 Uhr

22: Freitag, 17. Juli, 18.44 Uhr

23: Samstag, 18. Juli, 19.41 Uhr

24: Samstag, 18. Juli, 20.18 Uhr

25: Samstag, 18. Juli, 20.53 Uhr

26: Samstag, 18. Juli, 21.06 Uhr

27: Samstag, 18. Juli, 21.33 Uhr

28: Samstag, 18. Juli, 21.46 Uhr

29: Samstag, 18. Juli, 22.17 Uhr

30: Samstag, 18. Juli, 22.28 Uhr

31: Samstag, 18. Juli, 22.56 Uhr

32: Samstag, 18. Juli, 23.04 Uhr

33: Samstag, 18. Juli, 23.16 Uhr

34: Samstag, 18. Juli, 23.22 Uhr

35: Samstag, 18. Juli, 23.43 Uhr

36: Sonntag, 20. Juli, 0.17 Uhr

37: Sonntag, 20. Juli, 0.46 Uhr

38: Sonntag, 20. Juli, 0.48 Uhr

Epilog: Samstag, 25. Juli, 15.04 Uhr

Danksagung


Das Buch

Ein brutaler Überfall auf den einzigen Lebensmittelladen der kleinen Ortschaft Saffelen bringt die dörfliche Idylle ins Wanken. Als dann auch noch eine alte Frau spurlos verschwindet und Hauptkommissar Kleinheinz den charismatischen Landwirt Hastenraths Will nicht in die Untersuchungen miteinbezieht, nimmt dieser auf eigene Faust Ermittlungen auf. Auch Löschmeister Josef Jackels und die beiden Kreisliga-C-Fußballstars Richard Borowka und Fredi Jaspers werden in den Sog der Geschehnisse gerissen und geraten dabei in höchste Lebensgefahr. Mit der Zeit kommt Hastenraths Will einer unglaublichen Verschwörung auf die Spur, die das kleine Dorf in seinen Grundfesten erschüttert und den Landwirt in eine unheimliche Welt voller Drogen, Gewalt und Schlagermusik führt.

Auch der zweite Fall von Hastenraths Will überzeugt durch seine genauen Beobachtungen des Dorflebens und seine wunderbare Mischung aus aberwitzigem Humor und atemloser Spannung.

Der Autor

Christian Macharski wurde 1969 in Wegberg geboren. Seit 1991 ist er Kabarettist und Autor. Diverse Programme mit dem Comedy-Duo „Rurtal Trio“, zwei Solo-Programme, eine Regiearbeit, Gag-Autor (WDR, SAT1, RTL). Von 1994 bis 2003 Kolumnist für die Aachener Nachrichten. Nach zwei Büchern mit gesammelten Glossen erschien mit „Das Schweigen der Kühe“ 2008 sein erster Roman. „Die Königin der Tulpen“ ist der Nachfolger.

Von Christian Macharski sind außerdem als Taschenbuch erhältlich:

Irgendwo da draußen (ISBN 978-3-9807844-0-5)

25 km/h (ISBN 978-3-9807844-2-9)

Das Schweigen der Kühe (ISBN 978-3-9807844-4-3)

Christian Macharski

Die Königin der Tulpen

DORFKRIMI

© 2009 by paperback Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Abdruck, auch auszugsweise,

nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags

Umschlaggestaltung: kursiv, Oliver Forsbach

Fotos: Marcus Müller

Lektorat: Kristina Raub

eISBN: 978-3-9807844-5-0

Die Personen und Handlungen der Geschichte sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Person sind zufällig und nicht beabsichtigt. Die Protagonisten des Romans basieren auf Bühnenfiguren des Comedy-Duos Rurtal Trio.

Für Alexandra

Prolog

Freitag, 10. Juli, 22.14 Uhr

Der aufgeweichte Waldboden quietschte unter ihren Schuhen. Die hohen Kiefern bewegten sich träge im Wind und ächzten unter dem peitschenden Regen. In der Ferne durchzuckte ein Blitz den wolkenverhangenen Abendhimmel. Irgendwann hatte sich der Pfad, dem sie gefolgt war, in einem Dickicht aus Unterholz, verrotteten Baumstämmen und moosbewachsenen Wurzeln verloren und der Wald war wie eine schwere Tür hinter ihr zugeschlagen. Sie hatte längst jegliches Zeitgefühl verloren. Hunger und Kälte nagten an ihr. Und Angst. Unsagbare Angst. Plötzlich tauchte mitten im Wald ein großes, gusseisernes Tor auf. Irritiert, aber neugierig schob sie es mit einiger Kraftanstrengung auf. Dahinter lag eine lange Kieseinfahrt, die vor einer brüchigen Treppe endete. Die Treppe führte in ein Haus, das man vor hundert Jahren als hochherrschaftlich bezeichnet hätte. Mittlerweile war es zwar windschief und zusehends verfallen, aber noch strahlte die Silhouette, die sich gegen die immer stärker werdende Dämmerung abhob, eine gewisse Würde aus. Die wenigen Fenster, die nicht zerbrochen waren, waren blind und mit Spinnweben überzogen. Die Veranda war von Unkraut überwuchert.

„Besser als nichts“, sagte sie sich, „hier kann ich wenigstens die Nacht verbringen.“

Nun nicht mehr durch die hohen Baumkronen geschützt, lief sie über den kurzen Weg zum Haus. Als sie ankam, war sie komplett durchnässt, weil der Regen erbarmungslos auf sie niedergeprasselt war und der schneidende Wind ihn ihr von vorne ins Gesicht geblasen hatte. Die große Eingangstür war unverschlossen. Sie schob sie vorsichtig auf und steckte ihren Kopf durch den Spalt. Ein muffiger Geruch von feuchten Wänden und alten Teppichen schlug ihr entgegen. Sie rief: „Hallo. Ist da einer?“ Doch ihre Worte echoten von den Wänden der leeren Empfangshalle zurück. Das Licht im Inneren des Hauses schimmerte bläulich und es war deutlich wärmer, als sie erwartet hatte. Es schien, als hätte erst vor Kurzem jemand geheizt. Kann aber auch nur Einbildung sein, dachte sie fröstelnd. Sie stand nun in der großen Vorhalle und ließ ihren Blick durch den Raum wandern. Auf der linken Seite befanden sich ein großer Saal, in dem zerbrochene Stühle und jede Menge Bauschutt lagen, und eine Art Wintergarten, in dem die Scherben der zerborstenen Fenster auf dem Boden verstreut waren. Auf der rechten Seite führte eine breite Steintreppe nach oben. Sie entschied sich für die Treppe und gelangte im ersten Stock zu einem langen Korridor, von dessen Wänden Tapetenstreifen herabhingen. Als sie den dunklen Flur entlangging, ließ ein Geräusch sie herumfahren. Doch es war nur ein Fensterladen, den der Wind zugestoßen hatte. Danach legte sich wieder eine erdrückende Stille über das Haus. Atemlos tastete sie sich Schritt für Schritt vor. Am Ende des Ganges entdeckte sie eine Tür, die einen Spalt geöffnet war. Ihr war, als würde in dem Raum dahinter Licht brennen. Als sie sich der Tür näherte, stieg ihr zusätzlich zum modrigen Gestank des Gemäuers ein süßlicher Geruch in die Nase, der ihr merkwürdig vertraut vorkam. Als sie die Tür vorsichtig öffnete und den Raum betrat, stellte sie fest, dass der Mond ihn durch ein zerschlagenes Fenster mit sanftem Licht erfüllte. Abgestandene Luft baute sich wie eine Wand vor ihr auf und sie hielt sich instinktiv die Nase zu. Aus alter Gewohnheit schloss sie die Tür hinter sich. In dem Zimmer stand ein Bett, das sogar noch mit einer staubigen Tagesdecke bezogen war. Auf dem Boden lag Unrat, aber auf eine eigentümliche Weise wirkte das Zimmer bewohnt. Dann entdeckte sie etwas, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie schrie auf. Unter dem Bett ragte eine bleiche, menschliche Hand hervor, fast so beiläufig wie ein Teddybär, der heruntergefallen war. Doch das war echt, das war kein Spiel. Sie wusste, wem die Hand gehörte. Sie erkannte den schwarzen Ring sofort. Das war die Frau, nach der die Polizei seit Tagen fieberhaft suchte. Offenbar war die Befürchtung der Polizei wahr geworden: Sie war das achte Opfer des unheimlichen Frauenmörders, der immer noch auf der Flucht war und eine grauenhafte Blutspur durchs Land zog. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie sich im Haus des Killers befand. Ein Knacken riss sie aus ihren Gedanken. Mit rasendem Puls wirbelte sie herum und starrte zur Tür. Als sich schwere, schleppende Schritte langsam näherten, hatte sie das Gefühl, ihr Herz würde jeden Moment aussetzen. Sie saß in der Falle. Panisch sah sie sich im Raum um und suchte nach einem Ausweg – doch es gab keinen. Ein widerliches Gemisch aus Schweiß, Angst und Verwesung lag wie eine klebrige Schicht über diesem Raum und nahm ihr die Luft zum Atmen. Die Schritte verstummten. Der Unbekannte schien nun direkt vor der Tür zu stehen. Er war so nah, dass sie sogar sein rasselndes Atmen hören konnte. Dann wurde mit einem Ruck die Tür aufgerissen.

 

Mit einer Zeitung unterm Arm stand dort Landwirt Wilhelm Hastenrath. Er trug eine lange, weiße Grobripp-Unterhose und ein ausgewaschenes Pyjamaoberteil. Seine Füße steckten in abgetragenen Stoffpantoffeln. Erstaunt sah er in das vor Schreck verzerrte Gesicht seiner Frau. Marlene Hastenrath stieß einen spitzen, schrillen Schrei aus. Reflexartig fuhr ihre Hand heraus und warf das Taschenbuch, das sie hielt, in hohem Bogen durch den Raum. Mit einem lauten Knall landete es an der Wand und rutschte von dort herunter wie ein Vogel, der gegen eine Scheibe geflogen war. Will rückte seine Hornbrille zurecht und sah seine Frau fragend an. Marlene wechselte vom Schreien zu einer unnatürlichen Schnappatmung und beruhigte sich dann langsam wieder. Sie strich sich mit der Hand durchs Gesicht. „Will. Musst du mich denn so erschrecken?“

Will verzog den Mundwinkel und sagte ärgerlich: „Was heißt denn hier erschrecken? Ich wollte nur sagen, dass ich nach Bett geh ... bist du etwa wieder so ein spannender Triller am lesen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zur Wand und hob das Taschenbuch auf. Er klappte es zu und las den Titel laut vor: „Der irre Frauenmörder mit der scharfen Klinge. Gerichtsmedizinerin Maria Schneider ermittelt.“

„Mareia Sneider. Das ist eine Amrikanerin“, sagte Marlene schnippisch. Sie stand auf, nahm Will das Buch aus der Hand und legte es auf ihren Nachttisch.

Während sie sich auf die Bettkante setzte, um sich ein Glas Wasser einzugießen, verließ Will mit einer wegwerfenden Geste das Zimmer. „Schlaf gut,“ presste er missmutig hervor.

„Schlaf du auch gut“, rief Marlene hinterher. „Hast du die Türkette vorgemacht?“

Will lag im Bett und starrte an die Decke seines Zimmers, in das er vor fünf Jahren gezogen war, nachdem seiner Frau plötzlich aufgefallen war, dass sein Schnarchen sie störte. Hastenraths Will, wie ihn alle im Dorf nannten, war zwar der Ortsvorsteher und der erfolgreichste Landwirt der kleinen Ortschaft Saffelen, doch gegen seine Frau konnte er sich nur selten durchsetzen. Sonst hätte er ihr längst verboten, abends immer diese Psychothriller zu lesen. Nicht etwa, weil er Lesen ablehnte. Ganz im Gegenteil, er las regelmäßig auf dem Klo mit großem Interesse die Tageszeitung, wenn auch nur den Lokal- und den Sportteil. Zu mehr reichte die Zeit nicht, schließlich hatte er einen großen Hof zu versorgen. Nein, es war vielmehr, weil sich mit dem Fall Pluto vieles verändert hatte in dem einst so friedlichen Dorf. Etwas über ein Jahr war vergangen, seit eine unheimliche Einbruchsserie die Bewohner von Saffelen in Angst und Schrecken versetzt hatte. Mit Kombinationsgabe und etwas Glück hatte Will den Täter seinerzeit überführen können. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er daran zurückdachte, wie Kommissar Kleinheinz ihn dafür gelobt hatte. Ein lautes „Muh“ aus dem Stall gegenüber ließ ihn hochschrecken. Dann atmete er tief durch und zog sich die Decke bis zum Kinn hoch. „Mein Gott, jetzt werd ich auch schon bekloppt. Obwohl ich überhaupt keine Horrortriller lese.“ Er gähnte und die Müdigkeit kroch unaufhaltsam in seinen Körper. Der letzte Gedanke, der ihm kam, bevor er in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel, war, dass das kleine, friedliche Dorf Saffelen seine Unschuld verloren hatte. Und er wusste gar nicht, wie recht er damit hatte.

1

Samstag, 11. Juli, 9.42 Uhr

Der Sommer war heißer als erwartet. Umso mehr genoss Fredi Jaspers den Fahrtwind, der sein schulterlanges Haar, das er vorne kurz trug, durcheinanderwirbelte. Er fuhr mit offenem Verdeck über die endlose und menschenleere Landstraße, die in das entlegene Saffelen führte. In tiefen Zügen atmete er den Sommer ein und summte kaum hörbar „Africa“ von Toto vor sich hin. Es war das perfekte Wetter zu seiner Gemütslage. Noch vor einem guten Jahr war sein Leben ein Scherbenhaufen gewesen. Und jetzt? Jetzt war er der glücklichste Mann der Welt. Seit ungefähr sieben Monaten waren er und seine große Liebe Martina wieder ein Paar. Seinen 16 Jahre alten Fiat Panda hatte er in Zahlung gegeben und sich dafür ein fast neues Cabrio gekauft. Gut, es war ein Mitsubishi Colt Cabrio in dunkelbraun. Aber etwas Besseres konnte er sich nicht leisten von seinem Gehalt als Büroangestellter bei Auto Oellers. Immerhin hatte ihm der alte Oellers einen großzügigen Kredit eingeräumt, den er mit Sonderschichten abarbeiten konnte. Aber viel wichtiger war sowieso die Sache mit Martina. Nachdem über zwei Jahre Eiszeit geherrscht hatte zwischen dem einstigen Saffelener Vorzeigepärchen, hatte der Fall Pluto, in den Fredi unfreiwillig hineingeraten war, dazu geführt, dass Martina und er sich wieder einander angenähert hatten. In der ersten Zeit waren sie unregelmäßig miteinander ausgegangen, dann immer häufiger und irgendwann waren sie unausgesprochen wieder zusammen. Trotz allem hatte Martina ihn gebeten, es diesmal behutsamer anzugehen. Sie wollte zunächst noch bei ihren Eltern wohnen bleiben und sie beanspruchte auch einen gewissen Freiraum für sich. Und Fredi war vorsichtig ge worden. Er wollte auf keinen Fall denselben Fehler machen wie damals, als er Martina mit seiner Liebe schier erdrückt hatte. Diesmal würde er klüger sein. Diesmal hatte er sich nämlich eine Taktik zurechtgelegt, um ihr Herz zurückzugewinnen. Ganz langsam und subtil würde er sie wieder in ihn verliebt machen. Mit kleinen, beiläufigen Gesten und herzerweichenden Überraschungen. Heute Morgen um halb neun zum Beispiel hatte er bei ihr zu Hause geklingelt, obwohl sie erst für den nächsten Tag miteinander verabredet gewesen waren. Er hatte sein gelbes Jackett und seine beste Lederkrawatte angezogen und ihr einen 30-Euro-Blumenstrauß mit eingearbeitetem Douglas-Geschenkgutschein überreicht. Noch ehe sie die Situation mit ihrem verwirrten Blick erfasst hatte, hatte er sie außerdem zu einer spontanen Cabriofahrt ins Phantasialand eingeladen, während er die Eintrittskarten in der rechten Hand schwenkte. Fredi freute sich, denn die Überraschung war offenbar gelungen, als Martina ungeschminkt, mit zerzaustem Haar und im Nachthemd die Haustür geöffnet hatte. Nachdem sie nach mehreren stammelnden Versuchen ihre Sprache wiedergefunden hatte, musste sie Fredi jedoch schweren Herzens absagen. Gerade im Moment hätte ihr Vater aus der Firma angerufen und sie gebeten, ihm helfen zu kommen. Hans Wimmers war der erfolgreichste Unternehmer Saffelens. Er hatte aus der kleinen Metzgerei Wimmers ein internationales Wurstimperium gemacht und gehörte mittlerweile zu den größten Würstchen-im-Glas-Produzenten Europas. Seinen Hauptsitz hatte er schon vor Jahren von Saffelen nach Heinsberg verlegt. Martina, sein einziges Kind, arbeitete dort in der Buchhaltung. Fredi war klar, dass es schon mal passieren konnte, dass man in der eigenen Firma auch samstags arbeiten musste, und so bemühte er sich, seine Enttäuschung zu verbergen. Da er seine Lektion gelernt hatte, bestand er darauf, Martina mit seinem Cabrio nach Heinsberg zu fahren. Obwohl sie mehrfach betonte, dass es nicht nötig sei, hatte Fredi geduldig vor der Tür gewartet, bis sie sich fertig gemacht hatte. Die Fahrt über war Martina sehr einsilbig gewesen und auch als er sie auf dem Firmenparkplatz herausgelassen hatte, hatte sie sich nur knapp von ihm verabschiedet. Sie hatte ihm nicht einmal zugewinkt, als sie im Gebäude verschwand. Na ja, aber wer arbeitet schon gerne samstags, sagte sich Fredi.

Das Blaulicht hatte er schon von Weitem gesehen. Doch als er sich nun der Pastor-Müllerchen-Straße näherte, traute er seinen Augen nicht. Der kleine Tante-Emma-Laden, der seinem Fußballkameraden Hans-Peter Eidams gehörte, war großräumig mit Flatterband abgesperrt. Zwei Polizeiautos, ein Rettungswagen und das Löschfahrzeug der Freiwilligen Feuerwehr Saffelen standen quer auf der Straße. Als Fredi seinen Wagen auf dem Kundenparkplatz der Gaststätte von Harry Aretz, die gegenüber dem Tante-Emma-Laden lag, abgestellt hatte, erkannte er Ortsvorsteher Hastenraths Will, der sich wild gestikulierend mit Löschmeister Josef Jackels unterhielt. Fredi stieg aus und ging zu den beiden hinüber.

Josef Jackels zog gerade umständlich ein großes Funkgerät aus seiner Uniformtasche. Nachdem er den richtigen Knopf gefunden hatte, sprach er mit sehr ernstem Tonfall hinein: „Florian 1 an Florian 2 – kommen.“ Das Funkgerät rauschte. „Florian 1 an Florian 2 – kommen.“ Wieder nur Rauschen. Josef rüttelte am Funkgerät, seine Stimme klang nun ärgerlich: „Florian 1 an Florian 2 – kommen. Hans-Gerd, geh mal dran!“

Plötzlich tippte ihm von hinten ein hagerer Feuerwehrmann mit schütterem Haar auf die Schulter und sagte: „Tschuldigung, Josef. Ich habe mein Funkgerät zu Hause vergessen. Es musste ja alles so schnell gehen.“

Josef fuhr erschrocken herum. Er hob hilflos den Arm. „Ja, wie, vergessen? Hans-Gerd, so geht es nicht. Das ist ein wichtiger Einsatz. Um nicht zu sagen, der wichtigste Einsatz, dem die Saffelener Feuerwehr in den letzten fünf Jahren hatte. Jetzt mal abgesehen von die Katze von Frau Mühlensiepen und die abgestreute Ölspur.“ Verärgert bedeutete er seinem Kollegen, dass er ihm folgen solle. Bevor er ging, verabschiedete er sich noch: „Will. Ich muss los. Ich mach jetzt hier mit der Hans-Gerd Einsatzbesprechung.“

Hastenraths Will hatte die Hände tief in seiner ausgebeulten, grauen Stoffhose vergraben, die notdürftig von fransigen, grauen Hosenträgern gehalten wurde. Nase und Wangen des Landwirts waren von geplatzten Äderchen gerötet. Das grünweiß karierte Hemd hatte er sich bis zum Ellenbogen hochgekrempelt. Fredi fiel allerdings auf, dass Will heute nicht seinen obligatorischen Bundeswehrparka trug. Entweder, weil es zu warm war oder weil es schnell gehen musste.

Fredi deutete mit dem Kopf hinüber zu einem der beiden Polizeiwagen, in dem ein dicker, schwitzender Beamter saß und Notizen machte. „Hallo Will. Was ist denn hier los?“

Will setzte sein weltmännisches Gesicht auf. „Grüß dich, Fredi. Der Laden von Eidams Hansi ist überfallen worden.“

 

Fredi war sprachlos. Dafür redete Will weiter: „Das muss vor ungefähr eine Stunde passiert sein. Keiner hat irgendswas gesehen. Auf einmal kam die Polizei hier mit Blaulicht reingefahren und hat sofort der Laden abgeriegelt. Es muss irgendswas Schlimmes passiert sein, weil die auch ein Rettungswagen dabei haben.“

Fredi schüttelte fassungslos den Kopf. „Wer war denn im Laden?“

„Keine Ahnung. Hier das Schnittlauch“, er zeigte verächtlich auf die Polizisten, „will nix sagen, bis der Kommissar da ist. Ich durfte noch nicht mal der Tatort betreten.“

„Das gibt’s doch nicht. Du bist doch der Ortsvorsteher.“

„Ja klar. Das habe ich denen auch gesagt. Aber Respekt ist für die ein Fremdwort.“ Ein junges Pärchen fuhr langsam auf Fahrrädern vorbei und reckte die Köpfe Richtung Laden. Will ging einen Schritt auf sie zu und wedelte mit dem Arm. „Fahren Sie bitte weiter. Hier gibt es nichts zu sehen. Das ist ein polizeilicher Tatort. Hier haben Zivilisten nichts verloren.“

Plötzlich bog mit hohem Tempo ein dunkelblauer Opel Corsa in die Pastor-Müllerchen-Straße ein. Auf dem Dach blinkte ein Blaulicht, das etwas schief mit einem Magnethalter angebracht war. Eine Sirene war aber nicht zu hören. Der Wagen kam mit quietschenden Reifen vor dem Flatterband zum Stehen. Während der Fahrer, ein athletischer, leicht untersetzter Mann mit Stirnglatze, mit einem Satz aus dem Wagen sprang und sofort zu dem Polizeibeamten ging, der am Streifenwagen lehnte, stieg der Beifahrer, der wie der Fahrer mit Jeans und T-Shirt bekleidet war, gemächlich aus und verschaffte sich erst mal einen Eindruck von der Umgebung. Will erkannte ihn sofort. Es handelte sich um Hauptkommissar Kleinheinz, den Will während der Ermittlungen im Fall Pluto kennengelernt hatte. Will witterte seine Chance, ließ Fredi stehen und lief, so schnell seine Gummistiefel es ihm erlaubten, auf den Kommissar zu. Schon von Weitem rief er: „Hallo Herr Kleinhans. Hallo.“

Als dieser ihn erkannte, verdrehte er die Augen und wandte sich an seinen Kollegen: „Jochen, geh doch schon mal rein. Ich komm gleich nach. Ich muss hier noch was klären.“ Der Kollege in Zivil tippte sich verstehend mit dem Zeigefinger gegen die Stirn und folgte dem Streifenbeamten in den Tante-Emma-Laden.

In der Zwischenzeit war Will schnaufend angekommen. Während er noch nach Luft schnappte, begrüßte Kleinheinz ihn mit einem gequälten Lächeln: „Hallo Herr Hastenrath. Das hätten Sie aber auch nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen, oder? Geht’s Ihnen gut?“

„Schlechte Leute geht es immer gut“, versuchte Will einen Scherz, während er immer noch Atem schöpfte. Als er bemerkte, dass der Kommissar nicht darauf einstieg, fuhr er seriös fort: „Ja, Herr Kommissar. Ich habe bis zu Ihre Ankunft der Tatort abgeriegelt und die Schaulustigen ferngehalten. Ich würde sagen, wir gehen jetzt mal rein, für uns zu informieren, was genau passiert ist.“

Freundlich, aber bestimmt antwortete Kleinheinz: „Ich gehe jetzt mal rein. Und Sie gehen am besten nach Hause. Sie können hier nichts tun.“

„Ja, aber, Herr Oberkommissar ...“

„Hauptkommissar!“, Kleinheinz’ Augen verengten sich zu Schlitzen. „Tut mir leid, Herr Hastenrath. Es handelt sich um einen polizeilichen Tatort. Ich darf Sie da nicht mit reinnehmen. Schon mal gar nicht, bevor die KTU da war.“

„Wer?“

„Die Spurensicherung. Hören Sie, Herr Hastenrath. Wir haben es hier mit einem Raubüberfall zu tun. Es ist von einer Schusswaffe Gebrauch gemacht worden und es gibt einen Verletzten. Und ich muss jetzt schnell da rein.“

Will war wie betäubt. „Schüsse? Verletzte? Herr Kommissar. Das geht nicht. Sie müssen mir sagen, was los ist. Ich habe als Ortsvorsteher ein Recht dadrauf, etwas zu erfahren. Was meinen Sie, was hier im Dorf los ist, wenn ...“

Der Zivilkollege erschien in der Ladentür und rief: „Peter! Ich glaube, das solltest du dir mal ansehen.“

Kleinheinz wendete sich ab und ging, aber Will blieb dicht hinter ihm. „Herr Kommissar, bitte!“

Kleinheinz blieb abrupt stehen und sah den Landwirt scharf an. „Gut, Herr Hastenrath. Wir machen es folgendermaßen. Ich mache meine Arbeit und Sie gehen nach Hause. Wenn ich hier fertig bin, komme ich zu Ihnen auf den Hof und sage Ihnen alles, was Sie wissen müssen. Okay?“ Will nickte eingeschüchtert.

„Ach, und noch was“, fuhr der Kommissar fort. „Nehmen Sie Ihren Feuerwehrfreund Jackels mit, bevor der noch was kaputt macht. Meine Beamten haben die Lage auch so im Griff.“ Er deutete auf den Löschmeister, der sich gerade bei dem Versuch, noch mehr Flatterband zu spannen, verhedderte.

„Aber Herr Kleinheinz. Das ist eine freiwillige, ehrenamtliche Amtshilfe, die der Herr Jackels hier in seine Freizeit anbietet.“

Der Kommissar verschwand wortlos im Laden.