Die Stunde der Wahrheit

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Die Stunde der Wahrheit
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa


Die Stunde der Wahrheit

Im Kuhstall von Landwirt und Ortsvorsteher Hastenraths Will wird ein verwirrter, älterer Herr aufgegriffen. Es stellt sich heraus, dass er an einer Amnesie leidet und vermutlich aufgrund eines traumatischen Erlebnisses sein Gedächtnis verloren hat. Der Mann ist hochintelligent und verfügt über außergewöhnliche Fähigkeiten. Vor allem sein Talent im buchhalterischen Bereich macht Hastenraths Will sich zunutze, da zur selben Zeit eine äußerst heikle Betriebsprüfung auf seinem Bauernhof stattfindet. Während der Mann ohne Gedächtnis, dem man den Namen Walter gibt, verzweifelt um seine Erinnerung kämpft, begeben sich auch Will, Hauptkommissar Kleinheinz und Richard Borowka auf Spurensuche. Je näher sie dem Geheimnis von Walters Identität kommen, desto mehr verwischt die Grenze zwischen Gut und Böse. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, bei dem die Ermittler auf schmerzliche Weise erkennen, dass es ein schmaler Grat ist, auf dem der Mensch wandelt.

Über den Autor

Christian Macharski wurde 1969 in Wegberg geboren. Seit 1991 ist er hauptberuflich als Kabarettist und Autor tätig. Er war 17 Jahre lang Teil des Comedyduos „Rurtal Trio“, das sich 2008 trennte, schrieb und inszenierte Programme für Kollegen sowie mehrere eigene Soloprogramme. Darüber hinaus arbeitete Macharski als Autor für verschiedene Fernsehsender (WDR, SAT1, RTL) sowie als Kolumnist für die Aachener Nachrichten und aktuell für die Rheinische Post. Die Figur des Hastenraths Will verkörpert Macharski regelmäßig auf der Bühne, im Radio und im TV. „Die Stunde der Wahrheit“ ist der achte Teil der beliebten Dorfkrimireihe um den ermittelnden Landwirt.

Außerdem als Taschenbuch erhältlich:

Das Schweigen der Kühe (ISBN print 978-3-9807844-4-3)

Die Königin der Tulpen (ISBN print 978-3-9807844-5-0)

Das Auge des Tigers (ISBN print 978-3-9807844-7-4)

Die Rache des Waschbären (ISBN print 978-3-9816638-4-6)

Der Tango des Todes (ISBN print 978-3-9807844-8-1)

Die Höhle des Löwen (ISBN print 978-3-9816638-0-8)

Die Geliebte des Mörders (ISBN print 978-3-9816638-6-0)

Christian Macharski

© 2018 by paperback Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Abdruck, auch auszugsweise,

nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags

Umschlaggestaltung: Kursiv, Oliver Forsbach

Fotos: Wilfried Venedey, Carl Brunn

Lektorat: Kristina Raub

Satz & Layout: media190, Wilfried Venedey

E-Book-Konvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-947365-01-2

Die Personen und Handlungen der Geschichte sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Die Protagonisten des Romans basieren auf Bühnenfiguren des Comedy-Duos Rurtal Trio.

Für Claudia

Prolog

Hastenraths Will nahm einen letzten, tiefen Schluck aus der Kaffeetasse. Mit einem unüberhörbaren Schmatzer bestätigte er seiner Frau, was sie ohnehin schon wusste. „Marlene, du machst der beste Kaffee von ganz Saffelen!“ Der Ortsvorsteher des kleinen Dorfes sprang auf und forderte seinen Nachbarn Richard Borowka, der ebenfalls mit am Küchentisch saß, mit einer unmissverständlichen Handbewegung auf, ihm zu folgen. Die beiden Männer waren bereits seit Tagen damit beschäftigt, die Zimmer im Obergeschoss zurückzubauen. Vor einiger Zeit hatten Marlene und Will geplant, aus ihrem landwirtschaftlichen Betrieb einen Erlebnisbauernhof zu machen, um den wirtschaftlichen Veränderungen im Agrarwesen Rechnung zu tragen. Nach einem schrecklichen Zwischenfall kurz vor der Eröffnung hatten sie den Plan jedoch wieder fallen lassen. Nach und nach wurden aus den Gästeappartements wieder normale Zimmer für Übernachtungsbesuch oder zum Unterstellen von Möbelstücken. Will und Borowka waren seit dem frühen Morgen dabei, in einem der Räume eine Zwischenwand einzuziehen, um das neue Bügelzimmer von Marlene mit einem separaten Abstellraum für die Heißmangel zu versehen. Das Gerüst aus Metall war bereits fertig montiert, jetzt mussten noch die Gipskartonplatten angebracht werden.

„Komm, beweg dich, Richard“, insistierte Will, der bereits in der Tür wartete, „die Pflicht ruft!“

Borowka schaute ihn aus müden Augen an. Die letzte Nacht war kurz gewesen. Zusammen mit ein paar Kumpels vom Fußball hatten sie den 43. Geburtstag seines besten Freundes Fredi Jaspers nachgefeiert und waren zu später Stunde, wie immer, in Himmerich gelandet, der angesagtesten Landdiskothek der gesamten Region. Die zwei Stunden Schlaf, die ihm nach seiner Rückkehr noch geblieben waren, machten sich bei Borowka in diesem Moment in schlimmen Gliederschmerzen und einem fürchterlichen Brummschädel bemerkbar. Schwerfällig erhob er sich dann doch noch und trottete Will hinterher. „Danke für der Kaffee“, murmelte er noch, bevor er im Flur verschwand.

Marlene lächelte gütig und räumte das Geschirr ab. Sie sah auf die Uhr. Es war schon kurz vor neun. Allerhöchste Zeit, die Kühe und die Schweine zu füttern.

Nachdem sie in einem großen Emaille-Spülbecken im Hof das Schweinefutter angemischt hatte, füllte sie es in einen massiven Holzeimer und schleppte diesen in den Kuhstall, der im Durchgang zu den Schweineboxen lag. Sie stellte den Eimer ab, nahm die große Mistgabel mit den vier Zinken von der Wand und begann zunächst einmal damit, die Futtertröge der Kühe mit Heu zu füllen. Die burschikose Bauersfrau liebte diese Tätigkeit. Schon als Kind hatte sie sich auf dem Hof ihrer Eltern immer freiwillig für diese Aufgabe gemeldet. Sie konnte sich gar nicht sattsehen an den großen, schwarzen Kuhaugen, die vor Glück glänzten, wenn die Tiere einander rempelnd und schubsend an die Futterstelle gelaufen kamen. Die Kühe im Stall der Hastenraths konnten sich im Stall frei bewegen, aber jede der 18 Kühe wusste genau, wo ihr Platz war. Und so reihten sie sich innerhalb kürzester Zeit nebeneinander auf und verschlangen gierig das Heu, das Marlene aus einem großen Haufen heraus in die Tröge schaufelte. Immer schneller wurde sie, so sehr beflügelte sie der Anblick der aufgeregten Tiere. Mit großer Wucht stieß sie die Forke wieder und wieder in den aufgeschichteten Heuberg und freute sich jedes Mal, wenn das Büschel, das daran hängen blieb, besonders groß war. Die Kühe dankten es mit glücklichem Muhen.

Das rauschhafte Schaufeln wurde jäh unterbrochen, als die Mistgabel plötzlich im Heuhaufen stecken blieb. Marlene spürte einen kurzen Schmerz in der Schulter, der von der ruckartig abgebremsten Bewegung rührte, und betrachtete staunend die aufrecht im Heu stehende Gabel, die noch leicht hin- und herwippte. Obwohl ihr dieser Moment ewig vorkam, konnten höchstens Bruchteile von Sekunden vergangen sein, denn gleichzeitig ging ein dumpfer Schrei durch den Stall. Noch ehe Marlene Ursache und Wirkung zusammenbringen konnte, sprang ein nur mit einem T-Shirt, einer verdreckten Jeanshose und Socken bekleideter graubärtiger Mann aus dem Heu und baute sich mit schmerzverzerrtem Gesicht vor ihr auf. In seinem linken Oberschenkel steckte nicht allzu tief ein Zinken der Mistgabel. Der lange Holzstiel bog sich nach unten. Die Adern am Hals des Mannes traten breit hervor und sein ebenmäßiges Gesicht verzerrte sich zu einer zornigen Grimasse, als er die Forke mit einer schnellen, wütenden Bewegung aus seinem Bein riss. Dann machte er mit einem weiteren lauten Schrei einen Satz nach vorn. Mit ausgestreckten Händen versuchte er, Marlenes Hals zu greifen.

Erst jetzt realisierte die Bäuerin, was passiert war. Sie hatte einem fremden Mann, der sich in ihrem Heuhaufen versteckt hatte, eine Forke ins Bein gerammt und dieser wollte sich nun revanchieren, indem er sie erwürgte. Das konnte sie nicht zulassen, zumal der Mann es doch gewesen war, der sich unerlaubterweise Zutritt zum Stall verschafft hatte. Geistesgegenwärtig riss Marlene den Eimer mit dem Schweinefutter vom Boden hoch und schlug ihn dem Fremden mit voller Wucht gegen die Schläfe. Dessen überraschter Gesichtsausdruck fror förmlich ein, als der mit Metall eingefasste Holzeimer hart auf seinen Schädelknochen traf und ein trockenes Knacken verursachte. Die korpulente Dame, die gerade zugeschlagen hatte, verschwand seitlich aus seinem Sichtfeld, als er wie ein gefällter Baum umkippte. Er war bewusstlos, noch bevor er den harten Betonboden erreichte. Marlene Hastenrath stellte den Eimer ab, stemmte ihre Arme in die Hüften und schüttelte verärgert den Kopf. Sie hasste es, bei ihrer Lieblingstätigkeit gestört zu werden.

Schattenwelt
1
Samstag, 22. Juli, 11.27 Uhr

Ein klirrendes Geräusch ließ ihn aufschrecken. Er blinzelte, aber die tobenden Schmerzen in seinem Kopf verhinderten genaue Wahrnehmungen. Schatten, die sich hektisch bewegten, huschten vorbei. Dann hörte er eine Stimme. „Tschuldigung, war keine Absicht. Hast du ein Kehrblech, Marlene?“ Er hob leicht den Kopf und erkannte schemenhaft einen Mann mit einer sonderbaren Frisur. Er fokussierte seinen Blick auf die Haare und das Bild wurde langsam klarer. Die Mähne war dunkelblond, leicht gewellt, vorne kurz und hinten lang. Der Mann trug eine Art Blaumann voller Ölflecken und beugte sich vor, um etwas aufzuheben. Allmählich setzten sich die einzelnen Lichtpunkte für ihn zu einem Gesamtbild zusammen. Er lag auf dem Rücken, allerdings recht bequem. Entweder auf einer Couch oder in einem Bett. Unter seinen Kopf war ein Kissen geschoben. Im Raum befanden sich außer ihm noch vier Personen. Die anderen drei waren aber allesamt damit beschäftigt, sich um den Mann mit den lustigen Haaren zu scharen. Dem war offensichtlich ein Glas heruntergefallen. Darauf deutete jedenfalls der Satz der einzigen Frau im Raum hin:

 

„Pass auf! Nicht, dass du dich im Finger schneidest.“

Die Frau war sehr kräftig gebaut und trug einen blauen Kittel mit Blumenornamenten darauf. Ihre Füße steckten in groben Pantoffeln. Mehr konnte er nicht erkennen, da sie ihm ihren sehr großen Hintern entgegenstreckte, während sie sich bückte. Neben ihr stand mit verschränkten Armen und einem grimmigen Blick ein Landwirt. Jedenfalls schien seine Bekleidung darauf hinzudeuten. Er trug eine grüne Schiebermütze und eine Art Kassengestellbrille mit breitem Rand. Dazu ein grün-weiß kariertes Flanellhemd und eine etwas zu große, abgetragene graue Stoffhose, die notdürftig von ausgefransten Hosenträgern gehalten wurde. Doch der deutlichste Hinweis auf seine berufliche Tätigkeit waren die grünen Gummistiefel, an denen Reste von Kuhdung klebten. Der dritte Mann im Raum war eindeutig Arzt. Er trug einen weißen Kittel und ein Stethoskop um den Hals.

Da die vier immer noch damit beschäftigt waren, sich um das Missgeschick des merkwürdig frisierten Blaumanns zu kümmern, hatte er ein wenig Zeit, seine Gedanken zu sortieren. Er hob den Kopf leicht an, was unmittelbar stechende Schmerzen nach sich zog, und sah sich um. Eichenschrank, Fernseher, Sessel mit Fußablage, Tisch mit eingelassenen Fliesen. Er befand sich eindeutig in einem Wohnzimmer, also lag er wohl auf einer Couch. Noch einmal studierte er die Menschen, die gestikulierend beieinander standen. Was alle vier gemeinsam hatten: Er hatte sie noch nie in seinem Leben gesehen! Bis auf die Frau, die sich in diesem Moment stöhnend erhob und ihm einen kurzen Blick auf ihr Gesicht gewährte. Es war rotbackig, freundlich und auf eine besondere Art attraktiv. Ihr wogender, barocker Körper passte dazu und verhieß eine lebensfrohe Ausstrahlung. Aber etwas störte ihn an dieser Dame. Natürlich – das war die Frau, die ihm zuerst eine Mistgabel ins Bein gerammt und dann einen Holzeimer über den Schädel gezogen hatte. In dem Moment, als er dessen gewahr wurde, pochte wie auf Knopfdruck sein linker Oberschenkel. Bislang schienen die Schmerzen offensichtlich vom Wirbelsturm in seinem Kopf überlagert worden zu sein. Er sah an sich herab und stellte fest, dass sein linkes Hosenbein knapp unterhalb der Leiste abgeschnitten und ein dicker Verband um seinen Oberschenkel gewickelt war.

Jetzt, da sein Blick wieder scharf gestellt war, konzentrierte er sich auf die Gespräche im Raum. Seine Sinne schienen demnach nicht beeinträchtigt worden zu sein von dem heftigen Schlag, den er gegen den Kopf bekommen hatte. Der Landwirt maßregelte gerade einen kleinen Hund, der kläffend ins Zimmer gelaufen kam.

„Knuffi! Aus. Aus, Knuffi! Gib der Papa sofort das Werbezettelchen zurück.“

„Jetzt lass ihn doch“, ermahnte die Frau ihn sanft, „der will doch nur damit spielen.“

„Spielen?“, echauffierte sich der Mann mit der Brille, „das scheint dem sein neues Hobby zu sein. Ständig zerfetzt der in letzter Zeit die ganze Post, die eingeworfen wird. Mit dem stimmt was nicht, der muss dringend mal zum Hundepsychiologen auf die Couch.“

„Also manchmal weißt du selber nicht, was du willst. Du sagst doch immer, dass der Knuffi nicht auf die Couch darf“, widersprach die Frau.

Der Landwirt schüttelte fassungslos den Kopf. „Ich glaub, du willst mich nicht verstehen“, polterte er sich in Rage. „Selten hab ich so sinnlos Geld aus dem Fenster geschmissen, wie seit der Knuffi in die Hundeschule ist. Wenn der so weitermacht, schafft der noch nicht mal die Versetzung.“

Nun schaltete sich der Arzt in das Gespräch ein: „Beruhigen Sie sich, Herr Hastenrath. Das Verhalten ist völlig normal. Es gibt viele Hunde, die gerne Papier zerreißen. Damit bauen sie überschüssige Energie ab. Das scheint ein Relikt aus Urzeiten zu sein, als die Vorfahren der Hunde noch Jagd auf Beutetiere machten. Manchmal sind es aber auch nur Übersprungshandlungen, weil der Hund Langeweile hat. Wir haben einen Golden Retriever, den Bruno, der war früher auch immer ganz wild darauf, Papier zu erlegen. Am liebsten Klorollen. Wir haben es ihm abgewöhnt mit Kauknochen aus Rinderhaut. Damit kann man einen Hund schon recht lange beschäftigen.“

„Siehst du“, wandte sich der Landwirt wieder an seine Frau, „selbst der Golden Receiver von der Dr. Hoppe hat es gelernt. Guck mal, dass du auch so Kauknochen besorgst. Gestern fehlte schon wieder der halbe Sportteil, weil ich der Zeitungsjunge nicht rechtzeitig abfangen konnte.“

Inmitten der enormen Geräuschkulisse lag er leicht verspannt auf dem Sofa und lauschte der hitzigen Debatte über Hundeerziehung. Es beruhigte ihn und versetzte ihn sogar in eine Art Schwebezustand. Allerdings nur, bis plötzlich der dauergewellte Blaumann auf ihn zeigte und brüllte: „Ey, der Typ ist wach!“

Er zuckte zusammen, als sich plötzlich alle Blicke auf ihn richteten.

Der Arzt beugte sich zu ihm herunter und sagte professionell mit sonorer Stimme: „Guten Tag, mein Name ist Dr. Hoppe. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen.“

Das ist gut, dachte er, denn schon die ganze Zeit beschäftigten ihn zwei Fragen. Die erste war: „Wo bin ich?“ Und die zweite, weitaus wichtigere, lautete: „Wer, verdammt noch mal, bin ich?“

Aufbruch
2
Samstag, 22. Juli, 18.17 Uhr

„Was ist denn eine asoziale Amnesie?“, fragte Fredi Jaspers und legte dabei seinen Kopf schief.

„Boah, nicht asozial“, rief Borowka genervt, „ich hab gesagt ,dissonzonational‘. Nee, Moment, jetzt muss ich selbst noch mal nachgucken.“ Ungeschickt entfaltete er ein öliges DIN-A4-Blatt, auf dem er sich ein paar Notizen gemacht hatte.

„Hier steht es“, sagte er nach kurzer Suche. „Disso … zia … tive Amnesie. Das sagt man dafür, wenn einer sein komplettes Leben vergessen hat. Im Prinzip ist das wie ein Filmriss, außer, dass davon nicht nur der letzte Abend betroffen ist.“

„Wieso hast du dir das Wort aufgeschrieben?“, fragte Fredi.

„Sag mal, ist das die einzigste Frage, die dir dazu einfällt? Ich hab mir das alles aufgeschrieben, weil … weil die Rita das genau wissen wollte. Aber überleg doch mal, wie abgefahren das ist, wenn einer alles vergessen hat: Wer der ist, wo der herkommt, was der jemals gemacht hat in sein Leben.“

Borowka war kaum zu bremsen in seiner Euphorie, während Fredi geistesabwesend auf das Etikett seiner Bierflasche stierte. Die beiden saßen in der Küche seines Hauses, genauer: seines Elternhauses, das er gemeinsam mit seiner Verlobten Sabrina renoviert hatte. Dort war genug Platz für eine ganze Familie – und genau das war Fredis Problem und auch der Grund, warum er Borowkas Erzählungen nur mit einem halben Ohr zuhörte. Seit nunmehr vier Jahren versuchten Sabrina und er Eltern zu werden, doch es wollte einfach nicht klappen. Immer mehr hatte dies in den letzten Monaten zu Belastungen und Streit in ihrer Beziehung geführt, obwohl Fredi sich redlich Mühe gab, immer die genau errechneten Eisprungtermine für den Beischlaf zu reservieren. Einmal hatte er deswegen sogar die alljährliche Fahrt mit der Fußballmannschaft nach El Arenal abgesagt, was ihm viel Kopfschütteln seiner Teamkameraden eingebracht hatte. Fredi fühlte sich inzwischen wie ein richtiger Versager. Selbst Borowka und seine Frau Rita hatten mittlerweile ein vierjähriges Kind, wenn auch aus Versehen.

Fredi schob die düsteren Gedanken, die ihn in letzter Zeit immer häufiger heimsuchten, beiseite, denn langsam begann er sich doch für die seltsame Geschichte des Fremden aus dem Heu zu interessieren.

„Aber wenn der alles vergessen hat, kann der denn dann alleine nach dem Klo gehen oder mit Messer und Gabel essen?“, fragte er neugierig.

Borowka starrte ihn für ein paar Sekunden verdutzt an und machte dann mit der Hand eine Scheibenwischerbewegung vor dem Gesicht. „Sag mal, hast du zu nah an die Heizung geschlafen oder bist du noch besoffen von gestern? Ja klar kann der das. Der kann alles noch wie immer. Der hat nur sein Gedächtnis verloren, bei dem ist quasi im Prinzip die komplette Festplatte gelöscht. Dem seine Erinnerung setzt erst wieder ein ab dem Moment, wo der bei Will auf der Couch wach wurde. Obwohl – an der Schlag mit der Eimer konnte der sich auch noch dran erinnern. Aber davor: Alles weg!“

„Ja, aber wie kann denn so was? Noch ein Bier?“

„Logolektrisch“, sagte Borowka und wedelte mit seiner leeren Bierflasche, „auf ein Bein kann man nicht stehen.“

Während Fredi zum Kühlschrank ging, fuhr sein Kumpel mit ungebremstem Enthusiasmus fort: „Der Dr. Hoppe sagt, dass so was ausgelöst wird von ein traumatologisches Erlebnis. Du erinnerst dich doch, wie wir mal besoffen von Himmerich nach Hause gefahren sind und dabei mit mein guter alter Capri der Jägerzaun von die alte Frau Jörissen umrasiert haben und anschließend bei die im Karpfenteich gelandet sind?! Wie wir am nächsten Morgen hinterm Steuer wach wurden, wussten wir durch der Schock doch auch nicht mehr, was genau passiert war. Und bei der Mann aus dem Heu muss das so ein schlimmer Schock gewesen sein, dass der sein ganzes Leben davor vergessen hat. Das ist total spannend. Der Dr. Hoppe hat ein Studienkollege, der mit ihm zusammen im Lions Club ist, und der hat seine Doktorarbeit über diese dissonz … über diese Art von Gedächtnisverlust geschrieben. Und den hat der heute Morgen angerufen.“

Es ploppte zweimal kurz. Fredi hatte die beiden Bierflaschen geöffnet und kam damit zurück an den Tisch.

Borowka nahm einen tiefen Schluck und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Er stieß kurz auf, bevor er fortfuhr: „Der Dr. Hoppe hat so ein paar Untersuchungen mit der Mann gemacht und will den am Montag noch mal zum CT oder MRT oder wie das heißt schicken, für das genau herauszufinden. Aber das war total krass. Der Mann ohne Erinnerung ist supernett und wohl auch ziemlich schlau, jedenfalls kannte der Fremdwörter, die ich noch nie gehört hatte. Und der sieht auch total gepflegt aus. Der hat so grau melierte Haare und ein sauber gestutzter grau-weißer Bart. Und auch ganz normale Klamotten hatte der an. Das ist im Leben kein Landstreicher oder Sittenstrolch oder so.“

„Und der hatte keine Papiere und nix dabei?“

„Nix! Der hatte noch nicht mal Schuhe an.“

„Wahnsinn! Wie heißt der Mann denn?“

Borowka schlug sich genervt mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Ja, sag mal, hörst du mir überhaupt zu? Sein Name hat der natürlich auch vergessen. Die haben sich jetzt dadrauf geeinigt, dass die dem vorläufig Walter nennen, bis die wissen, was mit dem los ist.“

Gerade als Fredi fragen wollte, was nun mit dem Mann geschehen soll, rumpelte es im Obergeschoss. Eine dichte Wolke süßlichen Dufts kündigte Sabrina an, die sich im Badezimmer fertig gemacht hatte und nun auf hohen Schuhen die Treppe hinunterstöckelte. Borowka verdrehte die Augen. Viel zu selten waren diese gemeinsamen Kumpelmomente mit Fredi geworden, seit diese Frau in das Leben seines besten Freundes getreten war. Allein dem gestrigen spontanen Geburtstags-Nachfeier-Ausflug nach Himmerich waren nervige Diskussionen vorausgegangen.

„Wahrscheinlich hatte die Tante wieder ein Eisprung“, dachte Borowka und schaute erstaunt auf, als Sabrina die Küche betrat. Er erkannte sie erst auf den zweiten Blick, weil sie sich sehr aufwendig zurechtgemacht hatte. Die Haare streng nach hinten gekämmt und zu einem Zopf gebunden, die Schminke dezent, aber dennoch auffällig. Sie trug ein hautenges beiges Businesskleid, das ihre weiblichen Formen perfekt zur Geltung brachte. Dazu eine schwarze Strumpfhose und, wie schon zu hören gewesen war, High Heels. Unabsichtlich entfuhr Borowka ein anerkennendes „Oh, là, là.“

Sabrina quittierte es mit einem geringschätzigen Lächeln und wandte sich an Fredi: „Ich bin dann weg. Es könnte ein bisschen später werden.“

Sie gab Fredi einen Kuss auf die Wange, der trotz seiner Flüchtigkeit einen Lippenstiftabdruck hinterließ, bevor sie mitsamt der Duftwolke durch die Haustür verschwand.

Borowka sah ihr entgeistert hinterher. „Was war das denn gerade? Wie hat die sich denn aufgebrezelt?“

Fredi nuckelte an seinem Bier, sodass er die ersten Worte vernuschelte: „Ach, so ist die in letzter Zeit öfters unterwegs. Seit die der neue Job hat.“

Borowka schien überrascht. „Wie? Ist die nicht mehr bei Wackerzapp auf dem Bürro?“

„Nee, schon lange nicht mehr. Da sieht man mal, wie gut du mir zuhörst. Das hab ich dir bestimmt schon dreimal erzählt. Sabrina hat vor vier Monate über ein Bekannter aus dem Fitnessstudio eine Stelle bei eine große Firma in Geilenkirchen bekommen, die sitzen da im Gewerbegebiet. Die sind international tätig und verkaufen so Spezialteile für Bohrfirmas, sogar bis nach China und Südafrika. Genau hab ich das aber selbst noch nicht kapiert. Auf jeden Fall ist der Job super bezahlt. Die muss aber dafür auch viel arbeiten. Auch schon mal abends. So wie heute, da muss die ihre Chefs zu ein Geschäftsessen mit wichtige Investoren begleiten. Weil die Sabrina ja nicht von hier kommt, ist das eine von die wenigen in die Geilenkirchener Niederlassung, die fließend Hochdeutsch kann. Im Moment muss die sich natürlich noch was anstrengen, weil die noch in die Probezeit ist. Aber die nimmt jetzt schon immer an wichtige Besprechungen teil und soll demnächst sogar auch mal mit auf Dienstreise gehen.“

 

„Mein lieber Mann“, Borowka pfiff anerkennend durch die Zähne, „Respekt. Wenn ich bedenk, dass Rita bald ihr Zehnjähriges feiert im ,Sonnenstudio Karibik‘. Die hat überhaupt kein Bock auf Fortbildungen oder so. Für die ist nur wichtig, dass die auf der Arbeit rauchen kann.“

Fredi nickte versonnen. „Ich bin ja auch stolz auf die Sabrina. Aber die ist natürlich schon viel weg in letzter Zeit. Überleg mal: Heute ist Samstag! Normalerweise würden wir heute Abend schön gemütlich zusammen die Wiederholung von die große Helene-Fischer-Show gucken. Aber der Job geht nun mal vor. Letztens wie ich vom Training nach Hause kam, musste ich mir sogar meine Kroketten selber warm machen.“

Borowka schüttelte betroffen den Kopf. „Das geht natürlich gar nicht, aber seh es mal positiv: Dadurch, dass die jetzt so viel weg ist, hast du nicht mehr so viel Druck mit … na, du weißt schon.“

Er formte seine Finger zu einer Geste, die wohl den Geschlechtsakt darstellen sollte. Das jedenfalls schloss Fredi aus der ungelenken Bewegung und kommentierte gequält: „Glaub mal nicht, dass die Sabrina sich durch ihre Karriere davon abhalten lässt. Der Kinderwunsch ist immer noch genauso groß wie vorher. Die Eisprungtage sind fest eingekringelt auf unser Kalender. Wir haben das bisher erst ein einzigstes Mal verpasst wegen ein Meeting, was die in der Firma hatte. Aber es klappt trotzdem nicht.“

Borowka musste unwillkürlich an seinen Sohn Jerome denken, auf den er zwar stolz war, der aber auch unglaublich anstrengend sein konnte. Deshalb fiel ihm zum Trost auch nur ein Satz ein: „Sei froh!“