Loe raamatut: «Brennpunkt Balkan», lehekülg 5

Font:

Die Herausforderungen nach dem Beitritt

Bis 2020 kann Kroatien aus diversen Fördertöpfen der EU mit knapp zwölf Milliarden Euro rechnen, das entspricht mehr als einem Viertel der Wirtschaftsleistung des Landes von 2013; doch bisher fehlte es an einer ausreichend großen Zahl an Experten, um Großprojekte EU-konform einreichen und abwickeln zu können. Die Förderungen braucht Kroatien aber dringend, um etwa die Umweltstandards der EU von der Abfallbewirtschaftung über die Kanalisation bis zu Kläranlagen zu erfüllen. Auf diesem Gebiet hat das Land im Beitrittsvertrag die längsten Übergangsfristen erhalten, doch die Herausforderungen sind enorm, wie die ehemalige Umweltministerin Mirela Holy unterstreicht: „Kroatien hat nach wie vor mit der Abfallbewirtschaftung die größten Probleme. Hinzu kommt, dass in der Mehrheit der Gemeinden Kläranlagen fehlen. Schätzungen besagen, dass Kroatien etwa zehn Milliarden Euro investieren müsste, um die Umweltstandards in der EU zu erreichen. Ein Großteil davon, drei bis vier Milliarden, entfällt auf funktionierende Systeme zur Beseitigung von Altmaterial. Das ist eine große Belastung für uns, und da hoffen wir natürlich auch auf Mittel aus EU-Fonds. Doch bis jetzt (Frühsommer 2013, Anm.) haben wir noch kein einziges Zentrum für Mülltrennung und Wiederverwertung. Es sind zwar drei derzeit im Aufbau, aber die Mehrzahl der Projekte gibt es erst auf dem Papier.“

Kroatien ist daher bemüht, mehr Experten heranzubilden, die derartige Projekte umsetzen können. Vor dem Beitritt hat die Regierung auf diesem Gebiet allerdings viel versäumt. Aus dem Vorbeitrittsfonds IPA konnte Kroatien bis Dezember 2012 nur 33 Prozent der verfügbaren Mittel abrufen, bei anderen Fonds war die Quote etwas besser. EU-Mittel erfolgreich für die Modernisierung nutzen konnte die Firma Gala in der Stadt Bjelovar, 80 Kilometer nordöstlich von Agram. Die Hennen von Gala legen 140.000 Eier pro Tag, die Firma ist einer der drei großen Produzenten in Kroatien. Doch die Käfige waren zu klein und entsprachen ebenso wenig den EU-Standards wie die Lagerung des Stallmists. Ihm werden nun durch ein Tunnelsystem 80 Prozent der Feuchtigkeit entzogen, wodurch nun weder eine Geruchsbelästigung noch eine Belastung der Umwelt entsteht. Auch die Haltung der Hennen wurde durch größere Käfige, eine Stange zum Sitzen und ein Nest zum Eierlegen verbessert. Das von der EU mitfinanzierte Projekt dauerte vier Jahre. Bis zum Ende der Übergangsfrist am 1. Juli 2014 dürften bis zu 80 Prozent der Eierproduzenten diese EU-Standards erreicht haben, die allerdings unter den noch strengeren Standards in Österreich liegen. Einen so hohen Prozentsatz erfüllen nicht einmal alle Altmitglieder, obwohl die entsprechende EU-Vorschrift aus dem Jahre 1999 stammt und konventionelle Käfighaltung seit Jänner 2012 in der EU verboten ist. So klagte die EU-Kommission Italien und Griechenland vor dem Europäischen Gerichtshof, weil die beiden Länder dieses Verbot nicht umgesetzt haben. Dieses Beispiel zeigt, dass die Frage nicht klar zu beantworten ist, ob Kroatien alle EU-Standards erfüllt, weil das erstens vom jeweiligen Sektor abhängt und zweitens in gewissen Bereichen auch Altmitglieder säumig sind.

Seit dem 1. Juli 2013 hat Kroatien mit noch einer weitere Herausforderung zu kämpfen. Richtung EU sind zwar Zollschranken und Stehzeiten an den Grenzen endgültig weggefallen, doch auf der „anderen Seite“ entstanden neue Zollschranken, weil Kroatien die Freihandelszone CEFTA verlassen und das EU-Zollregime übernehmen musste, das für Länder wie Serbien sowie Bosnien und Herzegowina gilt. Auf die CEFTA entfällt ein Fünftel der kroatischen Exporte, während in der EU kroatische Marken erst bekanntgemacht und aufgebaut werden müssen. Das ist teuer, und dazu sind auch Mittelbetriebe kaum in der Lage, weil ihnen vielfach die Kapazitäten für den EU-Markt fehlen. Hinzu kommt die Krise in der Eurozone, die Kroatien ebenfalls trifft, wie in Agram der Chefvolkswirt der Splitska Banka, Zdeslav Šantić, betont: „Dieser Verlust an Exporten in die CEFTA wird kurzfristig nur schwer zu ersetzen sein. So ist die Nachfrage der Haushalte auf den europäischen Märkten weiter ziemlich schwach, und in der Euro-Zone wird die Arbeitslosigkeit heuer und im kommenden Jahr wahrscheinlich weiter steigen. Damit wird es für kroatische Produzenten sehr schwer sein, neue Märkte zu finden. Wir müssen uns auch der schlechten Konkurrenzfähigkeit bewusst sein, die die Firmen selbst kaum verbessern können, wenn es nicht zu einer Wende in der Wirtschaftspolitik kommt. Hinzu kommt, dass bei uns die Produktionskosten deutlich stärker gewachsen sind als bei unseren Haupthandelspartnern. Das zeigt, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit beim Preis weiter verschlechtern wird, wenn der Kurs stabil bleibt.“

Viele große Firmen haben Produktionsstandorte bereits in die CEFTA-Länder verlagert, andere werden folgen. Bereits in Serbien sowie in Bosnien und Herzegowina ist der Konzern Agrokor präsent, der im Frühsommer 2013 die slowenische Handelskette Merkator übernommen hat. Der Privatkonzern verarbeitet pro Jahr 350.000 Schweine, produziert 40 Millionen Liter Milch und bewirtschaftet 40.000 Hektar Fläche und ist damit mehr als zehn Mal so groß wie der größte österreichische Agrarbetrieb. Agrokor wird sich im EU-Wettbewerb sicher behaupten können. Generell werde der Anpassungsdruck für die Wirtschaft aber beträchtlich sein, erläutert die Vizepräsidentin des Konzerns Ljerka Puljić: „Nach dem Beitritt kommt der Anpassungsschock wahrscheinlich nicht über Nacht; doch binnen Jahresfrist wird ein Teil der Produzenten sicher mit einer Konkurrenz konfrontiert sein, der sie nicht standhalten können. Das wird zu einer neuen Welle der wirtschaftlichen Restrukturierung führen, wobei einige Unternehmen auch verschwinden werden. Andere werden schnell Konzentrationsprozesse erleben, und einige werden auch auf den regionalen Markt ausweichen, wo sie bisher nicht zu finden waren und ihre Rettung im Osten suchen, wo sie bisher auch nicht präsent waren. So schätzt man, dass etwa 20 Prozent vor allem der Industrie entweder zusperren oder sich umstrukturieren müssen.“ Das wird den kroatischen Arbeitsmarkt weiter belasten. 2013 war jeder fünfte arbeitsfähige Kroate bereits erwerbslos, und die Jugendarbeitslosigkeit ist mit etwa 40 Prozent die dritthöchste hinter Spanien und Griechenland. Mit Hellas teilt sich Kroatien auch die niedrigste Beschäftigungsrate in der EU, die nur zwischen 50 und 55 Prozent der Bevölkerung liegt. Hinzu kommt, dass die Regierung kaum Geld für Konjunkturprogramme hat, weil die Staatsverschuldung inklusive Staatsgarantien, aber ohne die betriebliche Verschuldung ohnehin schon bei 72 Prozent der Wirtschaftsleistung liegt, und der Plan für das Budgetdefizit des Jahres 2013 bereits im ersten Halbjahr überschritten wurde. Angesichts all dieser Probleme und wegen des Fehlens einer klaren Reformstrategie setzte die Rating-Agentur Standard & Poors ihren Ausblick für Kroatien im August 2013 auf negativ herab. Das grundlegende Problem des Landes besteht in seiner De-Industrialisierung, die mit dem Krieg begonnen hat und sich im Grunde bis heute fortsetzt. Dazu beigetragen haben eine verfehlte Privatisierung sowie das Fehlen einer industriellen Entwicklungsstrategie, daher bezeichnete ein Kommentator Kroatien auch als „größtes europäisches Einkaufszentrum mit Zugang zum Meer“.13) Aus diesem Grund könnte Kroatien von einer wirtschaftlichen Erholung in der Euro-Zone auch kaum profitieren, erläutert Zdeslav Šantić: „Die Schwäche zeigt sich am besten daran, dass nach Albanien in dieser Region bei Kroatien die Warenausfuhr den geringsten Anteil an der gesamten Wirtschaftsleistung ausmacht. Daher haben Modelle keine Grundlage, die die Überwindung der Krise durch ausländische Nachfrage vorsehen. Alle Probleme in Kroatien bestehen bereits seit Jahren. So war die einzige bedeutende wirtschaftliche Reform der vergangenen 15 Jahre die Pensionsreform, und auch die wurde nicht bis zum Ende durchgezogen, sondern abgebrochen.“ Neben allen wirtschaftlichen Problemen hat sich Kroatien aber gleich zu Beginn seiner Mitgliedschaft politische Probleme mit Deutschland und der EU eingehandelt, die dazu beitrugen, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Teilnahme an den Beitrittsfeierlichkeiten absagte. So weigert sich die Regierung, den ehemaligen Geheimdienstoffizier Josip Perković auszuliefern, der seine Karriere im kommunistischen Jugoslawien begann und dann im unabhängigen Kroatien fortsetzte, in dem es im Grunde nie zu einem wirklichen klaren Elitenwechsel kam.14) Die deutsche Justiz wirft Perković vor, in den Mord an einem Auslandskroaten verwickelt zu sein, und hat einen Haftbefehl ausgestellt. Die EU droht Kroatien daher mit der teilweisen Blockade von Finanzhilfen, sollte die Regierung nicht einlenken. Dafür bestehen zwar nun ernsthafte Anzeichen, trotzdem macht der Fall Perković deutlich, dass manche Politiker in Kroatien erst noch lernen müssen, dass die Worte Balkan und Brüssel zwar mit demselben Buchstaben beginnen, Brüssel aber vor allem bei kleinen Mitgliedsländern eine derart offensichtliche Missachtung von EU-Recht nicht duldet. Ungeachtet dessen bleibt es der Balkan, wo Kroatien, wenn überhaupt, für die EU eine gewisse politische Rolle für „die Letzten“ spielen kann, weil seine Erfahrungen bei den Verhandlungen natürlich für andere Beitrittswerber nützlich sind. Obwohl die kroatische Wirtschaft in hohem Ausmaß „euroisiert“ ist15), bestehen kaum Chancen, dass Kroatien bis zum Ende des Jahrzehnts die Kriterien für den Beitritt zur Eurozone erfüllen wird. Schon aus diesem Grund, sind Befürchtungen völlig fehl am Platz, die EU könnte sich mit Kroatien ein zweites Griechenland eingehandelt haben. Außerdem hat Kroatien ein stabiles Bankensystem und eine Verschuldung, die deutlich niedriger ist als die Griechenlands. Ob es zur wirtschaftlich schwachen Peripherie gehören oder zum Kern gut entwickelter Staaten aufsteigen kann, wird die Zukunft weisen. 2013 erreichte Kroatiens Kaufkraft jedenfalls nur 23 Prozent des Kaufkraftniveaus in Österreich, und kroatische Experten schätzen, dass Kroatien erst 2020 wieder die Wirtschaftsleistungen des Jahres 2008 erreichen wird. Zu erwarten ist, dass die Krise in Kroatien zunächst noch zunimmt, ehe sich die Lage mittelfristig wohl bessern wird. Für jahrelang versäumte Reformen steht Kroatien in der EU nun ein schmerzlicher Anpassungsprozess bevor.


Die Affäre um den Geheimdienstoffizier Josip Perković konfrontierte Kroatien mit seiner kommunistischen Erblast und führte zu Verstimmungen mit Berlin und Brüssel


Lichtermeer zum Gedenken an die Opfer in Vukovar


VUKOVAR
Heldenstadt zwischen Krieg und Krise

Vukovar liegt an der Mündung der Vuka in die Donau, die auch die Grenze zu Serbien bildet. Die Stadt ist Siedlungsgebiet seit prähistorischer Zeit. Einer Urkunde aus dem Jahre 1231 ist zu entnehmen, dass die Region von Deutschen, Ungarn und Kroaten bewirtschaftet wurde, und nach der Volkszählung aus dem Jahre 1900 hatte Vukovar damals 10.400 Einwohner: 4.000 Kroaten, 3.500 Deutsche, etwa 1.900 Serben und 950 Ungarn. Der Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie im Jahr 1918 und insbesondere der Zweite Weltkrieg beendeten durch Mord, Flucht und Vertreibung 700 Jahre deutscher und jüdischer Siedlungsgeschichte. Um diese Tatsache kommt auch ein Büchlein in kroatischer Sprache1) nicht ganz herum, obwohl es die Ursachen für das Verschwinden dieser Teile der Bevölkerung verschweigt.

Vukovar muss während der Regierung der Habsburger eine liebliche Kleinstadt gewesen sein. Davon zeugt die historische Bausubstanz, die trotz aller Kriege und Katastrophen nicht völlig vernichtet wurde. Hervorzuheben ist das Schloss der Grafen von Eltz, das zu den schönsten Barockbauten Kroatiens zählt. Nach 1945 enteignet und bis heute nicht restituiert, beherbergt das Schloss seit 1948 das Museum der Stadt. In seinem Depot findet man auch zwei großformatige Porträts des vorletzten Kaiserpaares Franz Joseph I. und Elisabeth. 1991 im Krieg schwer beschädigt, wurde das Schloss nun wieder aufgebaut und bietet einen überwältigenden Blick über die Donau. An der Uferpromenade gibt es Cafés und Restaurants sowie das Denkmal für die Verteidiger der Stadt. Immer weniger zerstörte Bauten sind in Vukovar zu sehen; dass es sie auch fast 20 Jahre nach Kriegsende immer noch gibt, hängt damit zusammen, dass viele Eigentümer nicht mehr zu ermitteln sind. Derartige Ruinen stehen ausgerechnet in der Straße, die den Namen Franjo Tudjman trägt und damit nach dem ersten Präsidenten des unabhängigen Staates Kroatien benannt ist. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, weil man meinen könnte, dass angesichts der Verehrung, die Tudjman bis heute zuteil wird, der ehemalige Partisanengeneral und kroatische Staatsgründer eine bessere Straße verdient hätte. Während diese „Wunden“ langsam aber doch heilen, wurde die größte Bausünde offenbar beim Wiederaufbau begangen: Ein hässlicher Glasbau im Zentrum, der im Verhältnis zur Architektur aus der Zeit der Habsburger sprichwörtlich wie die Faust aufs Auge wirkt und in dem der Bürgermeister residiert.

Das größte Problem der Stadt Vukovar ist heute aber nicht die Kriegszeit, sondern die soziale und wirtschaftliche Krise, die im Grenzgebiet zu Serbien noch viel stärker zu spüren ist als in der Hauptstadt Agram oder gar in Istrien, das vom Tourismus lebt. Im Jahr 2012 verzeichnete Vukovar nach Angaben der örtlichen Zweigstelle der kroatischen Wirtschaftskammer zwar keine einzige ausländische Direktinvestition, aber eine bedeutende Privatisierung. Deshalb gibt es einige gut funktionierende Betriebe, die Landmaschinen, Kunstdünger, Pellets aus Biomasse und Leichtflugzeuge aus Holz produzieren. Diese Investitionen sind aber bisher zu gering, um den Wohlstand zurückzubringen, der vor dem Krieg herrschte, als Vukovar nach dem slowenischen Marburg zur zweitreichsten Stadt im ehemaligen Jugoslawien zählte. So beschäftigte Borovo, die größte Schuhfabrik Jugoslawiens, in den 1980er Jahren 20.000 Mitarbeiter bei einer Einwohnerzahl von 44.000. Jetzt sind es nur noch 1.000, Vukovar zählt nur mehr 28.000 Einwohner, und viele Produktionshallen sind nach wie vor Ruinen. Jeder Dritte ist Pensionist, 3.000 Bürger sind arbeitslos gemeldet, der Durchschnittslohn liegt bei 400 Euro monatlich – das ist um bis zu 50 Prozent niedriger als in Agram, während Lebensmittel kaum billiger sind. Der lokale Tourismus ist erst im Aufbau, und daher haben Reisende, die mit Donau-Kreuzfahrtschiffen anlegen, bisher nicht besonders viele Möglichkeiten, Geld in der Stadt oder in der Umgebung auszugeben. So mancher Bewohner verdingt sich im Sommer als Saisonarbeiter an der Küste, doch viele Junge, die in Agram und anderen Städten studieren, kehren nicht zurück. Also ist die Abwanderung ein offensichtliches Problem.

Gemischte Gefühle für die EU

Gedämpft sind dagegen die Erwartungen, dass die Lage durch den EU-Beitritt besser wird. So sagt eine ältere Frau:2) „Vielleicht mehr Verkehr auf der Donau, vielleicht neue Arbeitsplätze, ich weiß es wirklich nicht.“ Noch skeptischer ist ein Student: „Überhaupt nichts. Vielleicht wird die Ausbildung besser, doch das braucht Zeit.“ Ängste bestehen auch, weil Kroatien nun die CEFTA, die Freihandelszone mit den Nachbarländern Serbien und Bosnien und Herzegowina, verlassen muss. Daher sagt ein älterer Mann: „Unser Austritt aus der CEFTA wird uns mehr schaden, als uns die EU nützen kann. Ihr können wir nicht viel bieten. Unsere Landwirtschaft ist vernichtet, unsere Industrie ist in einer sehr schwierigen Lage. Die ersten Jahre werden wir von der EU keinen Vorteil haben, später vielleicht.“ Vukovar werde schon bald vom Beitritt profitieren, betont Bürgermeister Željko Sabo. Mit Mitteln aus dem EU-Fonds soll ab 2014 eine Kläranlage gebaut werden. Das Projekt koste insgesamt 48 Millionen Euro, doch das Wasser, das in die Donau rinne, werde dann Trinkwasserqualität haben.

Die Stimmung in Vukovar ist durchaus nicht untypisch für Kroatien. Zu groß sind die Sorgen des Alltags, zu groß die Krise in der EU, um dem Beitritt mit Begeisterung entgegensehen zu können. Dabei gleicht das Grundgefühl hier jenem in vielen anderen Krisenregionen im ehemaligen Jugoslawien. Doch es gibt viele Beweggründe, warum eine gewisse depressive Verfassung vorherrscht, auf die man bei Passanten im Zentrum treffen kann. So auch bei einer 60-jährigen Krankenschwester, die nach dem Krieg zunächst in Donaueschingen arbeitete, dann aber wieder an das Krankenhaus in Vukovar zurückging. Nun ist sie in Pension. Ihre Heimkehr begründet sie so: „Ich bin zurückgekommen, um meinen Vater zu finden. Er wurde mit einem Kopfschuss getötet, in die Donau geworfen und tauchte in Serbien irgendwo wieder aus dem Wasser. 13 Jahre wusste ich nicht, was mit ihm geschehen ist. Ich habe Blut für die DNS-Analyse gespendet und erst vor sechs Jahren erfuhr ich, wo er ist. Ich habe ihn zurückbekommen, um ihn hier begraben zu können.“ Die Nachwirkungen des Krieges sind also auch in den Biografien noch allgegenwärtig.

Krieg und Kriegsfolgen

Drei Monate Belagerung hatte Vukovar standgehalten, als es am 18. November 1991 eingenommen wurde. Davor fielen allein im Oktober täglich zwischen 5.000 bis 7.000 Granaten auf die Stadt, 15.000 Häuser wurden zerstört, 22.000 Bewohner flohen oder wurden vertrieben. Als die Stadt von der Jugoslawischen Volksarmee und von serbischen Milizen besetzt wurde, zählte Vukovar noch 15.000 Bewohner und etwa 2.500 Verteidiger, zu denen auch einige Bürger Kroatiens serbischer Nationalität zählten, ein Umstand, der international kaum bekannt ist. Die Zahl der Opfer beziffert die Stadt mit 4.000, darunter zunächst 1.500 Vermisste; nunmehr sind es noch etwa 400 Personen, deren Schicksal ungeklärt ist. 10.000 Menschen kamen in Lager nach Serbien, die Hälfte davon für drei bis 12 Monate; 300 dieser Gefangenen wurden ermordet.

Nach dem Fall der Stadt verübten serbische Milizen ein Massaker an 200 Zivilisten in einer nahegelegenen Schweinefarm bei Ovčar. Jahre später hatte diese Mordtat ein unrühmliches Nachspiel vor dem Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Angeklagt waren drei Offiziere der jugoslawischen Volksarmee, von denen zwei, Major Veselin Šljivančanin und Oberst Mile Mrkšić, für die Sicherheit der Gefangenen in Ovčar verantwortlich waren. Der dritte Angeklagte, Hauptmann Miroslav Radić, wurde bereits in erster Instanz freigesprochen. Mile Mrkšić wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt. Dagegen entwickelten sich die Urteile im Falle von Veselin Šljivančanin zur Justizgroteske. Wegen Verletzung des Kriegsvölkerrechts wurde er in erster Instanz Ende September 2007 zu fünf Jahren Haft verurteilt und danach auf freien Fuß gesetzt, weil er bereits seit Juli 2005 in Untersuchungshaft gesessen war. Dieses Urteil löste in Kroatien einen Sturm der Entrüstung aus, freute aber Serbien. Beim Urteil zweiter Instanz Anfang Mai 2009 war es umgekehrt, weil Šljivančanin nun zu 17 Jahren Haft verurteilt wurde. Doch das war noch nicht alles; das Verfahren wurde wieder aufgenommen, und das schließlich rechtskräftige Urteil lautete Anfang Dezember 2010 zehn Jahre Gefängnis. Ein halbes Jahr später, Anfang Juli 2011, wurde Veselin Šljivančanin freigelassen, weil er insgesamt zwei Drittel seiner Strafe verbüßt hatte. Er lebt heute in Belgrad und hat ein Buch über seine Zeit in Den Haag und über Vukovar geschrieben.3)

Der 18. November, der Fall von Vukovar, ist ein bedeutender Gedenktag in Kroatien, der in der Stadt mit einigem politischen Aufwand abgehalten wird. Doch dann herrscht wieder der triste Alltag. Von Gedenkreden und Versprechungen durch Regierungsmitglieder haben die meisten Bewohner genug, Erbitterung und Enttäuschung sind deutlich spürbar. Zum Spielball der Politik wurde Vukovar auch vor den kroatischen Lokalwahlen im Mai des Jahres 2013. Dabei ging es um den Gebrauch kyrillischer Aufschriften. Das bereits vor mehr als zehn Jahren beschlossene Gesetz über nationale Minderheiten sieht das Recht auf derartige Aufschriften vor, wenn in einer Gemeinde ein Drittel der Bevölkerung einer Minderheit angehört. Nach der Volkszählung aus dem Jahre 2011 leben in Vukovar 35 Prozent Serben und 57 Prozent Kroaten. Viele Serben betrachten bereits diese hohe Schwelle als Diskriminierung wie die pensionierte Serbisch-Lehrerin Mara Bekić-Vojnović, die vor dem Krieg am Gymnasium in Vukovar unterrichtet hat und folgender Meinung ist: „Schauen Sie sich doch nur den Prozentsatz an! 33,33 Prozent eines Volkes muss es geben, damit es das Recht auf seine Schrift bekommt – das ist reiner Chauvinismus. Wenn man sich die wilden Reaktionen darauf anschaut, weiß man, was Sache ist. Die Durchführung hängt natürlich vom Staat ab, der fast das ganze Volk gegen sich hat, und das sagt wiederum viel aus.“

Auf kroatischer Seite organisierten vor allem Veteranenverbände Demonstrationen gegen zweisprachige Aufschriften. Dagegen ist auch Tomo Jošić; er kämpfte im Krieg in Vukovar und nach dem Fall der Stadt verbrachte er neun Monate in einem Lager in Serbien. Im August 1992 wurde er gegen serbische Gefangene ausgetauscht. Anschließend arbeitete er mehrere Jahre als Krankenpfleger in Deutschland. Zum Interview trägt er ein Ruderleiberl mit der Aufschrift: „Für ein kroatisches Vukovar, nein zur kyrillischen Schrift.“ Sein Nein begründet Tomo Jošić so: „Gegen Kyrillisch haben wir eigentlich gar nichts. Das Problem ist vielmehr, wie es dazu kam. 1991 haben die Serben unsere Stadt erobert; sie haben 25.000 Personen vertrieben, 5.000 wurden ermordet; es gibt noch immer 400 Vermisste. Somit wurde mit Gewalt das ganze ethnische Bild verändert. Und jetzt zu behaupten, ein Drittel der Bevölkerung hier wäre serbisch … Wer zählt die Toten und Vermissten mit? Kein Mensch fragt danach, und deshalb sind wir gegen Kyrillisch.“

Die Mitte-Links-Regierung in Agram weiß, wie sensibel das Thema ist. Sie konnte sich bisher nur zu Lippenbekenntnissen zum Rechtsstaat aufraffen; die konservative Opposition fordert überhaupt einen vorläufigen Verzicht auf kyrillische Aufschriften. Sie beruft sich auf einen Paragrafen im Minderheitengesetz, wonach bei dessen Umsetzung zu berücksichtigen ist, dass die Anwendung auch der „Entwicklung des Verständnisses, der Solidarität, der Toleranz und dem Dialog“ zwischen Minderheit und Mehrheit zu dienen habe. Am 1. September 2013 ließen Bundesbehörden in Agram in Vukovar Aufschriften in lateinischer und kyrillischer Schrift an der Zollverwaltung und anderen Amtsgebäuden anbringen. Tags darauf zerschlugen etwa 100 kroatische Demonstranten zunächst die Amtstafeln mit Hämmern und demontierten sie anschließend. Bei der Gewaltaktion wurden vier kroatische Polizisten verletzt. An der Anbringung derartiger Tafeln will die Regierung trotzdem festhalten.


Ein Mahnmal für sinnlose Zerstörung: der Wasserturm von Vukovar


Die Schule als Beitrag zur nationalen Spaltung? Kroatische Proteste gegen kyrillische Aufschriften in Vukovar am 5. Februar 2013

Zweifellos belastet dieser Streit um die Amtstafeln das Verhältnis zwischen Serben und Kroaten. Weit dauerhafter konserviert die Spaltung jedoch das Schulsystem. Es ist ein Ergebnis des Abkommens von Erdut vom 12. November 1995, das die Reintegration Ostslawoniens, der Baranja und Westsyrmiens in das kroatische Staatsgebiet regelt. Diese Gebiete wurden zu Beginn des Kroatienkrieges Teil der international nicht anerkannten „Republik Serbische Krajina“, aus der viele Kroaten vertrieben wurden. Nach dem Sieg Kroatiens in der Militäraktion „Oluja“ (Sturm) war das Verhältnis beider Völker zwangsläufig sehr gespannt. Das wirkte sich auch auf das Schulsystem in Vukovar aus. Die Folgen beschreibt der serbische Abgeordnete im kroatischen Parlament Dragan Crnogorac: „Am Beginn der Reintegration der Stadt im Jänner 1998 haben kroatische Eltern dagegen gestreikt, dass serbische Lehrer auch kroatische Kinder unterrichten. Diese Eltern wollten auch nicht, dass serbische Lehrer in kroatischen Schulen arbeiten. Und diese Situation hat sich nicht geändert. Vukovar hat sechs Grundschulen; in drei davon gibt es Unterricht auf Serbisch und in kyrillischer Schrift. In den anderen drei gibt es keine fünf Serben, die dort beschäftigt wären. Somit ist es klar, dass die kroatische Mehrheit keine Serben im Bildungssystem wünscht.“

Die Grundschule Nikola Andrić ist ein Beispiel für die Trennung unter einem gemeinsamen Dach. 300 Kinder besuchen diese Schule, jeweils die Hälfte sind Kroaten und Serben. Die erste Besonderheit dieser Schule ist bereits das Gebäude, das auch 18 Jahre nach Kriegsende noch immer Einschusslöcher aufweist, durch die bewusst oder unbewusst Kinder und Lehrer wohl ständig an die Vergangenheit erinnert werden. Der Unterricht wird vollständig in Sprache und Schrift der nationalen Minderheit abgehalten. Den Lehrplan erstellt der kroatische Staat. Natürlich lernt die nationale Minderheit auch die kroatische Schriftsprache, doch es gibt zusätzlich vier Stunden Unterricht in serbischer Sprache pro Woche; im Rahmen der anderen Gegenstände wird auf Geschichte, Geografie, bildende Kunst und Musik der Minderheit eingegangen. Diese strikte Trennung wird vor allem im Falle der serbischen Volksgruppe praktiziert, während bei anderen Minderheiten (Albaner, Tschechen, Ungarn) der Unterricht viel integrierter erfolgt, von der besonderen Pflege von Kultur und Muttersprache abgesehen. Nach Angaben des Schuldirektors, Željko Kovačević, sind zwar die Klassen nach Kroaten und Serben getrennt, Schulveranstaltungen finden aber gemeinsam statt. Probleme bei der Verständigung gibt es nicht, weil Kroatisch und Serbisch im Grunde eine Sprache ist, ein Umstand, der es einem Serben natürlich viel schwerer macht, seine nationale Identität zu bewahren als einem Albaner, der eine völlig andere Sprache spricht. Kovačević betont, dass es noch nie Konflikte auf nationaler Grundlage gegeben habe; allerdings gibt es auch erst seit dem Jahre 2012 ein gemeinsames Konferenzzimmer für kroatische und serbische Lehrer.

Nach einer Untersuchung der philosophischen Fakultät der Universität in Agram, Abteilung für Psychologie4), befürwortet noch immer eine Mehrheit aller Eltern den getrennten Unterricht. Unterschiedlich ist allerdings die Zustimmung; waren im Jahre 2007 noch 68 Prozent der kroatischen und 66 Prozent der serbischen Eltern für die sprachliche Teilung, so sind es jetzt nur mehr 55 Prozent der kroatischen aber 75 Prozent der serbischen Eltern. Eine Erklärung für diese Entwicklung ist in der Studie nicht zu finden. Klar sind aber ihre Schlussfolgerungen: „Die Schule in Vukovar bildet nur den gesellschaftlichen Kontext ab, in dem sie sich befindet. Vukovar entwickelte sich nach dem Krieg als geteilte Gemeinschaft, wobei die Kontakte zwischen Serben und Kroaten hauptsächlich beiläufig und oberflächlich sind. Das betrifft insbesondere die Kinder, die keine Erfahrung damit haben, in einer gut integrierten, multiethnischen und ungeteilten Stadt zu leben, wie das vor dem Krieg der Fall war. Der zwischen-ethnische Kontakt in den Schulen wird ihnen zusätzlich erschwert durch die getrennten Klassen, und dieser Kontakt erfährt außerhalb der Schule weder Anreize noch Ermutigung.“

Abgesehen von vielen Eltern sind auch viele Lehrer für eine Segregation Doch ihnen geht es weniger um die Nation als um den Arbeitsplatz; denn von einem getrennten Schulsystem profitieren eher serbische Lehrer, die bei der Einstellung Priorität genießen. Umstritten ist, ob bei Einstellungen in Polizei, Justiz und Verwaltung Serben benachteiligt werden. Der Bürgermeister von Vukovar, Željko Sabo, bestreitet eine Diskriminierung. Bei der Lokalwahl im Mai wurde der Sozialdemokrat im Amt bestätigt, wohl auch mit serbischen Stimmen, denn für die Minderheit sind nach dem Streit um kyrillische Aufschriften konservative kroatische Parteien kaum wählbar. Željko Sabo ist gegen das getrennte Schulwesen, sieht aber Fortschritte im Zusammenleben der beiden Ethnien. Die Trennung in serbische und kroatische Cafés oder in serbische und kroatische Sportklubs sei viel geringer geworden, betont Sabo. Tatsächlich zählt der lokale Fußballklub „Vuteks“ zu den positiven Beispielen. Der Klub spielt zwar nur in der vierten kroatischen Liga, doch um den Aufstieg kämpfen Serben und Kroaten gemeinsam, und der Trainer der Mannschaft ist ein Kroate.

„Radio Donau“ ist das populärste Radio der Stadt, obwohl der Sender Serbisch verwendet und viele Popgrößen aus Serbien spielt. Zum Erfolgsrezept sagt der Direktor von „Radio Donau“, Branislav Bijelić: „Unser Programm ist deshalb erfolgreich, weil wir von der Politik nicht belastet sind; außerdem haben die Menschen von politischen und nationalen Konflikten und von Intoleranz genug. Unsere Themen umfassen alles, was die Bürger Vukovars berührt und müht. Unser Glück ist, dass viele, insbesondere die Jugend, diese Art von Musik lieben, und daher haben wir unsere Hörerschaft.“