Im Kreuzfeuer

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Für Immi, Michi und Sissy

sowie für meinen väterlichen Freund Kurt

Christian Wehrschütz

Im Kreuzfeuer

Am Balkan zwischen

Brüssel und Belgrad

Molden

ISBN 978-3-99040-154-5

© 2009 by Molden Verlag

in der Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG

Wien · Graz · Klagenfurt

www.molden.at

Buchgestaltung: Bruno Wegscheider

Umschlagfoto: ORF

Lektorat und Herstellung: Marion Mauthe

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

Alle Rechte vorbehalten


Inhalt

Cover

Zitat

Titel

Impressum

Anstatt eines Vorworts: Balkan-Experten, Journalisten und andere Scharlatane

1. Der Balkan: Zwischen Gebirgszug, Pulverfass und Klischee

2. Der Balkan und seine Bedeutung für Österreich

3. Der Weg nach Lipovac – Kroatiens serbische Hauptstadt

4. Josip Broz Tito: Der „gute“ Diktator und seine Nachwirkungen

5. „Točno – Tačno“

6. Im Kreuzfeuer Mazedonien

7. Der 5. Oktober 2000 –Serbiens große Stunde

8. Zoran Đinđić – Gefallen auf unmöglicher Mission?

9. Bosnien und Herzegowina – der Staat, den keiner wollte

10. Der Kosovo – Problemzone des Balkans

11. Der 17. März und die Unruhen im Kosovo

12. Slowenien und die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs

13. Der Leidensweg der „Ausgelöschten“in Slowenien

14. Das Haager Tribunal – ein notwendiges Übel mit vielen Schönheitsfehlern

15. Mazedonien: Zwischen Alexander, Athen und Brüssel

16. Der Grenzstreit um die Bucht von Piran

17. Montenegro: Das „bessere“ Serbien auf dem Weg zur Nation

18. Albanien: „Shqipëria po ndryshon“ – Albanien wandelt sich

19. Ex-Jugoslawien auf dem Weg Richtung EU

20. Die Kroaten von Janjevo

21. Nikola Tesla – ein österreichisches Schicksal?

22. Joca Amsterdam – eine kriminelle Karriere

23. Die Haggadah aus Sarajevo – ein faszinierendes Buch

24. „Die letzte Brücke“ als erste Brücke

Nachwort von Immanuela Wehrschütz „Ein Journalist ist nur so gut wie sein privates Telefonbuch“

Personenregister

Weitere Bücher

Anstatt eines Vorworts: Balkan-Experten, Journalisten und andere Scharlatane

Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Platon, Apologie des Sokrates1)

„Schreib’ ein Buch! – Schreib’ Dein Buch!“ Diese Aufforderung habe ich umso öfter vernommen, je länger ich am Balkan tätig war. Dass ich diesen Band erst jetzt vorlege, hat mit meiner Berufsauffassung zu tun. Es ist besser einen guten Artikel als einen schlechten Aufsatz zu schreiben, und natürlich halte ich es für besser einen guten Aufsatz als ein schlechtes Buch zu verfassen. Gute Kenner des Balkans2) haben ihre Bücher daher erst nach langjähriger Tätigkeit geschrieben. Sie alle zählten nicht zu den Journalisten und selbsternannten Experten, die Länder oder Regionen besuchen und dann nach kurzem Aufenthalt ein Buch darüber schreiben, obwohl sie nicht einmal der Landessprache mächtig sind. Wer würde einen Ingenieur eine Brücke bauen lassen, der kaum die vier Grundrechnungsarten beherrscht? Zu den Grundrechnungsarten eines im Ausland tätigen Journalisten zählt die Sprachkenntnis. Wie seriös kann die Beurteilung eines Landes ausfallen, wenn der betreffende Journalist nicht in der Lage ist, sich selbst ein Taxi zu bestellen? Am Balkan habe ich nicht nur einmal erlebt, dass Übersetzer schlecht oder sogar sinnentstellt übersetzt haben. Hinzu kommt, dass die Landessprache die Voraussetzung für das Eindringen in Kultur und Mentalität fremder Völker ist. Die Achtung gebietet es, zuerst die Sprache zu erlernen, wenn man länger im Ausland lebt, und diese Anstrengung wird wahrlich honoriert. Außerdem sind Taxifahrer und Durchschnittsbürger oft weit bessere Quellen als Politiker, die Journalisten natürlich auch manipulieren wollen. Die Grundvoraussetzung der Sprachkenntnis haben selbst Vertreter renommierter angelsächsischer Medien oft nach Jahren am Balkan noch nicht erfüllt, wie ich aus eigenem Erleben weiß. Die Hochachtung, ja Ehrerbietung, die diesen Medien teilweise entgegengebracht wird, habe ich weder teilen noch verstehen können. Darüber hinaus habe ich bei Pressereisen am Balkan immer wieder die Erfahrung gemacht, dass sich Journalisten schlecht oder gar nicht vorbereiten; das gilt auch für grundlegende Kenntnisse der Politik der EU gegenüber dem Westbalkan. Dieses Verständnis fehlte etwa westlichen Kollegen bei einer Pressereise nach Montenegro im Juni 2009, obwohl dies nicht an die Kenntnis einer Balkan-Sprache gebunden ist. Sich mit westlichen Diplomaten und Botschaftern zu treffen oder mit diesen – vielleicht noch von daheim aus – zu telefonieren, ist jedenfalls zu wenig, zumal auch am Balkan Vertreter der internationalen Gemeinschaft dieselben Schwächen aufweisen, die ich bei Journalisten erlebt habe. Die Basis seriöser Berichterstattung besteht in Sprach- und Landeskenntnis, im Leben im Zielland und in der Einhaltung journalistischer Grundprinzipen, die sehr klar und einfach sind, offensichtlich aber nichtsdestotrotz zu oft missachtet werden.

Doch selbst wenn die Sprachkenntnis und der Wille, hart zu arbeiten, gegeben sind, bestehen bei der Beurteilung der Zielländer eines Korrespondenten zwei große Herausforderungen: die eine ist das Informationsproblem, die andere der Zugang zu Entscheidungsträgern. Das Informationsproblem besteht zum einen in der enormen Menge zugänglicher Quellen. Jeden Tag erscheinen in Serbien zehn Tageszeitungen, die mir der Austräger um sechs Uhr in der Früh bringt. Mit dem Lesen dieser Blätter beginnt mein Arbeitstag; doch auch in allen anderen Balkanländern,3) die in meinen Zuständigkeitsbereich fallen, erscheinen Tageszeitungen. Hinzu kommen zahlreiche Wochenmagazine, Agenturen, elektronische Medien und die regelmäßigen Berichte meiner Produzenten in all diesen Ländern. Am Laufenden zu bleiben ist somit harte Arbeit, denn die Aufgabe eines Journalisten ist sehr oft die Beschreibung komplexer Sachverhalte unter enormem Zeitdruck und bei stets zu geringer Sendezeit.

Doch noch wichtiger als die Informationsverarbeitung ist die richtige Bewertung der Informationen. So wäre vielleicht der Anschlag in New York am 11. September 2001 zu verhindern gewesen, hätte jemand die Information richtig bewertet, die darin bestand, dass jedenfalls einer Attentäter bei seiner Pilotenausbildung offensichtlich keinen Wert darauf legte, sein Flugzeug auch landen zu können. Die richtige Beurteilung der Lage erfordert auch einen entsprechenden Zugang zu Entscheidungsträgern und ihrer Umgebung, die allerdings ebenfalls Fehleinschätzungen unterliegen können. So soll der serbische Ministerpräsident Vojislav Koštunica bis zum Vorliegen des Ergebnisses des Unabhängigkeitsreferendums nicht geglaubt haben, dass sich Montenegro tatsächlich von Serbien lösen wird. Ein Fehlschluss, dem ich nicht unterlegen bin. Trotzdem ist es wichtig, im entscheidenden Augenblick, die richtige Telefonnummer wählen zu können. Doch Kontaktpflege zu Entscheidungsträgern ist im Ausland noch viel schwieriger, weil Korrespondenten für Politiker und führende Unternehmer natürlich weniger relevant sind als die Medien des eigenen Landes.

 

Trotzdem sind Journalisten in der Regel selten zugegen, wenn hinter verschlossenen Türen wichtige Entscheidungen fallen. Ein Paradebeispiel dafür war und ist die Suche nach Radovan Karadžić und Ratko Mladić, den wichtigsten mutmaßlichen Kriegsverbrechern im ehemaligen Jugoslawien. Von Radovan Karadžić behauptete nicht einmal mehr das Haager Tribunal, dass er in Serbien sei; zum Glück bin ich Karadžić, der als Wunderheiler Dr. Dabić in Serbien öffentlich auftrat, nie begegnet, erkannt hätte ich ihn sicher nicht. Von seiner Verhaftung wurden alle überrascht, denn derartige Aktionen müssen geheim bleiben, damit sie erfolgreich sein können. In diesem Sinn werden wir alle auch von einer Verhaftung von Ratko Mladić überrascht sein, sollte sie gelingen. Doch relevante Informationen über seinen Verbleib haben wir Journalisten nicht, oder diese Informationen sind bereits einige Jahre alt. Nicht einmal seinen möglichen Gesundheitszustand kennen wir, denn seine militärische Krankenakte hat das Tribunal zwar erhalten, aber nie veröffentlicht. Mladićs Gesundheitszustand ist jedoch wichtig für die Frage, in welchem Ausmaß der Gesuchte (ärztliche) Leistungen in Anspruch nehmen muss, die zu seiner Verhaftung führen können. Alle Beiträge über Mladić aller Journalisten beruhten somit bisher entweder auf einem Faktenwissen, das schon einige Jahre alt ist, oder auf Spekulationen, die aber durchaus eine reale Grundlage haben können.

Unser Wissen ist begrenzt, und das Wissen darum ist ganz im Sinn von Sokrates der beste Selbstschutz vor Überheblichkeit und Irrtümern. Daher habe ich mich stets gegen die Bezeichnung „Balkan-Experte“ gewehrt, weil ich dem Experten-Unwesen sehr kritisch gegenüberstehe. In unserer säkularisierten Welt hat der Experte den Kirchenmann als „unfehlbare Instanz“ abgelöst. Daher gibt es Experten für alle Lebenslagen oder Personen, die sich von den Medien zu diesen gern stempeln lassen, weil Eitelkeit eine zutiefst menschliche Untugend ist. Diese Feststellungen sollen den Leser nicht dazu verleiten, das Buch beiseite zu legen oder sich darüber zu ärgern, das Buch gekauft zu haben. Vielmehr soll der Leser wissen, dass es mit journalistischer Demut, nach bestem Wissen und Gewissen und nach zehnjährigem Aufenthalt am Balkan geschrieben wurde, über den ich bisher mehr als 3.200 Radio- und TV-Beiträge sowie Artikel für Tageszeitungen verfasst habe. Darüber hinaus war ich bestrebt, den Leser hinter die Kulissen blicken zu lassen und ihm einen Eindruck über die Tätigkeit eines Korrespondenten zu vermitteln.

Ein Bonmot besagt, dass Autoren so vielen Personen wie möglich danken sollen, damit die Bedankten eine moralische Verpflichtung fühlen, das Buch zu kaufen, und so den Absatz steigern. An diesen „Grundsatz“ habe ich mich nicht gehalten. Mein Dank gilt jedoch dem Molden-Verlag und seiner Lektorin Marion Mauthe für die Betreuung und die stete Aufmunterung, die Arbeit zu einem guten Ende zu führen. Von Herzen danke ich auch meiner jüngeren Tochter Immanuela, die ebenfalls alle Kapitel gegengelesen hat. Zu Dank verpflichtet bin ich natürlich meinem Arbeitgeber ORF, der nicht zuletzt durch sein Korrespondentennetz zeigt, dass er den Auftrag eines öffentlich-rechtlichen Mediums ernst nimmt. Mein herzlicher Dank gilt auch allen meinen Mitarbeitern im Büro Belgrad sowie in meinen Zielländern. Gemeinsam haben wir Herausforderungen bestanden und Gefahren gemeistert, von denen auch dieses Buch berichtet, die jedoch nur jener wirklich ermessen kann, der selbst „In den Schluchten des Balkan“ unterwegs war oder in anderen Krisenregionen als Korrespondent tätig gewesen ist.

Belgrad, im Herbst 2009Christian Wehrschütz

Anmerkungen

1) Die geläufige Übersetzung von „oîda ouk eidōs“ trifft nicht den Sinn der Aussage. Wörtlich übersetzt heißt der Spruch „Ich weiß als Nicht-Wissender“ bzw. „Ich weiß, dass ich nicht weiß“. Das ergänzende „-s“ an „nicht“ ist ein Übersetzungsfehler, da die Phrase „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ auf Altgriechisch dann „οἶδα οὐδὲν εἰδώς (oída oudén eidós)“ heißen würde. Das geflügelte Wort ist als Verkürzung der Verteidigungsrede des Sokrates entlehnt, die Platon in seinem Werk „Apologie“ überliefert hat. Wörtlich heißt es dort:

„Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas Tüchtiges oder Sonderliches wissen, allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht, ich scheine also um dieses Wenige doch weiser zu sein als er, dass ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen.“

Die Apologie und andere Werke Platons habe ich selbst gelesen. Den Hinweis auf die fehlerhafte Übersetzung verdanke ich folgender Quelle: http://de.wikipedia.org/​wiki/​Ich_weiß, _dass_ich_nichts_weiß!

2) Zu diesen Kennern zähle ich Andreas Graf Razumovsky und Viktor Meier. Die Werke beider Journalisten, „Ein Kampf um Belgrad“ und „Wie Jugoslawien verspielt wurde“, kann ich dem interessierten Leser nur empfehlen.

3) Zuständig bin ich für Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Serbien, Mazedonien, den Kosovo und Albanien.

1.

Der Balkan: Zwischen Gebirgszug, Pulverfass und Klischee


Wie sicher ist die Lage im ehemaligen Jugoslawien?:

Bei einer Reportage über die Entminung nach den Balkankriegen

Der Begriff „Balkan“ hat nicht nur geografische, sondern auch zivilisatorische Bedeutung und war – auch politisch – großen Wandlungen unterworfen. Sie sind ein Produkt der politischen Umwälzungen im Europa des 20. Jahrhunderts; dagegen blieb die zivilisatorische (Ab-)Wertung, die mit dem Balkan-Begriff verbunden ist, weitgehend konstant. Zu den Konstanten zählt auch die Tatsache, dass der Balkan seit dem Zerfall seiner kurzlebigen mittelalterlichen Reiche nie Subjekt, sondern nur stets Objekt und auch Opfer der Politik europäischer und anderer Großmächte war und ist. Charakteristisch für diese Region ist die Vielzahl seiner Völker auf kleinem Raum, ohne dass sich jemals eine wirklich dominante Nation herausgebildet hätte. Hinzu kommt noch die Koexistenz von Islam und Christentum; die seit der Spätantike bestehende Teilung in West- und Ostrom (Byzanz) führte in weiterer Folge zur Teilung in katholische und orthodoxe Christen. Damit verbunden waren und sind beträchtliche Unterschiede in Kultur und Mentalität; sie hat die jahrhundertelange Zugehörigkeit zu den zwei führenden Mächten am Balkan, zum Habsburger-Reich und zum Osmanischen Imperium noch zusätzlich verstärkt. Diese beiden Imperien führten auch dazu, dass die Bildung von Nationalstaaten am Balkan erst sehr spät erfolgte und im ehemaligen Jugoslawien erst mit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovos im Februar 2008 als vielleicht abgeschlossen betrachtet werden kann.

Die territoriale Definition des Balkans ist zunächst das Ergebnis einer Fehleinschätzung des Berliner Geografen Johann August Zeune aus dem Jahr 1808. Zeune übernahm die Vorstellungen antiker Geografen, die geglaubt hatten, der Balkan (türkisch: Gebirge) erstrecke sich vom Schwarzen Meer bis zu den slowenischen Alpen. Doch eine derart vorherrschende Stellung wie der Apennin für die italienische Halbinsel, hatte das Balkangebirge für die Balkanhalbinsel nie.1) Als andere Geografen diesen Fehler erkannten, war es im Grund zu spät, der Begriff hatte sich bereits eingebürgert. An seiner Stelle wird nun öfter Südosteuropa verwendet, ein Begriff, der zivilisatorisch neutral ist, sich aber noch nicht wirklich durchgesetzt hat.2)

Die beträchtliche Nordverschiebung, die der Balkan begrifflich und zivilisatorisch binnen einhundert Jahren erlebte, zeigt auch ein Blick auf Karl Mays Romane. Bezeichnend ist schon der Sammelbegriff „Orienterzählungen“, unter dem jene sechs Bücher3) zusammengefasst sind, zu denen die Werke „Durch das Land der Skipetaren“ und „In den Schluchten des Balkan“ zählen. Geografisch spielen die Abenteuer im heutigen albanisch-montenegrinischen Grenzgebiet, im Kosovo, in Mazedonien, Bulgarien und in der Türkei. Die Karten in den Umschlaginnenseiten enthalten vorwiegend (türkische) Ortsbezeichnungen („Kalkandelen“ für Tetovo), erschienen diese Bücher doch zwischen 1881 und 1888. Viele dieser Namen sind vor allem im heutigen ehemaligen Jugoslawien praktisch verschwunden, und nicht nur die Reisekostenstelle des ORF hätte wohl erheblich Verständigungsprobleme, sollte ich ihr mitteilen, dass ich nach meinem Urlaub nun wieder in den Orient zurückgekehrt sei. Karl Mays Karten spiegeln eben die politischen Grenzen seiner Zeit wider, und bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war Belgrad auch Grenzstadt. Daher gehörten natürlich weder die Vojvodina zu Serbien noch Kroatien zum Balkan.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war am Balkan durch den schrittweisen Zusammenbruch der Osmanischen Herrschaft geprägt.4) Einen weiteren Rückzug brachten die Balkankriege 1912/13.5) Das Ende des Ersten Weltkriegs und der Zusammenbruch des Osmanischen Reichs sowie der Habsburger-Monarchie führten zur Gründung des SHS-Staates, des späteren Königreichs Jugoslawien6). Diesem Staat gehörten nunmehr auch Slowenien und Kroatien an. Von Randprovinzen der Donaumonarchie wurden Slowenien und vor allem Kroatien zu wesentlichen Faktoren im neu geschaffenen Staat. Gleichzeitig wurde damit aber auch das politische Zentrum von Wien nach Belgrad und damit in den Südosten verschoben. Das erste Jugoslawien bestand knapp mehr als 20 Jahre; doch dieser Zeitraum reichte offensichtlich aus, um die Frage nach der kulturellen und geografischen Zugehörigkeit Kroatiens entstehen zu lassen. Einen eindeutigen Beleg dafür bilden die 1956 erschienenen Erinnerungen von Hermann Neubacher.7) Seine Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Balkans leitet Neubacher mit einer Anekdote ein:

„Adolf Hitler fragte mich einmal, ob ich Kroatien zum Balkan rechne, und ich war erstaunt über seinen Verlust an k.u.k österr.-ungarischem Raumgefühl. Im allgemeinen nimmt die Neigung, den Donauraum hinter Wien zum Balkan zu rechnen, nach dem europäischen Westen hin zu, und die Meinung, daß Ungarn ein Balkanstaat sei, hat schon viele Magyaren erbittert. … Für den Kroaten österreichisch-ungarischer Prägung beginnt der Balkan hinter der ehemaligen österreichisch-ungarischen Militärgrenze ….“

Für Neubacher ist unbestritten, dass Kroatien nicht zum Balkan gehört. Dieser Meinung ist auch heute noch die überwiegende Mehrheit der Kroaten, doch 45 Jahre Tito-Jugoslawien lassen sich nicht ungeschehen machen. Legt man als Maßstab die balkanischen Stereotype an (Bürokratie, Korruption), so ist auch Kroatien ein Teil des Balkans,8) wobei festzustellen bleibt, dass auch im ehemaligen Jugoslawien auf den jeweils südöstlich liegenden Nachbarn gern heruntergeschaut wird. „Sto juznije to tuznije“ – „Je südlicher desto trauriger“ lautet denn eine weitverbreitete Redensart. Politisch ist Kroatien auf jeden Fall seit dem Zerfall des Tito-Staats am Balkan angekommen.9) Dazu beigetragen haben vier Jahre Krieg gegen den serbischen Aggressor, der das Land ebenso schädigte wie die nationalistische Politik des Staatsgründers Franjo Tuđman. Sie führte das Land in die außenpolitische Isolation, die etwa fünf Jahre dauerte. Nach der Abkehr von dieser Politik kosteten Probleme bei der Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal Kroatien weitere sieben Monate,10) und die Beitrittsgespräche mit der EU begannen erst im Oktober 2005. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät, noch zu Rumänien und Bulgarien aufschließen zu können, die am 1. Jänner 2007 der EU beigetreten sind. Diese Aufnahme erbitterte viele Kroaten, die der EU unterschiedliche Standards vorwarfen, was die Bewertung der Beitrittsreife betrifft.

 

Kroatien blieb somit in der Gruppe der Westbalkanstaaten, die alle auf dem Weg nach Brüssel weit hinter Agram liegen. Doch auch wegen der Krise in der EU und wegen des Grenzstreits mit Slowenien könnte sich die Schlagzeile einer kroatischen Tageszeitung als verfrüht erwiesen haben. Sie begrüßte den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit den Worten: „Bye Bye Balkan.“ Dahinter steht nicht nur die Angst vor einer Neuauflage einer Art Jugoslawien, sondern auch der Wunsch, statt mit einer Staatengruppe aufgenommen zu werden, aus dieser einen Gruppe endlich herauszutreten, die Kroaten und Europäische Union eigentlich als rückständig betrachten. Während Jugoslawien unter Tito international ein anerkannter Staat und im Kalten Krieg ein wichtiger politischer Faktor war, haben die Zerfallskriege und ihre Gräueltaten alle jene Vorurteile wieder zum Leben erweckt, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Bild des Balkan prägten. So hatte man während der Kriege der 1990er Jahre bis hin zum Massaker an etwa 8.000 Bosniaken in Srebrenica durchaus den Eindruck, dass das „Pulverfass Balkan“ nicht den „Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert“ sei, wie das Bismarck aus seiner Zeit und seiner Sicht einst durchaus richtig formuliert hatte.

Doch die negativen Klischees über den Balkan reichen weit über das rein Kriegerische hinaus. Korruption, fehlender Rechtsstaat und Kriminalität zählen ebenso zu den Stereotypen, die auch der Erfolgsautor Karl May nicht unwesentlich mitgeprägt haben dürfte.11) So schreibt May über den „Kampf gegen die Organisierte Kriminalität“ am Balkan:12)

„Auf der Balkanhalbinsel hat das Räuberunwesen niemals gesteuert werden können: ja gerade in den gegenwärtigen Tagen berichten die Zeitungen fast ununterbrochen von Aufständen, Überfällen, Mordbrennereien und anderen Ereignissen, die auf die Haltlosigkeit der dortigen Zustände zurückzuführen sind.“

Die Schattenseiten der türkischen Rechtspflege in entlegenen Gegenden des Reiches charakterisiert May so:13)

„Unter den dortigen Verhältnissen ist es nicht zu verwundern, dass da, wo die verschiedenen, zuchtlosen, sich ewig befehdenden Stämme der Skipetaren ihre Wohnsitze haben, von einem wirklichen ,Recht‘ fast gar nicht gesprochen werden kann. Bei Ostromdscha beginnt das Gebiet dieser Skipetaren, die nur das eine Gesetz kennen, dass der Schwächere dem Stärkeren zu weichen hat. Wollten wir nicht den Kürzeren ziehen, so mussten wir dieses Gesetz auch für uns in Anspruch nehmen.“

Mehr als 100 Jahre und einige Kriege später werde ich heute immer noch gefragt, wie sicher die Lage im ehemaligen Jugoslawien nun eigentlich ist, ob es gefährlich oder ohne Probleme möglich ist, in die Region zu reisen. Meine Antwort lautet stets, es ist gefährlich, allerdings wegen der Fahrweise der Bewohner, die im Westbalkan wirklich zu wünschen übrig lässt. Natürlich haben sich vor allem die Völker des ehemaligen Jugoslawien und Albaniens ihr schlechtes Image weitgehend selbst zuzuschreiben. Trotzdem ist westliche Überheblichkeit keinesfalls angebracht, weil die EU und ihre Mitglieder oft selbst jene Standards nicht erfüllen, die sie am Balkan einführen wollen. Wo sind Medienfreiheit und unabhängige Berichterstattung besser entwickelt: am Westbalkan mit seinen vielen ausländischen Medienkonzernen oder im Italien Silvio Berlusconis? Als in Slowenien die konservative Regierung mit der Brechstange versuchte, Medien unter ihre Kontrolle zu bringen, gingen viele Journalisten mit einer Petition auf die Barrikaden, die europaweit Beachtung fand. Die Regierung verlor wenige Monate später auch deshalb die Wahl, wobei für mich Slowenien überhaupt ein positives Beispiel für eine lebendige Demokratie ist, die viel mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten bietet als in vielen anderen EU-Staaten.

Nach mehr als 40 Wahlen, die ich im ehemaligen Jugoslawien begleitet habe, muss ich mich doch fragen, wo demokratische Standards mehr zu wünschen übrigen lassen: in Albanien, Serbien oder in den USA – wenn man sich etwa an all die Probleme erinnert, die bei der ersten Wahl von George W. Bush offenbar geworden sind. Wer kontrolliert eigentlich in den USA, ob die Standards besser geworden sind, und vor allem welche Wirkung entfaltet dort ein kritischer Bericht internationaler Wahlbeobachter, der in Albanien wenigstens nicht sofort schubladisiert werden kann, weil dieses Land der EU beitreten will? Im Wahlkampf in Albanien erklärte mir die kleine, von Studenten getragene Oppositionspartei G 99, die konservative Regierung sei allein wegen Schmiergeldzahlungen beim Bau der Autobahn an die Grenze zu Kosovo untragbar. Außerdem sei der Bau viel teurer gewesen als geplant. Ich dachte an den Wiener Flughafen und musste wieder einmal zum Schluss kommen, dass die kritische Berichterstattung über Mängel und Missstände am Balkan einem nicht gerade leicht gemacht wird. Trotzdem ist eine derartige kritische Berichterstattung freilich unerlässlich; denn natürlich kann es nicht das Ziel der EU sein, die in diversen EU-Staaten herrschenden niedrigsten Standards als Maßstab für die Aufnahme neuer Mitglieder zu verwenden, wie das vielleicht bei der Aufnahme von Rumänien und Bulgarien teilweise der Fall war.

Trotzdem will ich mich nicht mit der Erkenntnis abfinden, dass der Balkan in Wien am Rennweg14) beginnt und sich immer stärker Richtung Norden und Westen ausbreitet. Diese Entwicklung beklagte Alexander Vodopivec in seinem Buch „Die Balkanisierung Österreichs“15) bereits vor mehr als 40 Jahren auf eindrucksvolle Weise:

„Balkan – das war einmal gleichbedeutend mit Unverläßlichkeit, Lethargie, Korruption, Verantwortungsscheu, Mißwirtschaft, Verwischung der Kompetenzen und Grenzen in der Rechtsordnung und noch einiges mehr. Der Begriff beschränkte sich ursprünglich auf die Südoststaaten Europas. Eine nicht eben erfreuliche Entwicklung hat ihn jedoch aus seinen geographischen Grenzen herausgelöst. Vieles von dem, was seinen Inhalt ausmacht, ist in einer Art Westwanderung Bestandteil der österreichischen Politik geworden. Für diesen Prozeß wurde hier das Wort Balkanisierung gewählt; ihn zu schildern, setzt sich dieses Buch zum Ziel.“

Was würde Vodopivec heute schreiben (müssen)? Mich erfüllt jedenfalls nach zehnjähriger Tätigkeit als Korrespondent der Eindruck mit Sorge, dass wir anstelle einer dynamischen Europäisierung des Balkans eine weit raschere Balkanisierung Europas erleben, die der realen Ausbreitung der Balkan-Stereotypen immer weniger Grenzen setzt. Gerade deswegen ist der Titel meines Buches „Im Kreuzfeuer – Am Balkan zwischen Brüssel und Belgrad“ durchaus hintergründig und zweideutig gemeint.