Loe raamatut: «Im Kreuzfeuer», lehekülg 4

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Anmerkungen

1) Grenzstadt zwischen der Monarchie und dem Königreich Serbien war bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Zemun, das nun ein Vorort von Belgrad ist. Zemun ist das historische Semlin, das im „Prinz-Eugen-Lied“ als jener Platz besungen wird, von dem aus Prinz Eugen 1717 Belgrad angriff „alle Türken zu verjagen ihn’n zum Spott und zum Verdruß“.

2) Die Daten über die Kriegszeit und über die aktuelle Lage in Lipovac und der Gemeinde Nijemci stammen aus einem Gespräch des Autors mit Bürgermeister Ivica Klein. Die Angaben zur Bevölkerungsentwicklung in Srem/Srijem entstammen der Aufsatzsammlung „Identitet Srijema u prošlosti i sadašnjosti“, herausgegeben in Nijemci im Dezember 2008.

3) Das Paradoxe dieses Prozesses liegt darin, dass die sogenannte internationale Staatengemeinschaft in allen ihren Einsätzen im ehemaligen Jugoslawien stets das moralische Banner der Multiethnizität vor sich hertrug und in abgeschwächter Form im Kosovo und in Bosnien und Herzegowina noch immer vor sich herträgt. Übrig blieben im ehemaligen Jugoslawien jedoch national weitgehend homogene Staaten mit teilweise fragwürdigen Minderheiten-Gesetzgebungen. Die einzigen Ausnahmen bilden in gewisser Weise ausgerechnet Serbien und Montenegro mit einem noch relevanten Anteil an Ungarn und Albanern sowie an Bosniaken und Albanern. Bosnien und Herzegowina hat drei konstitutive Völker (Bosniaken, Serben und Kroaten), Mazedonien mit einem Albaner-Anteil von 25 Prozent hat eigentlich ebenfalls zwei Staatsvölker. Die tatsächlichen Rechte der übrigen nationalen Minderheiten sind vor allem in Bosnien praktisch nicht vorhanden, weil alle relevanten Ämter nur den drei Völkern offenstehen.

4.

Josip Broz Tito: Der „gute“ Diktator und seine Nachwirkungen


Tito lebt in der Erinnerung der älteren Generation fort: Im Tito-Mausoleum

Das Haus der Blumen (Kuća cveća) liegt neben einer stark befahrenen Straße auf einer Anhöhe im Belgrader Nobelbezirk Dedinje. An der Straße bin ich oft vorbeigefahren, ohne Titos letzte Ruhestätte zu beachten, denn im Alltagsleben der Serben und in der Tagespolitik spielt der Schöpfer des zweiten Jugoslawien keine Rolle mehr. Doch 2005, zu Titos 25. Todestag, drehten wir einen Beitrag über sein verblichenes Erbe, und so stiegen mein Drehteam und ich die Stufen hinauf, die zum Mausoleum führen. Zunächst galt es, sich bei den beiden Männern auszuweisen, die in einem Wächterhäuschen auf halber Höhe zum Mausoleum unsere Personalien kontrollierten. Der Marschall und jugoslawische Diktator Josip Broz Tito (1892–1980) liebte Blumen, und zu seinen Lebzeiten habe es in dem Anwesen noch viel mehr davon gegeben, versichern die Wachebeamten im „Museum für Jugoslawische Geschichte“, wie das Haus nun heißt. Die Formalitäten sind rasch erledigt, und wir steigen die restlichen Stufen zu Titos letztem Wohnsitz hinauf; vor uns steht im Gras eine große, eherne Figur, die den Marschall in Schrittbewegung und grübelnder Pose zeigt, rechts führt der Weg hinein zum Mausoleum. Vor allem am 4. Mai, an Titos Todestag, ist es der Wallfahrtsort für alle „Jugo-Nostalgiker“, denn im Wintergarten des Hauses der Blumen hat Tito in einem massiven Sarg aus weißem Marmor mit Blick über Belgrad seine letzte Ruhestätte gefunden. Die Besucher kommen aus allen Teilrepubliken des ehemaligen Jugoslawien; vereinzelt haben sie nicht nur ihre Kinder, sondern sogar ihre Enkel mitgebracht, tragen alte Uniformen und Orden. Gemeinsam ist ihnen nicht nur die Trauer um Tito und seinen zerfallenen Staat, sondern auch die Liebe zur Verschwörungstheorie, die den Westen für das blutige Ende des Tito-Staates verantwortlich macht.

Titos Staatsbegräbnis am 8. Mai markierte wohl das bedeutendste Stelldichein der Weltspitze des Jahres 1980 und vielleicht auch eines der höchstrangig besetzten Staatsbegräbnisse des 20. Jahrhunderts. Der sowjetische Diktator Leonid Breschnew war ebenso anwesend, wie der Vizepräsident der USA, Walter Mondale, denn das blockfreie Jugoslawien genoss in der Zeit des Kalten Krieges Bedeutung und Ansehen wie niemals zuvor und auch niemals wieder danach. Wie sehr das Bewusstsein für diese Bedeutung gerade in Serbien verloren gegangen ist, symbolisiert vielleicht recht eindrucksvoll das Schicksal seiner Witwe Jovanka Broz. Jahrelang lebte sie in einer Wohnung in Belgrad ohne nennenswerte staatliche Zuwendung, völlig zurückgezogen und fast wie eine Gefangene. Erst im Sommer 2009 erhielt sie Pass und Personalausweis vom serbischen Innenminister Ivica Dačić. Verschwunden sind in Belgrad und in Serbien praktisch auch alle Straßenbezeichnungen, die an Tito erinnern. Zu finden sind sie bezeichnenderweise noch im albanisch dominierten Preševo-Tal in Südserbien, wo in der gleichnamigen Stadt die Hauptstraße noch immer Titos Namen trägt. Das Straßenschild ist zweisprachig auf Serbisch und Albanisch: Ulica Maršala Tita/Rruga Mareshali Tito.

Ausgestellt sind im Haus der Blumen der Schreibtisch des Diktators, einige seiner Uniformen und die Stafetten, die Pioniere durch das ehemalige Jugoslawien trugen und schließlich Tito übergaben. Dieser Stafettenlauf der Jugend durch das ehemalige Jugoslawien sollte die Einheit des Landes symbolisieren, war aber auch Teil des Personenkults, der um Tito betrieben wurde. Der Stafettenlauf fand von 1945 bis 1987 statt, überdauerte also Titos Tod um sieben Jahre und wurde erst drei Jahre vor Beginn des blutigen Zerfalls des Vielvölkerstaates abgeschafft. Er bestand aus den Teilrepubliken Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Mazedonien und den zwei autonomen Provinzen Kosovo und Vojvodina. Zu den interessantesten Exponaten zählt das „Gästebuch“, in das sich die Besucher von Titos letzter Ruhestätte noch immer eintragen können. Etwa 150.000 Personen kommen jährlich an Titos Grab, sagen mir die Wachebeamten. Viele tragen sich auch in das dicke Buch ein, das praktisch nur Lobeshymnen auf Tito enthält. Lesen kann man da etwa folgende Texte: „Sei gegrüßt, Genosse Tito“; „Du bleibst für immer in meinem Herzen, denn ich habe Dir 15 Monate (in den Streitkräften) gedient“; „vielen Dank für meine schönste Kindheit und Jugend“ oder „teurer Tito, so lange Du gelebt hast, war alles schön. Nach Dir war nichts mehr von Wert“.

All diese Einträge können jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass fast 30 Jahre nach Titos Tod vom Schöpfer der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien in der Tagespolitik der Nachfolgestaaten kaum mehr etwas übrig geblieben ist. Denn die Losung „Brüderlichkeit und Einigkeit“ ging in den Zerfallskriegen am Balkan unter, und Umfragen belegen die großen Vorbehalte, die die Völker gegeneinander hegen – die organisierte Kriminalität ausgenommen. Um diese Vorbehalte zu erkennen, bedarf es nur eines offenen Auges, etwa bei sportlichen Wettkämpfen wie dem Spiel zwischen der kroatischen und der türkischen Fußballnationalmannschaft bei der Europameisterschaft in Wien. In der Stadt Mostar in Bosnien-Herzegowina, hielten die Kroaten für das kroatische Team, die muslimischen Bosniaken jedoch für die Türkei. Um Ausschreitungen zu verhindern, war ein Großaufgebot der Polizei im Einsatz, trotzdem kam es zu Zusammenstößen. Vor dem Krieg soll Mostar die Stadt mit der größten Zahl gemischter Ehen zwischen Kroaten, Bosniaken und Serben gewesen sein. Während der kroatische und der bosniakische Stadtteil nur mühsam zusammenwachsen, sind die Serben seit dem Krieg aus Mostar praktisch verschwunden. Die Lage in Mostar und der Zerfall Jugoslawiens sind das Ergebnis des Scheiterns von Titos Nachfolger an der wirtschaftlichen und politischen Transformation eines kommunistischen Einparteienstaates, der durch die Person Titos, durch den Partisanenmythos, durch die Armee und von außen durch die Blockkonfrontation zusammengehalten wurde. Der Fall der Berliner Mauer und die Implosion der Sowjetunion ließen somit die Bedeutung Jugoslawiens schwinden; die Welt stand zunächst im Bann ganz anderer Ereignisse, denn auch der erste US-Krieg gegen den Irak fiel in die Zeit des jugoslawischen Dramas, das Europa offensichtlich völlig unvorbereitet traf, obwohl Streitkräfte und Geheimdienste immer wieder Szenarien durchgespielt hatten, wie es nach Titos Tod weitergehen könnte. Trotzdem dürfte die blutige Form des Zerfalls keineswegs zwangsläufig gewesen sein, doch sein Ereignis war so gravierend, dass es Titos Erbe im Bewusstsein der Masse der Bevölkerung unter sich begrub. Nicht zu unterschätzen ist natürlich auch der Zahn der Zeit, denn fast 30 ereignisreiche Jahre haben neue Generationen heranwachsen lassen, die mit ganz anderen Problemen des täglichen Lebens konfrontiert sind als mit Tito und seinem Wirken.

Trotzdem lebt in der älteren Generation noch die Erinnerung an den Roten Pass fort, der den Jugoslawen ein visafreies Reisen in praktisch alle Staaten der Welt ermöglichte. Diese Tatsache spielt vor allem in den Nachfolgestaaten eine Rolle, die wie Serbien noch bis Ende 2009 von der „Papierologie“ der Visaerteilung betroffen sind. Diese Prozedur wird von den Betroffenen als persönliche Erniedrigung empfunden. Viele erinnern sich auch noch an die recht guten Gehälter, die mit relativ wenig Arbeit verdient wurden. Die Nostalgie steigt natürlich mit dem Grad der wirtschaftlichen und sozialen Probleme in den Nachfolgestaaten und dürfte damit in Slowenien und Kroatien am geringsten sein, obwohl keine Umfragedaten zu diesem Thema bekannt sind. Viele Einzelgespräche, die ich etwa in Serbien führen konnte, vermitteln den Eindruck, dass die Erfolge und Misserfolge der aktuellen Regierungen weniger an der Ära des serbischen Autokraten Slobodan Milošević, sondern viel mehr am Lebensstandard im Tito-Jugoslawien gemessen werden. Dieser Blickwinkel macht es freilich jeder Regierung schwer, erfolgreich zu sein, zumal der Kommunismus in Jugoslawien von der breiten Bevölkerung – anders als in vielen Staaten Osteuropas – nicht als gescheitertes Experiment empfunden wird.

Je stärker der Tito-Kult verblasste, je mehr der Partisanen-Mythos aus Geschichts- und Schulbüchern verschwand, desto stärker traten die dunklen Seiten Titos und seines Regimes zum Vorschein, die in der Zeit des Kommunismus unterdrückt, verschwiegen und natürlich auch weder gelehrt noch unterrichtet wurden. In diesem Zusammenhang geht es nicht so sehr um die Vertreibungsverbrechen an den etwa 500.000 Deutschen, die nach dem Ersten Weltkrieg die größte Minderheit im Königreich Jugoslawien bildeten. Vielmehr geht es um die Verbrechen, die kommunistische Partisanen während des Zweiten Weltkriegs und als neue Machthaber in der Zeit danach verübten.

Das Symbol für diese Verbrechen ist die Gemeinde Bleiburg in Kärnten; dort erinnert ein Denkmal an jene Kroaten, die von den Briten nach Kriegsende an die Partisanen ausgeliefert wurden. Die meisten von ihnen wurden in Slowenien ermordet, doch zu den Opfern zählten natürlich nicht nur Kroaten, sondern auch Montenegriner, Serben, slowenische Domobranzen, Angehörige der deutschen Minderheit, Soldaten der Deutschen Wehrmacht, Kärntner, die aus Südkärnten verschleppt wurden, sowie einfache slowenische Bürger, die Gegner der Kommunisten waren. Welches „Schlachthaus“ das kleine Slowenien damals war, zeigt der Umstand, dass slowenische Historiker bisher etwa 570 Massengräber entdeckt haben; die meisten stammen aus der Zeit unmittelbar nach Kriegsende. Wie viele Opfer in diesen Massengräbern verscharrt wurden, steht noch nicht fest, doch schätzt die Wissenschaft, dass es etwa 100.000 sein könnten; einigermaßen gesicherte Angaben liegen nur zu den slowenischen Opfern vor. Nach Angaben von Historikern in Laibach,1) hatte Slowenien während des Zweiten Weltkriegs (1941–1945) 80.000 Opfer zu verzeichnen; 14.500 Slowenen wurden nach Kriegsende ermordet; davon waren 13.000 Soldaten (Domobranzen), der Rest waren Zivilisten. Die Zahl der während des Kriegs in Slowenien ermordeten Personen war somit niedriger als in den ersten Monaten danach.

Zu den Staatsfeinden, die Tito und seine siegreichen Kommunisten während des Kriegs und nach ihrem Sieg ermordeten und bekämpften, zählten auch die Kirchen; sie waren die einzigen Kräfte, die außerhalb der Kommunistischen Partei noch über eine Organisation und über ein geistiges Gegenkonzept verfügten. In Slowenien dokumentierte diesen Kampf im Herbst 2007 eine Ausstellung im Museum für Zeitgeschichte in Laibach unter dem Titel „Der Kampf gegen Glaube und Kirche 1945 bis 1961“. Gestaltet hat die Ausstellung die Historikerin Tamara Griesser Pečar. Nach ihrer Darstellung kamen während des Kriegs 47 Geistliche auf slowenischem Boden um, 46 wurden von den Kommunisten/Partisanen ermordet. Bei Kriegsende gab es etwa eintausend Geistliche in Slowenien; mehr als 400 Prozesse fanden gegen sie statt, mehr als 300 Geistliche wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Nach dem Verbot des Religionsunterrichts an den Schulen im Jahr 1952 griff die Staatsmacht auch zu anderen Mitteln, um die Kirche zu schwächen. So wurden 1.411 Bestrafungen gegen Geistliche ausgesprochen, darunter sehr oft hohe Geldstrafen. Doch auch Kirchen, Friedhöfe und andere kirchliche Objekte wurden zerstört. 2005 schrieb Tamara Griesser Pečar auch ein Buch mit dem Titel „Die Kirche auf der Anklagebank“,2) das bisher jedoch nur in slowenischer Sprache vorliegt.

Doch der Kampf der kommunistischen Partisanen richtete sich natürlich nicht nur gegen die katholische, sondern auch gegen die serbisch-orthodoxe Kirche. Zwischen April 1941 und Mai 1945 wurden nach einem Bericht der Heiligen Erzsynode3) 481 orthodoxe Geistliche ermordet; davon 84 von den deutschen Besatzungsmächten, 171 von den kroatischen Ustaša und 150 von den Partisanen. Nach dem offiziellen Kriegsende verloren weitere 63 Priester ihr Leben, 62 davon durch Partisanen. Von den insgesamt 544 Opfern gehen somit 213 auf das Konto der Partisanen.

Diese Darstellung hat nicht den Zweck, die Geschichte Jugoslawiens während des Zweiten Weltkriegs in Kurzform zu skizzieren. Daher habe ich an dieser Stelle nur zwei Beispiele aus Slowenien und Serbien gewählt, um zu zeigen, in welchem Ausmaß das Tito-Regime auf dem Weg zur Macht und in den ersten Jahren danach blutbefleckte Hände hatte – ein Umstand, der auch in der westlichen Geschichtsschreibung bis heute viel zu kurz kommt; der Kampf der Partisanen war eben nicht nur ein Kampf gegen die Besatzer, sondern hatte auch den Charakter eines Bürgerkriegs. Für die weitere Geschichte des Balkans und den Zerfall Jugoslawiens sollte dieser Umstand eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen, auf die ich in einem anderen Kapitel noch eingehen werde. Ich möchte hier jedoch aufzeigen, dass das kommunistische Jugoslawien sehr wohl von Beginn an und auch im Lauf seines mehr als 40-jährigen Bestehens seine Opfer und Gegner hatte, für die die Lebensgeschichte vieler Dissidenten ein Beispiel bildet.

Diese Gegner ändern nichts daran, dass sich zweifellos die Mehrheit der Bevölkerung mit Tito und seinem eigenständigen Weg identifizieren konnte, zumal nach der Absetzung von Aleksandar Ranković als jugoslawischer Innenminister und Chef des Sicherheitsapparats im Jahr 1966 auch eine deutliche Mäßigung des Regimes einsetzte. Außerdem erreichte die Bevölkerung einen Lebensstandard, der weit über jenem lag, der in den entwickeltsten Ländern des Ostblocks herrschte. Erreicht wurde dieser Standard nicht zuletzt durch den Tourismus, durch den ständigen Geldstrom der Gastarbeiter sowie durch die außenpolitische Schaukelpolitik zwischen Ost und West, die Tito nach dem Bruch mit Stalin 1948 auch westliche Hilfe bescherte.

Hinzu kommt das große internationale Ansehen, das Jugoslawien unter Tito genoss, dessen Dissidenten – mit Ausnahme vielleicht von Milovan Đilas – in der westlichen Presse nie jene „Popularität“ erreichten oder gar gegen das Tito-Regime in Stellung gebracht wurden, wie das bei der Sowjetunion der Fall war. Hinzu kommt, dass in seiner reiferen Phase natürlich auch der Kommunismus jugoslawischer Prägung nicht mit dem sowjetischen Totalitarismus gleichgesetzt werden darf.

Diese Differenzierung ist jedoch für die Opfer der Verfolgungen in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg und für deren Hinterbliebene ebenso wenig ein Trost wie für jene Personen, die später als politische Gegner verfolgt oder schikaniert wurden. Denn eine juristische Aufarbeitung dieser Taten oder gar eine Entschädigung der Opfer ist bisher praktisch nicht erfolgt, obwohl es etwa in Slowenien oder Serbien zu Rehabilitierungen von Personen kam, die nach 1945 von der kommunistischen Justiz und vom Staatssicherheitsdienst verfolgt wurden. Diese Verfolgung erstreckte sich auch auf die Diaspora, ein Kapitel, mit dem sich westliche Historiker bisher in viel zu geringem Ausmaß befasst haben.

Stützen konnten sich Tito und sein Regime zweifellos auch auf das Image des (Mit-)Siegers im Zweiten Weltkrieg, das den Teilrepubliken Slowenien und Kroatien nicht unerhebliche Gebietsgewinne einbrachte. Hinzu kam der Rückhalt in den neu gebildeten, beziehungsweise wieder erstandenen Teilrepubliken Mazedonien und Montenegro. In der Zeit des Königreichs Jugoslawien wurde Mazedonien als Südserbien bezeichnet, während Montenegro nach dem Anschluss an Serbien nach dem Ende des Ersten Weltkriegs als Staat von der Landkarte überhaupt verschwunden war. Unter Tito kehrte Montenegro als Teilrepublik des kommunistischen Jugoslawien wieder auf die Landkarte zurück und erhielt seine Institutionen, nicht aber seine autokephale Kirche zurück. Diese Autokephalie wurde mit Hilfe der Kommunisten in Mazedonien in den 1960er Jahren aus der Taufe gehoben, doch die mazedonische Orthodoxie ist auch mehr als 40 Jahre später von der serbischen Orthodoxie nicht anerkannt worden; daher ist der Kirchenstreit noch immer ungelöst.

Die Nachfolgestaaten

Ihre heutigen Grenzen – und in gewisser Weise ihre Existenz – verdanken die meisten Nachfolgestaaten, also Slowenien, Kroatien, Mazedonien, Montenegro und der Kosovo dem kommunistischen Jugoslawien. Das sind historische Faktoren, die natürlich die Bewertung Titos beeinflussen und einer Enttitoisierung Grenzen setzen. Das zeigt das Beispiel Slowenien sehr deutlich. Dort setzte mit dem Sieg der konservativen Koalition unter Ministerpräsident Janes Janša im Herbst 2004, in zeitgeschichtlicher, innenpolitischer und gesellschaftlicher Hinsicht die Enttitoisierung ein, wie viele zeitgeschichtliche Ausstellungen4) in Slowenien belegen. Unter „Enttitoisierung“ werden dabei nicht nur die Demokratisierung, sondern auch die umfassende Transformation des Gesellschafts- und Parteiensystems sowie der vom Kommunismus geprägten Mentalität der Bevölkerung verstanden. So wird etwa privates Unternehmertum und Wohlstand oft mit Bereicherung und Korruption assoziiert, also negativ gesehen, und auch das Arbeitsrecht in so manchen Nachfolgestaaten Jugoslawiens weist durchaus noch kommunistische Züge auf.

Entscheidend für die Frage von Kontinuität und Diskontinuität ist nicht zuletzt das Schicksal der Nachfolgeparteien des Bundes der Kommunisten in den ehemaligen Teilrepubliken. Die Transformation zu Sozialistischen und Sozialdemokratischen Parteien weist hier große regionale Unterschiede auf; der Erfolg der Transformation sowie die politischen Fähigkeiten der handelnden Personen entschieden dabei auch über Verlust oder Erhaltung der Macht. Am erfolgreichsten war dabei Montenegro. Symbol dafür ist der 1962 in Nikšić geborene Milo Đukanović. 1979 wurde er Mitglied des Zentralkomitees des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens, und mit 29 Jahren – mit Unterstützung des serbischen Autokraten Slobodan Milošević – jüngster Ministerpräsident in Europa. Dieses Amt übte er bis 1998 aus; anschließend war er bis 2002 Präsident Montenegros und von 2003 bis 2006 wiederum Ministerpräsident, ein Amt, das Đukanović kurzfristig abgab, um in diese Funktion im Februar 2008 zurückzukehren.

Ebenso eindrucksvolle Beispiele für große persönliche Kontinuität gepaart mit politischer Diskontinuität sowie für den Wandel vom kommunistischen Saulus zum nationalistischen Paulus finden sich auch in Slowenien und Kroatien in Milan Kučan und Franjo Tuđman. Der 1941 geborene Milan Kučan wurde 1986 Vorsitzender des Bundes der Kommunisten Sloweniens, und von 1991 bis 2002 war er Präsident des unabhängigen slowenischen Staates. Zwar konnten sich in Slowenien die Post-Kommunisten (ZLSD) nach der Unabhängigkeit nicht als führende Kraft behaupten; doch abgesehen von einem kurzen politischen konservativ-katholischen Zwischenspiel in den Jahren 1990 bis 1992 und von Juni bis November 2000, kamen zwar die Post-Kommunisten nicht wieder an die Macht; trotzdem gelang keine konservative Wende, denn die Linke konnte sich in Form der 1994 gegründeten Liberaldemokratischen Partei bis zu den Wahlen im Herbst 2004 an der Macht halten, und in deren Koalitionsregierungen waren bis auf ein Kabinett die Post-Kommunisten ständig vertreten. Der Machtwechsel erfolgte erst, nachdem Slowenien mit dem Beitritt zu EU und NATO endgültig in den euroatlantischen Gemeinschaften angekommen war.

Noch tiefer als in Slowenien reicht in Kroatien die persönliche Biografie des Symbols der Unabhängigkeitsbewegung in die kommunistische Ära zurück. Der 1922 geborene Franjo Tuđman war aktiver Teilnehmer an der „antifaschistischen Partisanenbewegung“ und General der Jugoslawischen Volksarmee, ehe er sich in den 1970er Jahren zum Regimegegner und kroatischen Nationalisten wandelte. Nach 1987 warb er massiv bei der Diaspora um Unterstützung für die Unabhängigkeit und gründete 1989 in Kroatien die HDZ, die „Kroatische Demokratische Gemeinschaft“. Diese Partei stellte eine völlig neue politische Kraft dar; ihr Aufstieg dürfte vor allem dem Umstand zu verdanken sein, dass es die kroatischen Kommunisten nicht verstanden, sich an die Spitze der Unabhängigkeitsbewegung zu stellen. Die HDZ siegte bei den ersten Wahlen in Kroatien, bei denen Parteienpluralismus herrschte. In weiterer Folge führte Tuđman Kroatien durch Krise wie Krieg und verhalf seinem Land zum Sieg über die serbische Okkupation der von Serben bewohnten Teile Kroatiens. Durch seine nationalistische Politik brachte er Kroatien aber auch in die außenpolitische Isolation. Zum Machtwechsel kam es erst unmittelbar nach Tuđmans Tod, und eine Mitte-Links-Koalition unter Führung der Sozialdemokraten begann erste Reformen. Sie erreichte auch eine Verbesserung der Beziehungen zum Westen, nicht zuletzt durch eine Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal. Doch diese Koalition verlor die Parlamentswahl im Herbst 2003 und unter Ivo Sanader kehrte eine erneuerte national-konservative HDZ als stärkste Partei in einer Mitte-Rechts-Regierung an die Macht zurück. Sanaders größte politische Leistung ist es, die HDZ transformiert und auf einen klaren euroatlantischen Kurs gebracht zu haben. Größter Erfolg in dieser Hinsicht war 2009 die Aufnahme Kroatiens in die NATO, während der Beitritt zur EU vor allem wegen des Grenzstreits mit Slowenien noch einige Jahre auf sich warten lassen könnte.

Wie die Beispiele Slowenien und Kroatien zeigen, lässt sich eine dauerhafte Stabilisierung im ehemaligen Jugoslawien unter anderem nur erreichen, wenn zwei Grundvoraussetzungen gegeben sind: Die eine ist ein politischer Konsens über die zentralen außenpolitischen Ziele als Grundlage für eine konsistente Reformpolitik; die zweite Grundvoraussetzung ist die erfolgreiche Transformation des Parteiensystems. Das gilt sowohl für nationalistische Parteien, die im Zuge des Zerfalls des alten Jugoslawien entstanden sind, aber natürlich auch für die kommunistischen Parteien in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien. Während Slowenien und Kroatien Beispiele für eine erfolgreiche Transformation dieser beiden Parteientypen sind, bildet Serbien das Gegenbeispiel, weil in diesem Land bisher weder die Transformation der Sozialistischen Partei (SPS) noch der ultranationalistischen Serbischen Radikalen Partei (SRS) als abgeschlossen bezeichnet werden kann. Der Einfluss der SRS geht seit 2008 durch die Abspaltung des gemäßigten Flügels allerdings zurück. Trotzdem hat in Serbien auf vielen Gebieten vielleicht die umfassendste Abkehr von Tito stattgefunden.

Serbien war neben Montenegro der älteste Staat im ehemaligen Jugoslawien. Doch – wie bereits erwähnt – verlor Montenegro seine staatliche Existenz nach dem Ersten Weltkrieg durch den Anschluss an Serbien und sogar der Name verschwand; dagegen waren Serbien und seine Dynastie der Karađorđević die führende Macht im Königreich Jugoslawien. Die Monarchie war in der serbischen Bevölkerung tief verankert, die Kommunisten waren schwach, und nach der Niederlage gegen das Deutsche Reich im April 1941 waren die königstreuen Četniks als Widerstandsbewegung gegen die Besatzungsmächte in Serbien wohl zunächst weit stärker als die Tito-Partisanen. Auf diesen Umstand verweist auch Hermann Neubacher5), der als Sonderbeauftragter des Reichsaußenministeriums ab 1943 auch für Serbien zuständig war:

„Serbien war, als ich meine Mission antrat, eine der schwächsten Positionen des Balkan-Kommunismus. Der überwiegend agrarische Charakter des Landes (über 80 Prozent bäuerliche Bevölkerung) verwies den Kommunismus auf die wenigen Industriegebiete und auf die Hauptstadt Belgrad, wo die Universität ein Hauptstützpunkt der KP geworden war. Das Bauerntum dieses Landes war patriarchalisch, gegen Neuerungen zutiefst mißtrauisch, durch Jahrhunderte türkischer Hörigkeit zum verschlagenen, hartnäckigen Widerstand bis zur Meisterschaft erzogen. Ich sah in diesem serbischen Bauerntum eine der stärksten Positionen gegen die Bolschewisierung des Balkans und stellte daher die Beendigung der bisherigen Sündenbock-Politik Serbien gegenüber in den Mittelpunkt meiner politischen Planung. Das bedeutet aber – und daraus möge man die Schlüsselstellung der Serben auf dem Balkan ermessen – nicht weniger als eine weitgehende Revision der deutschen Politik im Südostraume.“

Unabhängig davon, ob diese Einschätzung in der zweiten Hälfte des Kriegs noch zutreffend war oder nicht, konnte der Oberösterreicher Neubacher beim Oberösterreicher Hitler in Berlin diese Neuorientierung der Serben-Politik nicht durchsetzen; trotzdem wurde Neubachers Ansatz von den kommunistischen Partisanen offensichtlich als Bedrohung empfunden. So heißt es in der Anklageschrift des Militärprokurators beim Belgrader Kreisgericht von 1951 gegen Neubacher:6)

„Die Grundlinie Neubachers bestand darin, zwecks Schwächung der Partisanenbewegung die Politik eines Groß-Serbien mit Hilfe Nedićs wieder aufleben zu lassen, die Verräter Draža Mihailović und Ljotić zur Mitarbeit zu gewinnen und gegenüber Serbien eine Politik der Durchführung der Sühnemaßnahmen auf eine neue Art zur Anwendung zu bringen … Bei dieser Gelegenheit änderte er die alten Bestimmungen über die Durchführung der Sühnemaßnahmen, die politisch fehlerhaft und schädlich für die Interessen des faschistischen Deutschland waren.“

35 Jahre später sollte dieses Thema noch eine Rolle spielen, und zwar im berühmten „Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste“ aus dem Jahr 1985. Über die Vertretung von Serben in der kommunistischen Führung während des Zweiten Weltkriegs heißt es in dem Memorandum7):

„Während des Krieges war Serbien bei der Verabschiedung von Beschlüssen, welche die zukünftigen zwischennationalen Beziehungen und die jugoslawische Gesellschaftsordnung bestimmen sollten, nicht vollkommen gleichberechtigt beteiligt. Der Antifaschistische Rat Serbiens wurde in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 gegründet, also später als in den anderen Teilrepubliken, die Kommunistische Partei Serbiens sogar erst nach Kriegsende.“

Das Gefühl, wirtschaftliches und politisches Opfer im kommunistischen Jugoslawien gewesen zu sein, zieht sich durch das gesamte Memorandum und die gesamte Schrift. Schwaches Serbien und starkes Jugoslawien – dieses (vermeintliche) Credo Titos spiegelt auch die kommunistische Verfassung aus dem Jahr 1974 wieder. Sie sah sechs Teilrepubliken (Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Mazedonien und Serbien) und zwei autonome Provinzen (Kosovo und Vojvodina) vor. Diese Gliederung empfanden Teile der intellektuellen Elite Serbiens offensichtlich als Ungerechtigkeit, wie die Publikation8) der Serbischen Akademie der Wissenschaften zeigt:

„Obwohl Serbien nach Größe und Einwohnerzahl die größte der Teilrepubliken ist, verlor es mit der Verfassung aus dem Jahre 1974 wichtige Attribute der Staatlichkeit. Die Gefahr der Desintegration bedrohte nicht nur Jugoslawien, sondern auch Serbien. Die beiden autonomen Provinzen Serbiens, ausgestattet mit den realen Rechten der Teilrepubliken, schränkten Serbien bei der Verabschiedung von selbständigen und für das Funktionieren der Republik wirksamen Beschlüssen ein. Die Provinzen bildeten sogar Koalitionen mit den restlichen Teilrepubliken, weshalb Serbien regelmäßig auf Bundesebene in der Minderheit war. Dieses eigenartige Phänomen lässt sich leicht deuten, wenn man den ausschlaggebenden Einfluss von Tito, dem Kroaten, und Kardelj, dem Slowenen, auf die Zusammensetzung des Führungskaders in den Provinzen bedenkt.“

Als diese Bewertung 1996 in deutscher Sprache gedruckt wurde, war es bereits fast zehn Jahre her, dass Slobodan Milošević bei der berühmten „Achten Sitzung“ des Zentralkomitees der serbischen Kommunisten im September 1987 seinen Mentor Ivan Stambolić entmachtet hatte. Als Aufstiegshilfe diente Milošević die Kosovo-Frage, dessen Autonomie er ebenso beseitigte wie die der Vojvodina. Unter Milošević wurde das Mehrparteiensystem in Serbien eingeführt, und aus den Kommunisten wurde im Juli 1990 die Sozialistische Partei Serbiens. Doch der einsetzende Parteienpluralismus führte nicht zu umfassender Demokratisierung, sondern zu einer Welle des serbischen Nationalismus und zum blutigen Zerfall des Tito-Staates, eine Entwicklung für die Milošević und sein System zweifellos die Hauptverantwortung, aber keineswegs die Alleinverantwortung tragen.

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