Loe raamatut: «Im Kreuzfeuer», lehekülg 5

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„Rest-Jugoslawien“

Zehn Jahre später, am 5. Oktober 2000 stürzte Milošević; er wurde am 28. Juni 2001 an das Haager Tribunal ausgeliefert – dem Veitstag, also dem Tag der Schlacht am Amselfeld (1389), dem Tag der Ermordung von Franz Ferdinand in Sarajevo (1914), dem Tag des Ausschlusses der Kommunistischen Partei Jugoslawiens aus der Komintern (1948) und nicht zuletzt am selben Tag, an dem 1989 Milošević am Amselfeld zum 600. Jahrestag der Schlacht eigentlich eine recht banale Rede gehalten hatte. Doch von dem versprochenen „himmlischen Serbien“ blieb nach Kriegen, zehntausenden Toten, hunderttausenden Flüchtlingen und Vertriebenen sowie Krisen nur ein weitgehend ruiniertes Land übrig. Die endgültige Auflösung des Tito-Staates war damit aber noch nicht erreicht, denn noch bestand die Bundesrepublik Jugoslawien, gebildet von den ungleichen „Brüdern“ Serbien und Montenegro; ungeklärt war auch der Status des Kosovos, der nach dem NATO-Krieg des Jahres 1999 unter UNO-Verwaltung stand.

Doch die Beseitigung „Rest-Jugoslawiens“ erwies sie als zähe Angelegenheit, obwohl an den Tito-Staat in Belgrad nur mehr Straßennamen erinnerten und erinnern (Sarajevo Straße, Zagreber Straße). Die EU war mehrheitlich gegen die Auflösung des „Rests“, Serbien leistete hinhaltenden Widerstand, und Montenegro war in der Frage der Unabhängigkeit tief gespalten. Zunächst verschwand daher der Staatsname und zwar im Februar 2003 mit der Bildung des Staatenbundes Serbien und Montenegro. Dieser „Untote“ vegetierte drei Jahre dahin, ehe er mit dem Unabhängigkeitsreferendum in Montenegro im Mai 2006 zur Fußnote der Geschichte wurde. Doch weder die Loslösung Montenegros noch die Unabhängigkeitserklärung des Kosovos im Februar 2008 musste Milošević erleben, denn er starb im März 2006 in seiner Zelle in Den Haag.

Der Tod ihres Vorsitzenden bedeutete vor allem für die SPS eine wichtige Zäsur. Denn nach Miloševićs Sturz stürzten auch seine Sozialisten in eine tiefe Krise, und bei den folgenden Parlamentswahlen in Serbien konnte die Fünf-Prozent-Hürde immer nur knapp gemeistert werden. Milošević hatte den Begriff „sozialistisch“ zutiefst diskreditiert, und seine Frau Mira Marković hatte mit ihrer Phantompartei der „Jugoslawischen Linken“ (JUL) ebenfalls ihr Scherflein dazu beigetragen. Die JUL gebärdete sich als kommunistische Bewegung, doch vor der Parteizentrale parkten die deutschen Luxusautos ihrer Spitzenfunktionäre, weil die Partei vorwiegend aus Personen bestand, die im Milošević-System zu Macht und Reichtum gekommen waren, während die Serben zunehmend verarmten. Serbien fehlte in den Jahren der beginnenden Transition eine starke sozialdemokratische/ sozialistische Partei, die für die Armen, Arbeitslosen und für die Opfer der Reformen eintrat. Dieses Vakuum füllte in immer stärkerem Ausmaß die ultranationalistische Radikale Partei (SRS) aus, die Miloševićs Koalitionspartner gewesen war.

Miloševićs eigene Partei wurde dagegen zunächst immer mehr zu einer Randerscheinung. Ihre Wählerschaft ist ziemlich alt und lebt in der Provinz und zwar in kleinen Städten. Diese Wähler sind keine Nationalisten, sondern „Milošević-Nostalgiker“, wobei Milošević zu Beginn seines Aufstiegs von nicht wenigen für einen neuen Tito gehalten wurde. Zu den Wählern der SPS zählen daher viele alte Kommunisten und pensionierte Offiziere niedriger Dienstgrade. Die Existenz der Sozialisten war damit eindeutig bedroht, daher gab es bereits zu Lebzeiten von Milošević zaghafte Ansätze für einen Transformationsversuch; als solcher ist die Unterstützung der Minderheitsregierung des nationalkonservativen Ministerpräsidenten Vojislav Koštunica zu werten (Kabinett Koštunica I, Februar 2004 bis Mai 2007). Letzterer kann wohl als politischer Träger der Enttitoisierung in Serbien bezeichnet werden, die mit nationalistischen, großserbischen Vorzeichen unter Slobodan Milošević begann. Diese Neuinterpretation der Geschichte, die Serbien praktisch nur als Opfer Titos sah, führte auch zu einer völligen Abkehr von der antifaschistischen Traditionslinie, die das alte Jugoslawien in die Reihe der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs gestellt hatte. Diese geistige Abkehr zeigte sich auch in der Tagespolitik; daher fehlten unter Koštunica mehrmals Vertreter Serbiens bei Feiern anlässlich des Sieges über Deutschland oder aus Anlass der Befreiung eines Konzentrationslagers. Folgerichtig fällt in die Zeit des Kabinetts Koštunica I auch ein weiterer Schritt der Enttitoisierung Serbiens. So wurden per Gesetz die ehemaligen Četniks den Partisanen in sozialrechtlicher Hinsicht gleichgestellt.

Doch richtig beginnen konnte die Transformation der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS) erst nach Miloševićs Tod. Die Anrede „Genosse“ tauchte in den Wahlkämpfen wieder auf, und Arme, Pensionisten sowie „soziale Gerechtigkeit“ wurden als Zielgruppen und Themen entdeckt. Die SPS will nun eine moderne Linkspartei sein und in die Sozialistische Internationale aufgenommen werden. Wie groß die Chancen für eine rasche Aufnahme sind, ist offen, denn vor allem in den sozialdemokratischen Parteien des ehemaligen Jugoslawien regt sich massiver Widerstand. Mittelfristig ist die Aufnahme wohl wahrscheinlich, weil die Sozialisten gemeinsam mit den pro-europäischen Kräften in Serbien nun eine Regierung gebildet haben. Dieses Kabinett hat zum ersten Mal die berechtigte Chance, volle vier Jahre zu halten, und Serbien nahe an die EU heranzuführen.

Die europäische Perspektive und die Chance der SPS nun international „salonfähig“ zu werden dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Sozialisten bisher jede Bereitschaft vermissen ließen, mit der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit zu beginnen. Im Gegenteil: Im Wahlkampf für die Parlamentswahl im Frühsommer 2008, wurde Milošević weiter als Werbeträger jedenfalls für die eigenen Funktionäre eingesetzt. Nicht zu erwarten ist eine Vergangenheitsbewältigung – sollte sie nicht von außen eingefordert werden – auch wegen der personellen Kontinuität der Führung. So war der SPS-Vorsitzende, der 1966 geborene Ivica Dačić, von 1992 bis 2000 Pressesprecher der Milošević-Sozialisten, und die sozialistische Parlamentspräsidentin war unter Milošević in führenden Parteifunktionen tätig. Prüfstein für den Grad der sozialistischen Transformationsbereitschaft in der Tagespolitik wird nicht die weitere Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal sein, die Serbien auf dem Weg Richtung EU zum Abschluss bringen muss, weil nur mehr zwei mutmaßliche Kriegsverbrecher zu verhaften sind. Vielmehr geht es um die Frage, wie die SPS die Milošević-Erblast aufarbeitet; ein umfassender Bruch mit der Ära Milošević wird jedoch sehr schwierig sein und viel Zeit brauchen.

Doch für seine dauerhafte Stabilisierung bedarf Serbien entweder der Transformation oder der Marginalisierung der Serbischen Radikalen Partei (SRS), deren Vorsitzender Vojislav Šešelj sich seit Februar 2003 wegen des Vorwurfs der Kriegsverbrechen vor dem Haager Tribunal verantworten muss. Im Herbst 2008 kam es zum Bruch zwischen Šešelj und seinem langjährigen Weggefährten und Stellvertreter Tomislav Nikolić. Auslöser war die gegensätzliche Haltung zur EU-Integration Serbiens. Nikolić folgte ein beträchtlicher Teil des Parlamentsklubs der SRS, wobei nun diese „Dissidenten“ die SNS, die Serbische Fortschrittspartei, gründeten; sie will eine nationalkonservative Kraft sein. Hat die SNS Erfolg – und darauf deuten Lokalwahlen in einigen serbischen Gemeinden hin – könnte das die Transformation des serbischen Parteiensystems beschleunigen und damit dem Land größere Stabilität verleihen. Erst wenn die SRS zu einer Randerscheinung und aus der SNS eine serbische HDZ geworden sein wird, kann dieser Prozess als abgeschlossen betrachtet werden. Doch sowohl im Fall der kroatischen HDZ als auch im Fall der serbischen Sozialisten konnte die Reform dieser Parteien erst nach dem Tod ihrer „Überväter“ Franjo Tuđman und Slobodan Milošević durchgeführt werden. Erleichtert wurde die Transformation der HDZ noch durch den Umstand, dass Franjo Tuđman „rechtzeitig“ starb und so einer möglichen Anklage durch das Haager Tribunal entging.

Verzögert und belastet wurden und werden die (partei-)politischen Transformationen durch die ungeklärte nationale Frage. Zwar kann die Dissolution des Tito-Staats seit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovos im Februar 2008 als formal beendet betrachtet werden, doch hat sich Serbien mit dem Verlust des Kosovos bisher nicht abgefunden. Zwar ist es durchaus wahrscheinlich, dass dieser Prozess in praktischer Hinsicht mit einer pro-europäischen Regierung einhergehen wird, gesichert ist dieser Trend jedoch nicht. Bis zur Erkenntnis, dass das serbische Volk nach dem Scheitern der Politik von Slobodan Milošević nur unter dem Dach der EU wieder ohne Grenzen wird leben können, ist der Weg noch weit. Obwohl Serbien neben Montenegro der einzige Staat im ehemaligen Jugoslawien ist, der auf eine lange Staatlichkeit zurückblicken kann, muss Serbien in gewisser Hinsicht als Staat wider Willen bezeichnet werden, während in Montenegro die Nationsbildung erst im Gang ist. Denn so sehr Serbien die Hauptverantwortung für den Zerfall des ehemaligen Jugoslawien trägt, so sehr fühlten sich viele Serben von den anderen Teilrepubliken verraten, weil sie den gemeinsamen Staat verließen. Belgrad benahm sich in dieser Hinsicht ähnlich einem Ehepartner, der den anderen schlecht behandelt und dann enttäuscht ist, weil sich der scheiden lässt. So war der erste Akt, mit dem Serbien die eigene Staatlichkeit aus eigenen Stücken beschritt die Verabschiedung seiner eigenen Verfassung; doch dieses Referendum fand erst Ende Oktober 2006 und damit sechs Jahre nach dem Sturz von Slobodan Milošević statt. Während Serbien mit dem Bau eines viel kleineren „Hauses“ beschäftigt ist, geht es bei Montenegro, Bosnien, dem Kosovo und Mazedonien noch immer um die Nationsbildung. All diese Republiken erhielten ebenso wie Slowenien und Kroatien unter Tito ihre heutigen Grenzen, doch nur in den national weitgehend homogenen Staaten Slowenien und Kroatien steht die Nation außer Streit.9) In Montenegro existiert eine beträchtliche Volksgruppe, die sich als serbisch betrachtet, und der Kosovo ist als Ergebnis des Kriegs nun national weitgehend homogen, doch lehnen die Serben im von ihnen kompakt besiedelten Norden die Unabhängigkeit strikt ab. In Bosnien leben Kroaten, Bosniaken und Serben seit dem Krieg nebeneinander, und noch kann nicht einmal von Verfassungspatriotismus gesprochen werden. Mazedonien wiederum stand durch den Aufstand der Albaner 2001 am Rande des Zerfalls, ein Prozess, der neuerlich einsetzen könnte, wenn die euroatlantische Integration durch den Namensstreit mit Griechenland noch viele Jahre auf sich warten lässt.

Sowohl das Königreich Jugoslawien als auch das kommunistische, von Tito geschaffene Jugoslawien sind in letzter Konsequenz an der ungelösten Nationalitätenfrage gescheitert, obwohl natürlich auch die Auseinandersetzung der Großmächte eine Rolle spielte, die ebenfalls auf dem Balkan ausgetragen wurde. Doch die Hauptkräfte des Zerfalls sind in den beiden Jugoslawien selbst zu suchen und zwar nicht zuletzt in den großen wirtschaftlichen, kulturellen und historischen (Entwicklungs-)Unterschieden. Sie beschreibt der serbische Dichter und Schriftsteller Jovan Dučić10) so:

„Für die Kroaten war der Jugoslawismus eine großserbische Falle, eine politische Perversität, eine balkanische Verschwörung gegen die katholische Kirche, das kroatische Staatsrecht, die westliche Kultur und gegen das Verständnis über Ordnung und Gesetzlichkeit. Die Gesetzlichkeit, wie sie das kroatische Volk, obwohl oft gedemütigt, in der Habsburger Monarchie kannte, stellte dennoch eine der mustergültigsten Verwaltungen und eine beispielhafte Justiz in Europa dar. Um einen jugoslawischen Staat zu bilden, musste man auch ein jugoslawisches Volk schaffen, und eine jugoslawische Sprache haben … Doch die Sprache nannten die einen Serbisch, die anderen Kroatisch. Wenn man noch die wechselseitige, jahrhundertelange Unduldsamkeit, den religiösen Unterschied, die kulturelle Mentalität berücksichtigt, dann konnte eine derartige Nivellierung und Vermischung nicht für durchführbar erachtet werden in einer derart unerwarteten staatlichen Verbindung, die niemals und durch nichts vorbereitet oder gar vorhergesehen war.“

Diese Darstellung trifft für die Schaffung des „Staates der Südslawen“ nach dem Ersten Weltkrieg mit großer Sicherheit zu. Trotzdem, und aller wechselseitigen Gräueltaten während und nach dem Zweiten Weltkrieg zum Trotz, sind die staatsbildenden Völker des ehemaligen Jugoslawien Nachbarn, lebten mehr als 70 Jahre in einem Staat und weisen zum Teil eine große sprachliche Nähe auf. Diese Vorteile haben slowenische und in weiterer Folge auch kroatische Firmen erkannt, die in immer stärkerem Ausmaß im ehemaligen Jugoslawien investieren. Diese Investitionen werden wohl keine Einbahnstraße bleiben, wenn auch die anderen Staaten größere Reformerfolge vorweisen können. Daraus wird kein neues Jugoslawien entstehen, denn diese Idee ist ebenso tot wie Tito. Seine abschließende historische Bewertung durch „seine“ ehemaligen Völker steht zwangsweise noch; zu groß sind die Probleme des Alltags, zu gering ist der historische Abstand, und Tito und sein Staat sind derzeit offensichtlich kaum Gegenstand seriöser historischer Forschung. Offen bleibt daher, wie die massenhaften Verbrechen dereinst bewertet werden, die Titos Kommunisten während des Zweiten Weltkriegs und danach begangen haben. Dabei geht es nicht um die Frage der Verbrechen an sich, sondern darum in welchem Ausmaß sie das Bild des erfolgreichen Staatsmanns prägen werden, der den „Jugoslawen“ in den 1970er Jahren ein hohes Maß an Wohlstand aber auch an relativer Freiheit beschert hat. Sicher ist, dass Tito und seine Nachfolger mit ihrem Konzept gescheitert sind, und damit einen weiteren Beweis dafür geliefert haben, dass sich mit Zwang auf Dauer kein Staat zusammenhalten lässt. Historisch betrachtet erwies sich auch Jugoslawien als eine der vielen Fehlkonstruktionen, die die Westmächte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zu verantworten haben. Möglich sind jedoch Zusammenwachsen und Aussöhnung unter dem Dach von EU und NATO; auf diese Weise könnte auch die Nationalitätenfrage endgültig gelöst oder weitgehend bedeutungslos werden, die dem Balkan am Ende des 20. Jahrhunderts zum zweiten Mal binnen 50 Jahren einen Bürgerkrieg und einen Sezessionskrieg bescherte und das ehemalige Jugoslawien hoffentlich zum letzen Mal zum Kriegsschauplatz werden ließ.

Anmerkungen

1) Interview des Autors mit dem slowenischen Historiker Mitja Ferenc in Laibach am 13. November 2007. Nachzulesen sind die Berichte über die Massengräber in Slowenien auch unter „www.wehrschuetz.at (Mittagsjournal „Slowenien und die Massengräber nach dem Zweiten Weltkrieg; siehe dazu auch auf der Webseite: „Wissen Aktuell“ vom März 2005, Bericht über die Ausstellung: „Slowenien zwischen Hakenkreuz und Tito-Stern“ in Laibach)

2) GRIESSER PEČAR, Tamara: „Cerkev na zatožni klopi“, Družina 2005, Laibach

3) Bericht an die „Heilige Erzversammlung“ (Sveti Arhijerejski Sabor), 27/14. März 1947. Der Bericht liegt beim Patriarchat der Orthodoxen Kirche in Belgrad auf.

4) Dazu zählt die Ausstellung in Laibach im Mai 2005 mit dem Titel „Med kljukastim križem in rdečo zvezdo“. Ihr deutscher Titel lautete in einer etwas freieren Übersetzung „Unter Hakenkreuz und Titostern“

5) NEUBACHER, Hermann: „Sonderauftrag Südost 1940–45“, S. 148; Musterschmid Verlag, Göttingen, 1956. Das Buch liegt seit einigen Jahren auch in serbischer Übersetzung vor.

6) Ebenda S. 143

7) MIHAILOVIĆ, Kosta / KRESTIĆ, Vasilije: „Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Stellungnahmen zu Kritiken“, S. 151; Belgrad, 1996

8) Ebenda, Seite 10

9) Slowenien hat eine zahlenmäßig unbedeutende italienische und ungarische Minderheit, die umfassende Rechte genießt. Die etwa 150.000 Serben, Kroaten und Bosniaken haben derartige Rechte nicht, doch politisch spielen sie keine separatistische Rolle, obwohl sie ihre Rechte zunehmend einmahnen. In Kroatien wiederum ist die nationale Homogenisierung ein Ergebnis des Krieges, wobei die Minderheiten breitgefächerte Rechte genießen. Zwar sind die Serben nach wie vor unzufrieden, doch einer ihrer Vertreter ist stellvertretender Ministerpräsident im Kabinett Sanader II.

10) DUČIĆ, Jovan: „Die Jugoslawische Ideologie“, Der Aufsatz ist veröffentlicht in dem Sammelband „Verujem u Boga i u srpstvo“ (Ich glaube an Gott und an das Serbentum), Belgrad 1999, S. 74; der Aufsatz ist in dem Sammelband nicht datiert, doch aus dem Inhalt geht hervor, dass der Aufsatz zwischen Sommer 1941 und Dučićs Tod in den USA im April 1943 verfasst worden sein muss.

5.

„Točno – Tačno“

„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“

Ludwig Wittgenstein „Tractatus logico-philosophicus“


Sitzung der bosnischen Wahlkommission vor einem „dreisprachigen“ Plakat

Mitte Juni 2008 fand in Brdo bei Krainburg/Kranj in Slowenien das Gipfeltreffen zwischen der EU und den USA statt. Eine bunte Schar von Journalisten bevölkerte das Pressezentrum, und die EBU, die European Broadcasting Union, war gemeinsam mit dem slowenischen Staatsfernsehen für die technische Abwicklung zuständig. Das betraf den Schnitt der Beiträge aber auch die Liveeinstiege, bei denen der Journalist als Analytiker oder Kommentator selbst zu sehen ist. Für diese Direktübertragung waren zwei nebeneinanderliegende Kamerapositionen aufgebaut. Das EBU-Team und daher auch der Kameramann kamen aus Serbien, aus Kostengründen und natürlich auch wegen der geografischen Nähe zu Slowenien. Meinen Liveeinstieg wickelte ich zeitgleich mit einem deutschen Kollegen ab. Bis zum Beginn der Sendung unterhielt ich mich mit dem Kameramann; das hörte auch mein Nachbar, der seine Sendeleitung darüber folgendermaßen aufklärte: „Ich bin nicht allein hier; neben mir steht der Kollege des ORF, der sich gerade auf Slowenisch mit dem Kameramann unterhält.“ Doch es war nicht Slowenisch, sondern Serbisch, denn der serbische Kameramann war des Slowenischen gar nicht mächtig.

Das Unvermögen, Serbisch von Slowenisch zu unterscheiden, sei dem Kollegen nachgesehen, kam er doch aus Brüssel und nur zur Berichterstattung nach Brdo. Doch diese Unkenntnis ist kein Einzelfall, sondern eines von vielen Beispielen, wie gering das Wissen von vielen Journalisten, aber auch von Politikern und erst recht aller „Nicht-Balkanesen“ war und ist, die über das Schicksal des ehemaligen Jugoslawien zu berichten oder zu bestimmen hatten und haben. Unkenntnis (und Desinteresse) der Entscheidungsträger ist für mich daher auch einer der Gründe, warum es zum blutigen Zerfall des Tito-Staates kam. So erzählte mir vor vielen Jahren ein ehemaliger österreichischer Spitzenpolitiker über ein Gespräch, das er Anfang der 1990er Jahre mit einem belgischen Kollegen in Brüssel führte. Etwa eine Stunde lang bemühte sich der Österreicher, dem Belgier die verworrene Lage zu erklären, um schließlich mit dem Satz konfrontiert zu werden: „Ich verstehe den Konflikt immer noch nicht, denn die sprechen doch eh alle Jugoslawisch!“ „So wie Sie hier Belgisch“, lautete die ironische Antwort des Österreichers.

„Jugoslawisch“ hat es im Vielvölkerstaat Jugoslawien nie gegeben, wohl aber eine Sprachenpolitik, die versuchte, der nationalen Vielfalt Rechnung zu tragen und gleichzeitig die Einheit des Landes zu stärken. So lernten die Slowenen Slowenisch, die Mazedonier Mazedonisch, beides Sprachen, die sich doch recht deutlich voneinander und vom „Serbokroatischen“ oder „Kroatoserbischen“ unterscheiden, das in Serbien, Kroatien, Bosnien und Montenegro gesprochen wird. Serbokroatisch, das zur Gruppe der sogenannten südslawischen Sprachen gehört, war denn auch die Verkehrssprache im alten Jugoslawien. Diese „Lingua franca“ wirkt heute noch nach; beobachten lässt sich das bei Treffen zwischen Slowenen und Mazedoniern der älteren Generation, die sich dann des Serbokroatischen und nicht des Englischen bedienen. Doch auch diese Verkehrssprache hatte ihre Besonderheiten. Zunächst wurde sie mit zwei Alphabeten geschrieben. Die Kroaten bedienten und bedienen sich des lateinischen Alphabets, die Serben lernten und lernen in den Grundschulen aber auch das kyrillische Alphabet, und offizielle staatliche Publikationen wie zum Beispiel Gesetze werden in Serbien in kyrillischer Schrift gedruckt.

Serbokroatisch – Kroatoserbisch?

Dieses kyrillische Alphabet ist übrigens in seiner Entstehungsgeschichte zutiefst mit Österreich verbunden, denn der Vater der serbischen Schriftsprache, Vuk Karadžić (1787–1864), war mit einer Österreicherin verheiratet und verbrachte den Großteil seines Lebens in Wien, wo er auch starb. Erst 1897 wurden seine sterblichen Überreste nach Belgrad überführt und dort beigesetzt. Auch die erste serbische Grammatik wurde in Wien gedruckt.

Der zweite große Unterschied liegt in der Schreibweise, die sich auch auf die Aussprache auswirkt. So sprechen die Kroaten die ijekavische und die Serben die ekavische Variante; die Kroaten sagen daher rijeka (Fluss) oder svijet (Welt), die Serben jedoch reka und svet. Der dritte Unterschied besteht in historisch gewachsenen Ausdrucksweisen und beim Serbischen im großen Einfluss türkischer Wörter, die in die Sprache eingegangen sind. So sagen die Kroaten točno (genau), kruh (Brot), sretno (froh), die Serben sagen tačno, hleb und srečno. Doch die Serben sagen auch komšija (das türkische Wort für Nachbar), die Kroaten sagen susjed, ein Wort, das auch in anderen slawischen Sprachen vorkommt. In einem Lehrbuch der serbokroatischen Sprache1) ist der jeweils andere Ausdruck in Klammern angeführt. Über die serbokroatische Sprache heißt es in der Einleitung:

„Im Lauf der Geschichte haben sich Zagreb und Belgrad zu politischen, Kultur- und Literaturzentren entwickelt, denen zwei Varianten der Schriftsprache entsprechen. Der Hauptunterschied ist lautlicher Art und besteht in der Verwendung der ije- bzw. e-Mundart; daneben gibt es gewisse Unterschiede im Wortschatz, an die man sich an Ort und Stelle leicht gewöhnt.“

Das ist völlig richtig, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Doch es muss auch die Bereitschaft dazu vorhanden sein; denn einem Kroaten fällt es eben (unangenehm) auf, wenn man statt „dobar tek“ (Mahlzeit) „prijatno“ sagt. Für den Ausländer sind diese Unterschiede meistens nicht fassbar, und auch der Anfänger hat noch im wahrsten Sinn des Wortes kein Ohr dafür. Als ich in der Oberstufe meiner Gymnasialzeit in Graz einige Zeit das Freifach „Serbokroatisch“ besuchte, erzählte ich freudig einem Kroaten, dass ich nun Serbokroatisch lerne. Die Antwort fiel für mich verblüffend aus: „Diese Sprache gibt es nicht. Es gibt nur Serbisch oder Kroatisch.“ Das Gleiche hätte ich wohl auch von einem Serben hören können. Trotzdem kann ich Serbisch, Kroatisch, Bosnisch und Montenegrinisch im Grunde nur als eine Sprache begreifen – alle Linguisten mögen mir verzeihen – denn ich habe nur „Serbisch“ gelernt, kann mich aber überall verständigen und die Zeitungen all dieser Länder lesen. Unbestritten ist jedoch, dass jeder Staat und jedes Volk seine Sprache so nennen kann, wie das von der Mehrheit der Bevölkerung gewollt wird. Doch ich bin Journalist, nicht Linguist, und in dieser Darstellung geht es nicht um Linguistik, sondern um die praktischen und politischen Aspekte der Sprachenfrage.

Zur Illustration soll hier ein Witz, der unter Belgrader Taxifahrern kursiert, herhalten: Ein Kroate fährt in Belgrad mit dem Taxi, will schließlich zahlen und fragt nach dem Preis: „Tri hiljade Dinara (Dreitausend Dinar) antwortet der Taxifahrer. „Koliko je to u tjsucima“ (Wie viele Tausend sind das?), fragt der Fahrgast, das kroatische Wort für Tausend verwendend. „Šest tjsuca“ (Sechstausend), antwortet der Fahrer.

Dabei muss bereits jetzt betont werden, dass die Sprachenfrage weit mehr ist als eine Marotte, die in den betroffenen Staaten auch für tagespolitisches Kleingeld verwendet wird. (So wurde etwa der kroatische Staatsgründer Franjo Tuđman in Kroatien dafür kritisiert, dass er bei einem offiziellen Anlass statt sretno (froh, glücklich) srečno gesagt hatte.) Vielmehr sind damit auch Kosten verbunden, die der europäische Steuerzahler bereits jetzt mitzutragen hat und die noch größer werden dürften, sollten Kroatien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina und Serbien dereinst alle EU-Mitglieder sein. Doch zunächst zur historischen Entwicklung. War die politische Führung mit ihrer Sprachenpolitik im ehemaligen Jugoslawien bestrebt, die vorhandenen Unterschiede einzuebnen, so setzte mit und nach dem Zerfall des gemeinsamen Staates der gegenläufige Trend ein. Trennung war angesagt, und Kroatien soll seine Linguisten sogar zu den burgenländischen Kroaten entsandt haben, um zu den Wurzeln der kroatischen Sprache zurückkehren zu können. Völlig beseitigt wurde natürlich der Unterricht der kyrillischen Schrift, mit Ausnahme in jenen Schulen, die die serbische Minderheit in Kroatien besucht. Je weiter die Kriegszeit zurückliegt, je mehr sich die kroatische Nation festigt und je mehr die „Angst“ vor einem neuen Jugoslawien schwindet, desto ungezwungener wird auch der Sprachgebrauch werden, jedenfalls im täglichen Leben. Trotzdem lässt sich in der Bürokratie und beim Protokoll noch immer für Verwirrung sorgen, wenn man als Ausländer mit „Serbisch“ auftritt. So war vor einigen Jahren Bundeskanzler Wolfgang Schüssel auf Besuch in Agram/Zagreb. Am Abend gab es einen Empfang, zu dem Journalisten jedoch nicht zugelassen waren, doch der Bundeskanzler wollte mich sprechen. Beim Eingang teilte ich den Sicherheitsbeamten mit, ich sei der Korrespondent des ORF, und der Bundeskanzler wollte mich sprechen. Nach einigem Hin und Her gelang es einem Vertreter der österreichischen Botschaft, mich ins Gebäude zu bringen. Auf dem Weg zum Kanzler erzählt mir der Diplomat, ein kroatischer Protokollbeamter sei ganz ungläubig gekommen und habe gesagt: „Draußen steht ein Journalist, der behauptet, der Bundeskanzler wolle in sprechen; er behauptet Österreicher zu sein, doch er spricht Serbisch.“

Solche Anekdoten bereichern das journalistische Leben; doch wie katastrophal die Folgen einer verfehlten Sprachenpolitik für ein Land sein können, zeigt das Beispiel von Bosnien und Herzegowina. Dort gibt es drei offizielle Sprachen: Bosnisch, Kroatisch und Serbisch. Bereits die Bezeichnung „Bosnisch“ wird in Bosnien von Kroaten und Serben als eine Art der sprachlichen Hegemonie abgelehnt. Für diese beiden Volksgruppen ist aber „Bosniakisch“ annehmbar als Bezeichnung der Sprache, die die Bosniaken, die Muslime in Bosnien, sprechen. Doch abgesehen von der Bezeichnung hat auch die Existenz der drei sogenannten Sprachen der drei konstitutiven Völker dieses Staates mit etwa vier Millionen Einwohnern praktische Folgen. Offizielle Texte werden in drei Sprachen und zwei Alphabete (Latein und Kyrillisch) übersetzt, obwohl man Unterschiede oft mit der Lupe suchen muss. Dessen sind sich natürlich auch Politiker, Bürokraten und Juristen aller drei Volksgruppen bewusst; sie haben daher ihr Möglichstes getan, um künstlich Unterschiede zu schaffen. Ein Beispiel dafür ist das eingangs abgedruckte Plakat, auf dem Bosnisch, Serbisch und Kroatisch „Wahlkommission“ zu lesen steht; das Bosnische unterscheidet sich vom Serbischen nur durch die Schrift, vom Kroatischen aber dadurch, dass für das Wort Kommission ein eigenes kroatisches Wort verwendet wird. Das wirkt sich natürlich bei der Rechtsterminologie besonders negativ aus, weil es die Bildung eines einheitlichen Rechtsraumes zusätzlich erschwert. Zum Tragen kommt diese Sprachenpolitik auch bei internationalen Verträgen, wie das Beispiel des Doppelbesteuerungsabkommens zeigt, das Bosnien und Herzegowina mit Österreich 2008 unterzeichnet hat. Das Papier wurde in fünf Sprachen unterfertigt: Deutsch, Englisch, Bosnisch, Kroatisch und Serbisch. Die Fama berichtet, dass eine Sachbearbeiterin in Österreich in Sarajevo nachgefragt haben soll, ob nicht irrtümlich zweimal dieselbe Fassung (Bosnisch/Kroatisch) nach Wien übermittelt wurde. Eine Überprüfung ergab nur minimale sprachliche Unterschiede zwischen beiden Texten. Vereinbart wird in derartigen Fällen, dass zur Vertragsauslegung das Dokument in englischer Sprache herangezogen wird. Das Beispiel des Doppelbesteuerungsabkommens lässt erahnen, in welchem Ausmaß sinnlos Papier produziert wird, denn was für Österreich gilt, wird wohl auch für die Rechtstexte der EU gelten. Deren gemeinsamer Rechtsbestand umfasst etwa hunderttausend Seiten. Dabei zeigt gerade die EU-Annäherung, dass Serbien, Bosnien und Herzegowina sowie Montenegro von der gemeinsamen Sprache profitieren können. Der Rechtsbestand wurde bereits ins Kroatische übersetzt, und Serbien und Montenegro möchten davon auch Gebrauch machen; doch bisher soll es nicht zur Weitergabe der Übersetzungen gekommen sein, denn dann könnte in der EU wohl jemand auf die Idee kommen, die Sprachen der vier Beitrittswerber als eine Sprache zu begreifen. Im Sand verlaufen sind bisher auch alle zaghaften Initiativen in Brüssel, diese vier Staaten auf dem Weg Richtung EU zu einer gemeinsamen Sprache zu bewegen. Doch was im Fall Österreichs und Deutschlands möglich ist, sollte erst recht für das ehemalige Jugoslawien durchsetzbar sein, um Kosten zu sparen und die Effizienz in Brüssel und auf dem Balkan ein wenig zu steigern.

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