Loe raamatut: «Tina Modotti»

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Die Autorin
Christiane Barckhausen-Canale

Geboren 1942 in Berlin. 1962–1979 Arbeit als Dolmetscherin für Spanisch und Französisch sowie als Übersetzerin spanischer Bücher. Seit 1980 Veröffentlichung eigener Bücher. 1987 Literaturpreis des FDGB für »Schwestern«. Seit 1982 Recherchen zu Tina Modotti. 1987 erscheint ihre Modotti-Biografie »Auf den Spuren von Tina Modotti« in der BRD, 1989 dann unter dem Titel »Wahrheit und Legende einer umstrittenen Frau« in der DDR. Im gleichen Jahr erhält Christiane Barckhausen-Canale den Literaturpreis des Frauenverbandes DFD. 1988 wird ihr für die von ihr selbst übersetzte spanische Fassung als erster Europäerin der Literaturpreis der Casa de las Americas in Kuba verliehen.

Von 1990 bis 1992 Aufbau des Tina-Modotti-Archives in Berlin.

Christiane Barckhausen

TINA

MODOTTI

Den Mond in drei Teile teilen

2012 • Verlag Wiljo Heinen, Berlin

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Und nun wollen wir Sie nicht weiter beim Lesen stören…

Ich baumle gern am Himmel und falle auf Europa nieder. Ich springe wieder hoch wie ein Gummiball, greife mit einer Hand hinab zum Dach des Kreml, stehle einen Ziegel und werfe ihn dem Kaiser zu.

Sei brav: Ich werde den Mond in drei Teile teilen, der größte wird dir gehören. Iß ihn nicht zu schnell.

Tina Modotti, 1923

Inhalt

Ein Wort an die Leserinnen und Leser

Tina Modotti Skizze ihres Lebens

Leben oder Kunst?

Impressum

Urheberrechtshinweis

Ein Wort an die Leserinnen und Leser

Möglicherweise werden Sie ungläubig den Kopf schütteln, wenn Sie dieses Büchlein durchblättern und kein einziges der von Tina Modotti aufgenommenen Fotos finden…

»Fotografin und Revolutionärin« wurde Tina Modotti seit Ende der siebziger Jahre genannt, in Buchtiteln, Artikeln, Rezensionen… seither sind ein halbes Dutzend Biografien und ebenso viele Ausstellungskataloge erschienen, in denen der Fotografin Genüge getan wird, ja, es gibt seit kurzer Zeit sogar ein Comic-Buch über ihr Leben und Wirken. Weniger ist bekannt über die Revolutionärin Tina Modotti, und oft wurden falsche und oberflächliche Fakten kolportiert, so zum Beispiel Berichte über die »Kämpferin des 5. Regiments der spanischen Republik«. Dies ist einer der Gründe, warum in dem vorliegenden Buch vor allem dieser Aspekt ihres Lebens beleuchtet wird, zum großen Teil auf der Grundlage von Dokumenten aus den Moskauer Archiven der Kommunistischen Internationale und der Internationalen Roten Hilfe – Dokumente, über die ich noch nicht verfügte, als ich 1989 meine Modotti-Biografie veröffentlichte.

Ein weiterer Grund für die Entscheidung, keine ihrer Fotos in das Buch aufzunehmen, war die Überlegung, dass es möglichst erschwinglich sein sollte. Wenn Sie sich dennoch ausführlicher mit ihrem fotografischen Werk beschäftigen wollen, empfehle ich die große Anzahl von Internet-Seiten, die ihr gewidmet wurden, sowie die Möglichkeit, Ausstellungskataloge sehr preiswert zum Beispiel über Antiquariate im Internet zu bestellen. Ich empfehle dabei besonders die Kataloge der Ausstellungen, die von Reinhard Schultz, Galerie Bilderwelt, organisiert wurden, so zum Beispiel im Jahre 2010 im Kunsthaus Wien.

Ich hoffe also, Sie werden uns den Verzicht auf die Aufnahme von Fotos in dieses Buch nachsehen und auf den folgenden Seiten, 70 Jahre nach dem Tod von Tina Modotti in Mexiko-Stadt, Bekanntschaft mit dem Leben einer Revolutionärin des vergangenen Jahrhunderts machen.

Christiane Barckhausen, Dezember 2011

Tina Modotti
Skizze ihres Lebens

Am 22. August 1896 meldete der Mechaniker Giuseppe Modotti beim Standesamt von Udine die Geburt seines dritten Kindes und gab an, Assunta Adelaide Luigia sei am 17. August um elf Uhr vormittags zur Welt gekommen. Im Taufschein der kleinen Assunta allerdings wurde der 16. August als Geburtstag eingetragen, und dieses Datum gab Tina Modotti auch an, als sie viele Jahre später in Moskau, bei der Kommunistischen Internationale, ihre Autobiografie abgab.

Die Modottis ließen ihre Tochter erst ein halbes Jahr nach ihrer Geburt taufen, und das war relativ ungewöhnlich. Es mag dadurch zu erklären sein, dass einer der beiden Taufpaten, Demetrio Canal, ein überzeugter Sozialist war, der möglicherweise nur aus Achtung vor der Mutter Assunta Mondini bereit war, an einer kirchlichen Zeremonie teilzunehmen. Die Kinder taufen zu lassen war denn auch das einzige Zugeständnis der Familie Modotti an ihre stark religiös geprägte Umwelt. In späteren Jahren gab es keine Hinweise darauf, dass die Modottis die Kirche besuchten oder ihr nahe standen. Nicht einmal in der Zeitungsanzeige zum Tode des Vaters am 14. März 1922 in San Francisco wurde eine kirchliche Trauerzeremonie angekündigt.

1897 oder 1898 ging Giuseppe Modotti mit Frau und drei Kindern nach Kärnten, wo der zweite Sohn Ernesto im Alter von dreieinhalb Jahren an »tuberkulöser Meningitis« starb. Die Gründe für eine Emigration mit der ganzen Familie können nur vermutet werden. 1897 hatte der Udinenser Sozialistische Kreis – geleitet unter anderem von Demetrio Canal – einen Streik der Spinnerei-Arbeiterinnen organisiert und unterstützt und wurde deshalb von den Behörden verboten. Gehörte Giuseppe Modotti zu diesem Kreis und wurde auch er auf eine schwarze Liste gesetzt? Fürchtete er, in der Heimatstadt keine Arbeit mehr zu finden? Versprach er sich in Kärnten bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt? Oder suchte er eine freiere Atmosphäre, in der er im Einklang mit seinen sozialistischen Ideen leben konnte? Wurde er möglicherweise sogar von seinen sozialistischen Genossen nach Kärnten geschickt, um dort unter den italienischen Arbeitern politisch aktiv zu sein?

Der erste Wohnort der Familie in Kärnten war die kleine, durch ihre Jagdwaffenproduktion bekannte Stadt Ferlach. Hier hatte man 1887 das erste Maschinenhaus errichtet, und es ist möglich, dass fähige Mechaniker aus der engeren und weiteren Umgebung gebraucht wurden. Giuseppes einziger Enkelsohn Tullio behauptete bis zu seinem Tode, sein Großvater sei in Österreich »Fabrikdirektor« gewesen. Dafür finden sich in den Archiven keinerlei Hinweise, und es dürfte sich hier um eine in der Familie überlieferte Legende handeln, die im Laufe der Jahre geschönt und ausgemalt wurde. Giuseppe Modotti selbst wies sich Jahre später im Hafen von New York bei der Befragung durch die Einwanderungsbehörden als »Ingenieur« aus.

Um die Jahrhundertwende geriet die Ferlacher Jagdgewehr-Industrie in eine tiefe Krise, und die Betriebe wurden auf die Produktion nützlicher Haushaltsgegenstände umgestellt. Eines der Fabrikgebäude wurde an einen Fahrradhersteller verpachtet, der die Rahmen seiner Fahrräder aus Bambus anfertigen ließ – eine in dieser Berglandschaft willkommene und sinnvolle Erfindung. In dieser Fahrradfabrik arbeitete Giuseppe Modotti im Jahre 1898, als seine Tochter Valentina geboren wurde. Die Familie wohnte in einem langgestreckten, einstöckigen Gebäude im Zentrum der Stadt. Die ältesten Einwohner Ferlachs erinnerten sich, als ich sie in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts befragte, noch gut daran, wie sie als Kinder die Polenta probierten, die von den italienischen Frauen oft im Freien zubereitet wurde.

Der Ferlacher Fahrradfabrik war kein langes Leben vergönnt, so dass die Familie Modotti um das Jahr 1900 nach St. Ruprecht übersiedelte, in einen kleinen, heute zur Stadt Klagenfurt gehörenden Ort. Hier brachte Assunta Mondini 1901 und 1903 ihre Kinder Yolanda und Benvenuto zur Welt und wurde bei beiden Entbindungen von der slowenischen Hebamme Mathilde Modric unterstützt.

Eine Besonderheit der Kärntner Arbeiterbewegung war ihr gelebter, praktischer Internationalismus – auch wenn die Arbeiter dieses Wort vielleicht noch nie gehört hatten. Italiener und Slowenen arbeiteten in dieser Region, die noch heute als »Dreiländereck« bekannt ist, Seite an Seite mit ihren österreichischen Kollegen. Sie alle waren, ungeachtet ihrer Nationalität, billige Arbeitskräfte, die der Willkür der Unternehmer nur begegnen konnten, wenn sie die Sprach- und Nationalitäten-Grenzen überwanden. So war es kein Zufall, dass gerade die Arbeiterbewegung jener Jahre besonderen Wert auf die Erziehung zur Solidarität und zum Miteinander legte und in der Praxis die spätere Losung der Kommunistischen Internationale, »Proletarier aller Länder, vereinigt euch«, vorwegnahm.

Tina Modotti hat noch Jahrzehnte später voller Begeisterung von den Mai-Kundgebungen erzählt, bei denen ihr Vater sie auf den Arm nahm, damit sie die Arbeiter mit den erhobenen Fäusten besser sehen konnte. Als sie 1905 nach Udine zurückkehrte, um dort wenig später, im Alter von zwölf Jahren, Fabrikarbeiterin zu werden, brachte sie nicht nur die Kenntnis der deutschen Sprache mit, sondern auch ein Gespür für soziale Ungerechtigkeiten und für die Notwendigkeit der internationalen Klassensolidarität. Es ist gut möglich, dass diese frühen Kindheitserfahrungen viele Jahre später, als sie sich zur Mitarbeit in der Internationalen Roten Hilfe entschloss, eine wichtige Rolle spielten.

Am 19. August 1905, elf Tage vor der Geburt seines letzten Sohnes, Giuseppe, nahm Vater Modotti zusammen mit seiner dreizehnjährigen Tochter Mercedes das Schiff nach Amerika. Dass ein Familienvater seine Frau so kurz vor der Entbindung allein ließ, ist mehr als erstaunlich. Entweder war Giuseppe Modotti gezwungen, das Land geradezu fluchtartig zu verlassen, oder er war alles andere als ein sorgender Ehemann und Vater.

Bei der Ankunft in New York gab er dem Einwanderungsbeamten zu Protokoll, er wolle zu seinem Bruder Francesco nach Turtles Creek reisen. Von dort aus siedelte er etwa zwei Jahre später nach San Francisco um, wo nach dem schweren Erdbeben von 1905 die Aufbauarbeiten in Gang kamen und er sich bessere Möglichkeiten erhoffte, das für die Übersiedlung der Familie nötige Geld zu verdienen. Im Jahre 1932 schrieb Tina Modotti in Beantwortung eines Fragebogens der Kommunistischen Internationale über die Jahre ihrer Kindheit, der Vater habe manchmal monatelang kein Lebenszeichen gegeben und auch kein Geld schicken können, so dass die Familie in Udine »praktisch von der Wohlfahrt« leben musste.

Der amerikanische Autor Robert D’Attilio hat herausgefunden, dass Giuseppe Modotti 1908 im Branchen-Adressbuch von San Francisco als Mitinhaber eines Geschäfts für »künstlerische Fotografie« eingetragen war und vermutet, dass die Fotografie in Tinas Leben schon sehr früh eine Rolle spielte. Italo Zannier berichtet von einem Besuch des Fotografen Pietro Modotti in New York im Jahre 1909. Es wäre denkbar, dass die beiden Brüder Giuseppe und Pietro Modotti damals planten, in San Francisco ein fotografisches Studio zu betreiben, und dass Giuseppe das gemeinsame Unternehmen vorausschauend anmeldete. Wenn es solche Pläne gab, so wurden sie jedoch nicht verwirklicht, denn schon im Jahre 1909 erschien Giuseppe Modotti im Adressbuch als Inhaber einer Werkstatt für die Herstellung und Reparatur von Maschinen.

Giuseppe Modotti konnte bei seiner Abreise aus Italien nicht ahnen, dass es 15 Jahre dauern würde, ehe er die Familie in Amerika wieder vereint sehen würde. Im Jahre 1913 hatte er gerade genug verdient und gespart, um seine Tochter Tina zu sich nach San Francisco zu holen.

Daheim in Udine war Tina seit ihrem zwölften Lebensjahr die einzige, die durch ihre Arbeit in einer Textilfabrik den Lebensunterhalt für Mutter und Geschwister verdiente. Sie hatte – nach eigenen Angaben – zum Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme vier Klassen der Grundschule absolviert. Einige US-amerikanische Modotti-Forscher/Innen bezweifeln allerdings, dass die in Udine zurückgebliebenen Mitglieder der Familie in Armut gelebt haben und halten dies für ein Element der »Legendenbildung«. Eine Gruppe von Forscherinnen aus Udine hat jedoch in den Archiven der Stadt Belege dafür gefunden, dass sowohl Tina als auch ihre Geschwister Valentina, Yolanda und Benvenuto auf Grund der Armut, die im Elternhaus herrschte, einen städtischen Zuschuss für Lehrmittel bekamen. Außerdem kamen sie in den Genuss der kostenlosen Schulspeisung, die damals pro Kind aus 100 Gramm Weißbrot, 25 Gramm Emmenthaler Käse und 15 Gramm rohem Schinken bestand. Belegt ist auch, dass Tina am 31. März 1909 gezwungen war, die Schule zu verlassen. Während ihrer vier Schuljahre hatte sie in allen Fächern gute Noten aufweisen können – mit Ausnahme der sogenannten »frauentypischen Verrichtungen«. Auch in der italienischen Sprache waren ihre Leistungen anfangs noch mangelhaft, was darauf hinweist, dass in der Familie hauptsächlich oder ausschließlich das »Friulano« gesprochen wurde.

Tina war ihr Leben lang neugierig und wissensdurstig, und sicher hat sie den Schulbesuch nur ungern abgebrochen, um in die Fabrik zu gehen. Aber dieser Verzicht auf eigene Interessen zugunsten anderer Menschen, für die sie sich verantwortlich fühlte, sollte mit den Jahren zu einer Konstante in ihrem Leben werden. Alle, die sie kannten, sprechen von einer aufopferungsvollen Hilfsbereitschaft als einem ihrer wichtigsten Charakterzüge.

Als Tina Modotti am 24. Juni 1913 von Genua aus auf der »Moltke« die Reise zum Vater in San Francisco antrat, hoffte sie wohl, die Mutter und die jüngeren Geschwister würden ihr sehr bald folgen. Sie konnte nicht ahnen, dass genau zwei Jahre später der Eintritt Italiens in den Weltkrieg ihre Hoffnungen für lange Zeit zunichte machen und auch die regelmäßigen Kontakte zur Familie erschweren würde.

Sie konnte auch nicht wissen, dass sie ihre Schwester Valentina, die sie als Vierzehnjährige zurückließ, nie mehr wiedersehen würde. Valentina brachte im Januar 1918 einen unehelichen Sohn zur Welt. Diese Tatsache war wohl ausschlaggebend dafür, dass Jahre später der Präfekt von Udine über die von der Mussolini-Polizei gesuchte Tina Modotti angab, diese sei als junges Mädchen in Udine aufgefallen, weil sie »Prostitution« betrieben habe – so dachte man zu jener Zeit von Frauen, die das »Unglück« hatten, unverheiratet Mutter zu werden. Offensichtlich hatte der Präfekt Assunta, genannt Tina, mit Valentina verwechselt.

Bei der Befragung durch die Einwanderungsbehörden in New York gab Tina an, zu Vater und Schwester, wohnhaft in der Taylor Street 1954 in San Francisco, zu reisen. Sie war im Besitz eines vom Vater bezahlten Tickets für die Weiterreise und hatte zusätzlich noch 100 Dollar bei sich. Auf die Frage nach ihrem Beruf gab die Sechzehnjährige an, sie sei »Schülerin«. Da der Einwanderungsbeamte in der Liste vermerken konnte, »Saltarini Modotti, Tina« sei bei guter Gesundheit und sie sei keine Anarchistin, stand ihrer Einreise in die USA nichts mehr im Wege.

In San Francisco gab es für die italienischen Einwanderer ein eigenes Opernhaus, und dem Autor Richard Dillon verdanken wir die Information, dass Tina 1918 in der »Compagnia Bruno Seragnoli« auftrat. Aus mehreren Theater-Rezensionen, die in Zeitungen von San Francisco erschienen, geht hervor, dass sie damals als eines der vielversprechendsten Talente am italienischen Theater galt. Außerdem trat sie als Rezitatorin in den »filodrammatiche«, den Laien-Theatergruppen, auf, die auf Höfen und Straßen ihre Vorstellungen gaben. Dies alles tat sie neben der Arbeit, mit der sie sich ihren Lebensunterhalt verdiente: zunächst in einer Fabrik, in der Herrenhemden hergestellt wurden, und später in einer Hutfabrik und in privaten Schneidereien. Manchmal war sie auch Modell bei Modenschauen.

San Francisco bot dem aufgeschlossenen jungen Mädchen zahllose neue Eindrücke und Erfahrungen, aber zuhause, bei Vater und Schwester, fand sie stets ein Stück Heimat. Die Ereignisse, die in jenen Jahren das Land und vor allem die Arbeiter-und Gewerkschaftsbewegung erregten, waren auch Thema der abendlichen Gespräche am Küchentisch der Modottis. Streiks und Aussperrungen waren an der Tagesordnung, und die Sympathien der Modottis lagen auf Seiten der »Wobblies«, der Mitglieder der mächtigen »Industrial Workers of the World (IWW)«. Bei Ausbruch des Weltkrieges verweigerten zahlreiche junge Nordamerikaner den Dienst in der Armee und entzogen sich der Rekrutierung durch Flucht ins benachbarte Mexiko, und auch ihnen galt die Anteilnahme des Sozialisten Giuseppe Modotti und seiner Töchter. US-amerikanische Polizeiakten der zwanziger Jahre bezeichnen die ganze Familie Modotti als »aktiv antifaschistisch«.

Im Jahre 1915 lernte Tina Modotti den Maler und Dichter Roubaix de L’Abrie Richey kennen. Er war sechs Jahre älter als sie, von schwacher Gesundheit und von Todessehnsucht und Todesfurcht zugleich erfüllt. Tina selbst schrieb 1922 über den Mann, mit dem sie 1917 nach Los Angeles übersiedelte:

»Niemals Teil einer Menschenmenge – und auch nicht glücklich in einer solchen – fühlte er sich am wohlsten in Gesellschaft weniger enger und verständnisvoller Freunde. Wie alle sensiblen Menschen mit feiner Aufnahmefähigkeit zog er sich in sich selbst zurück, sobald er nur den geringsten Antagonismus spürte; aber sein Herz floss über von Zärtlichkeit und Freude, und das Beste von ihm trat zutage, wenn er einen verwandten Geist traf…«

Eine solche Geistesverwandtschaft scheint die Grundlage gewesen zu sein, auf der sich zwischen Tina und Robo eine Liebe entwickelte, die nicht vordergründig von Sexualität und körperlicher Leidenschaft geprägt war. Vielleicht war bei Tina auch das Mitgefühl ein bestimmendes Element. Mitgefühl mit dem jungen Mann, der das Schöne suchte und wohl als Erster erkannte, welche schöpferischen Fähigkeiten in seiner lebhaften, neugierigen und lebenslustigen jungen Frau verborgen lagen.

In ihrem Atelier in Pasadena, in dem Robo und Tina gemeinsam Batiken und Puppen herstellten, empfingen sie auch ihre Freunde, mit denen sie in endlosen nächtlichen Gesprächen über alle neuen Strömungen in Kunst, Kultur und Philosophie diskutierten. Für Tina muss dies ein anregender Kreis gewesen sein, der ihr Einblick in Lebensweisen, Haltungen, Weltsichten und Interessengebiete bot, von denen sie bislang nichts geahnt hatte. Sie verschlang die Bücher, von denen die Freunde erzählten, und lauschte fasziniert den Berichten über die ersten Kommunen, in denen Gleichgesinnte zusammen lebten und eine gemeinschaftliche Kindererziehung ausprobierten.

Sie nahm begierig Nachrichten aus fernen Ländern auf, zunächst aus Japan, das damals eine besondere Anziehungskraft auf die jungen kalifornischen Künstler ausübte, dann aber auch aus Russland, wo die Arbeiter und Bauern die Macht übernommen hatten. In jener Zeit schrieb sie auch ein Gedicht, das 1923 in der Zeitschrift THE DIAL veröffentlicht wurde:

Ich baumle gern am Himmel und falle auf Europa nieder.

Ich springe wieder hoch wie ein Gummiball, greife mit einer Hand hinab zum Dach des Kreml, stehle einen Ziegel und werfe ihn dem Kaiser zu.

Sei brav: Ich werde den Mond in drei Teile teilen, der größte wird dir gehören.

Iß ihn nicht zu schnell.

Tasuta katkend on lõppenud.

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