Loe raamatut: «Immer dann, wenn's gar nicht passt!»
Christiane Hackenberger
Immer dann, wenn’s
gar nicht passt!
Roman
Die Handlung dieses Romans sowie die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden; eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten und tatsächlich lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© 2021 by edition fischer GmbH
Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main
Alle Rechte vorbehalten
Schriftart: Minion Pro 12pt
Herstellung: ef/bf/1B
ISBN 978-3-86455-197-0 EPUB
Inhalt
Immer dann, wenn’s gar nicht passt!
Von Christiane Hackenberger ebenfalls lieferbar:
Katharina stellte ihr Auto auf dem Parkplatz ab, nahm aus dem Kofferraum den überdimensionalen Blumenstrauß, den man ihr überreicht hatte, sowie einen kleinen Karton mit ihren Bürohabseligkeiten und stieg die Treppe hinauf zu ihrer Wohnung im ersten Stock. Das war er nun, mein letzter Arbeitstag, dachte sie seufzend. Alle Kollegen ihrer Abteilung waren vorbeigekommen, um sich zu verabschieden. Alle hatten sehr bedauert, dass sie wegging. Und sie hatte es geschafft, nicht in Tränen auszubrechen, obwohl ihr manchmal doch danach zumute war. Zum Schluss erschien dann der Chef mit den Blumen und mit warmen Worten und warmem Händedruck wurde ein Kapitel in ihrem Leben beendet.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und stellte fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war; also war Werner wohl noch da? Eigentlich sollte er doch heute wieder in seiner Wohnung sein und ihren Schlüssel in den Briefkasten werfen. »Werner?«, rief sie, als sie ihre Last auf der Dielenkommode ablegte. »Ja, ich bin hier!«, kam seine Stimme aus dem Wohnzimmer, wo der Fernseher lief; irgendeine Quizshow, ziemlich laut. Er macht sich nicht einmal die Mühe aufzustehen, dachte Katharina etwas grimmig und atmete einmal tief durch, bevor sie ihr Wohnzimmer betrat.
»Na, hast du es endlich geschafft, beginnt nun das süße Leben?«, begrüßte Werner sie grinsend, ohne die Füße vom Couchtisch zu nehmen. Katharina atmete noch einmal tief durch, ihr reichte es. Sie schaltete den Fernseher aus und sagte: »Ich war der Meinung, deine Wohnung sei ab heute wieder bewohnbar? Würdest du dann bitte deine Sachen packen?« Er war überrascht durch ihren kühlen Ton und meinte: »Na, ich dachte, wir essen heute noch einmal schön zusammen zu Abend, dein neues Leben feiern?«
»Da gibt es nichts zu feiern«, gab sie kurz angebunden zurück. »Also?«
»Schlechte Laune?« Er schmollte; immerhin erhob er sich umständlich, stieg in seine abgewetzten Gesundheitslatschen, nahm seine Strickjacke und seinen Schal von der Sofalehne, die Bierflasche und den Aschenbecher vom Tisch und ging in die Küche. Katharina riss die Balkontür auf, um den Tabakgeruch hinauszulassen. Sie hasste es, wenn in ihrer Wohnung geraucht wurde; er wusste das doch! Was dachte er sich eigentlich? Fast drei Wochen lang hatte er bei ihr auf dem Sofa kampiert, weil er seine Wohnung vorübergehend räumen musste. Ein Rohrbruch hatte die komplette Etage unter Wasser gesetzt und umfangreiche Reparatur- und Sanierungsarbeiten im ganzen Haus nach sich gezogen. Eigentlich hätte alles innerhalb einer Woche fertig sein sollen, aber die Arbeiten dauerten und dauerten.
Werner wohnte in dem alten Fachwerkhaus nebenan, schön anzusehen, aber eben alt. Katastrophen wie dieser Wasserrohrbruch gestalteten sich da doppelt unangenehm und folgenschwer. Katharina war froh, in einem modernen Haus zu wohnen, auch wenn die glatte, schmucklose Fassade das Gesamtbild des Ensembles etwas störte. Wenn sie vorher gewusst hätte, dass Werner tatsächlich eine Art Camping in ihrem Wohnzimmer veranstalten würde, hätte sie ihn sicher nicht so bereitwillig aufgenommen. Eigentlich war er ja ein netter Kerl, etwa in ihrem Alter. Ein ewiger Junggeselle, ziemlich phlegmatisch, leicht übergewichtig, lebte von Stütze und Gelegenheitsjobs und war damit zufrieden. Er gehörte nicht zu den Leuten, die die Arbeit erfunden haben. Sie kannten sich aus der Kneipe an der Ecke, hatten sich dort öfter auf ein Bier oder zwei getroffen und nett über alles Mögliche geplaudert, weiter nichts. Gut, fast weiter nichts. Einmal waren sie – etwas beschwipst – zusammen im Bett gelandet, was bei Katharina keine bleibenden Eindrücke hinterlassen hatte; bei ihm dagegen schon. Er betrachtete sich fortan als ihren festen Freund und ließ das auch alle Leute wissen, was allerdings niemand so recht ernst nahm. Katharina sagte zu diesem Thema nichts und hoffte, sein Interesse an ihr würde sich eines Tages geben, wenn sie auf seine Annäherungsversuche nicht weiter einging.
Werner kam wieder herein, lehnte sich gegen den Türrahmen und meinte: »Eigentlich ist es doch Verschwendung, du in deiner Wohnung, ich in meiner. Warum ziehen wir nicht zusammen? Ich kündige meinen Mietvertrag, hole meine Sachen ab und wir regeln hier alles neu; ein paar Möbel bringe ich auch mit. Bei dir ist ja auch mehr Platz als bei mir.« Katharina schnappte nach Luft, sie war außer sich. »Was ist das denn für eine blöde Idee?! Das kommt überhaupt nicht in Frage!« Aber er gab noch nicht auf. »Wo sie dir jetzt gekündigt haben und du auch immer zu Hause bist, können wir doch viel gemeinsam unternehmen und es uns gut gehen lassen. Außerdem spart es Geld. Und deine Abfindung muss doch leicht für eine ganze Zeit reichen!«
Katharina spürte wilden Zorn in sich aufsteigen; so eine Frechheit, über ihre Abfindung verfügen zu wollen! Sie atmete schon wieder tief durch und sagte in scharfem Ton: »Erstens: Sie haben mir nicht gekündigt, sondern ich habe der Aufhebung meines Arbeitsvertrags zugestimmt. – Zweitens: Ich habe nicht die Absicht, mich auf die faule Haut zu legen, was offensichtlich dein erklärtes Ziel ist. – Drittens: Die Abfindung bekomme ich erst Anfang des nächsten Jahres und davon wird sich das Finanzamt einen beträchtlichen Teil holen. Der Rest wird dazu dienen, für mich eine neue berufliche Existenz zu schaffen, nicht dazu, dir ein schönes Leben zu finanzieren; alles klar?!« Ihre Stimme war deutlich lauter geworden.
Mit seiner Feststellung, man habe ihr gekündigt, hatte Werner einen wunden Punkt getroffen. Sie hätte zwar auf einer Weiterbeschäftigung bestehen können auf Grund ihrer langjährigen Betriebszugehörigkeit und ihres Alters, sah die Sache aber realistisch. Man hatte ihr einen neuen Arbeitsplatz in der Rechnungsprüfung angeboten, was aber gar nicht ihr Metier und bestimmt keine zufriedenstellende Tätigkeit für sie war. Außerdem wären ihre neuen Kollegen dort lauter ganz junge Leute um die zwanzig, zu denen sie sicher nur schwer Kontakt aufgebaut hätte; das galt auch für ihre mögliche unmittelbare Vorgesetzte. Also hatte sie schweren Herzens der Aufhebung ihres Arbeitsvertrags zugestimmt und würde sich eben eine neue Beschäftigung suchen müssen, obwohl es so gar nicht in ihre Lebensplanung passte. Sie war erst gerade ein bisschen über fünfzig. Einen möglichen neuen Arbeitgeber würde sie höchstens durch Berufserfahrung beeindrucken können und auch nur dann, wenn sie die Gelegenheit dazu bekam. Eigentlich hätte sie ja gern weiter in ihrer Firma gearbeitet bis zu ihrem sechzigsten Lebensjahr, um dann in den Ruhestand zu gehen und zu sehen, was ihr das Leben sonst noch so bot. Nun musste sie sich nach diesem ›Sonst-noch-so‹ eben früher umsehen.
Viele Jahre war sie in der Kundenserviceabteilung ihrer Firma, einer Maschinenfabrik für hochwertige Antriebstechnik, beschäftigt gewesen. Sie hatte die Arbeitsberichte der Techniker geschrieben, mit den Kunden Kontakt aufgenommen, Termine vereinbart, Reklamationen bearbeitet und die Rechnungen vorbereitet. Das Verhältnis zu den Kollegen war freundschaftlich, ihre Unterstützung wurde von ihnen sehr geschätzt. Sie fühlte sich wohl unter all den Männern, die zwar auch ihre Eigenheiten hatten, sich ihr gegenüber aber immer zuvorkommend verhielten. Zickenkriege, wie sie in den hauptsächlich weiblich besetzten Abteilungen gelegentlich ausgetragen wurden, gab es nicht.
Bei einer Abteilungsbesprechung im letzten Frühjahr war dann die Hiobsbotschaft verkündet worden, dass man die Techniker in Kürze mit intelligenten elektronischen Geräten ausstatten werde, die alle Arbeitsabläufe zentralisiert abdecken sollten, das gesonderte Schreiben der Arbeitsberichte im Büro überflüssig machen und auch gleich die Rechnungsstellung veranlassen sollten. Auch die Terminplanung sollte nur noch elektronisch erfolgen. Und natürlich diente das Gerät gleichzeitig als Telefon. Man müsste sich lediglich durch verschiedene Menüs klicken und alles würde wie von Zauberhand in die Wege geleitet werden. Das sah ja auf der Präsentation, die da locker-flockig vorgetragen wurde, recht einfach aus, dennoch war die Skepsis der Leute groß. Einige standen dieser modernen Technik doch eher ablehnend gegenüber und befürchteten, Termine würden im Chaos enden und die Kundenreklamationen ins Unermessliche steigen. Aber alle Zweifel wurden weggewischt. »Sie bekommen selbstverständlich entsprechende Schulungen, auch vertiefend für den Umgang mit Ihren Kunden. Sie werden mehr und mehr Berater und Partner für Ihre Kunden sein, ein großer Vorteil, auch für Sie persönlich! Und mehr Reklamationen bedeuten auf der anderen Seite doch auch mehr Kundenkontakt. Sehen Sie es positiv!«
Ausgesprochen negativ war allerdings, dass Katharinas Stelle mit einem Federstrich vernichtet wurde. Das war nicht nur ihre eigene Empfindung, die Kollegen zeigten sich ebenso betroffen. Sie war ihnen eine stets verlässliche Anlaufstelle gewesen. Immerhin hatte der Geschäftsführer die Leistungen und das Engagement von Frau Katharina Berger überschwänglich gelobt und ihren großen Anteil am Erfolg der Firma herausgestellt. Aber den brauchte man nun ja offenbar nicht mehr. Künftig gab es dafür intelligente elektronische Geräte.
Nun wollte Katharina zuerst einmal dafür sorgen, dass Werner seine Sachen packte und das Feld räumte; diesen Abend konnte sie keine Gesellschaft gebrauchen. »Sei nicht böse, ich bin einfach etwas nervös«, sagte sie versöhnlicher. »Geh nun bitte nach Hause, wir treffen uns morgen Abend in der Kneipe, wenn du magst.« Er machte ein beleidigtes Gesicht, packte aber seine Tasche und zog sich die Jacke über. »Ich verstehe schon; der Mohr hat seine Schuldigkeit getan und so weiter. Ich dachte, wir hätten so viele Gemeinsamkeiten, dass wir zusammen leben könnten. Warum hast du dich denn überhaupt mit mir eingelassen? Hast du gedacht, dieser Trottel kommt gerade recht, wenn ich mal einen Mann brauche? Bitte sehr, der Mohr geht.«
Damit wandte er sich zum Gehen. Katharina hielt die Tür auf und sagte: »Nimm es nicht persönlich! Du bist ein sehr netter Mann, aber ich muss unabhängig sein, das habe ich dir mehrfach gesagt; du willst es nur nicht einsehen.« Katharina ärgerte sich, dass er immer wieder davon anfing. Sie hatte einfach nicht die Absicht, sich an einen Mann zu binden, oft genug hatten sie darüber gesprochen. Und sie würde sich keinesfalls umstimmen lassen; Punkt. Sein Verhalten in den letzten Wochen hatte ihr einen Vorgeschmack darauf gegeben, was von einem engen Zusammenleben mit ihm zu erwarten war. Es würde sehr wahrscheinlich darauf hinauslaufen, dass sie rackerte und den Haushalt versorgte, während er Sofa und Fernseher belagerte und sich bedienen ließ. Ganz sicher keine Aussichten, die bei ihr Begeisterung erweckt hätten. Sie fand es schon ausgesprochen nervig, dass er die Zeitungen immer in der ganzen Wohnung verteilte und sich nicht an ihr Rauchverbot hielt. Und ständig jemanden in der Wohnung herumlungern zu haben, dem man alles hinterherräumen musste, grenzte an eine Horrorvorstellung.
Schließlich ging er. »Also, wir treffen uns morgen?«, fragte er noch resigniert, sie nickte nur und schloss erleichtert die Tür hinter ihm. Er hätte wenigstens Danke für das kostenlose Logis sagen können, grummelte sie ärgerlich vor sich hin, stattdessen fühlte er sich als ›Mohr‹; unglaublich! Sie suchte nach einer passenden Vase, um die Blumen ins Wasser zu stellen. Der Strauß war ja wirklich wunderschön, verschwenderische Sommerblüten in Weiß, Gelb und Blau.
Katharina hatte keinen großen Appetit und machte sich nur einen kleinen Teller mit Antipasti zurecht, Tomaten, Oliven, Paprika, etwas Salami und Käse, ein paar Scheiben Baguette und ein Glas Wein. Ihr Abendessen genoss sie gemütlich auf dem Balkon; das schöne, warme Wetter musste man ausnutzen.
Ihre Gedanken schweiften zurück zu ihren beruflichen Anfängen. Nach der Schule hatte sie eine kaufmännische Lehre absolviert, ihre Mutter hatte darauf bestanden. »Du brauchst eine solide Berufsausbildung, die dir ein festes Einkommen sichert. Später kannst du immer noch irgendwelchen Neigungen folgen«, hatte sie bestimmt. Katharina hatte sich gefügt; so recht wusste sie ohnehin nicht, welche berufliche Richtung sie einschlagen sollte. Und der kaufmännische Bereich erwies sich dann doch als recht interessant, nach ein paar kleinen anfänglichen Schwierigkeiten.
In ihrer Firma hatte Katharina stets gern gearbeitet, es war ein vielseitiges, technisch geprägtes Geschäft. Zunächst war sie im Einkauf eingesetzt, dann im Versand, schließlich als gute Seele der Servicetechnik, wo sie viele Jahre blieb, bis zuletzt. Man schätzte ihre Fähigkeit, Vorgänge exakt, verständlich und sofort umsetzbar zu beschreiben, so dass jeder Kollege wusste, was Sache war und seinem Kunden auch entsprechend Auskunft geben konnte. Ernsthafte Reklamationen gab es selten. Aber die mit elektronischer Hilfe zu erwartende Steigerung derselben sollte ja zu noch mehr Kundenkontakt führen. Nun, Katharina konnte das egal sein, allerdings taten ihr die Kollegen Leid.
Und sie? Wie sollte sie nun einen ganzen Tag, eine ganze Woche ohne feste Zeitplanung ausfüllen? Sie musste sich unbedingt bald eine neue Beschäftigung suchen. Schließlich fühlte sie sich noch topfit, durchaus nicht auf dem Weg ins Rentnerdasein. Sie hatte auch äußerlich keine Ähnlichkeit mit einer baldigen Seniorin, fand sie.
Katharina schenkte sich noch ein Glas Wein ein. Obwohl es langsam kühl wurde, wollte sie noch nicht schlafen gehen und hüllte sich in eine Decke. Sie musste an ihre Kindheit denken. Ihre Eltern hatten eine Kneipe in der Südstadt gehabt und waren in ihrem Leben als Gastwirte aufgegangen. Papa war der Küchenchef, Mama betreute die Gäste. Wenn Katharina vom Kindergarten und später von der Schule nach Hause kam, ging sie immer zuerst zu Papa in die Küche, der sie hochhob, an seine mächtige Brust drückte und ihr auf beide Wangen einen dicken Schmatz drückte, um dann seiner kleinen Prinzessin etwas Leckeres zu essen zu zaubern. Die Duftmischung aus Dampf aus dem Suppentopf, Bratkartoffeln und leckeren Fleischgerichten weckten in ihr auch nach diesen langen Jahren immer noch heimatliche Gefühle. Und dass sie selbst gern kochte und neue Rezepte ausprobierte, war sicher ein Erbe von Papa. Mama, im Gegensatz zu Papa eine kleine, zierliche Person, war Gastwirtin mit Leib und Seele. Ihr oberstes Gebot war: Die Gäste müssen sich wohlfühlen. Und das taten sie. Das Lokal war jeden Abend gut besucht, die Wirtsleute waren sehr beliebt, nicht nur wegen Papas guter Küche. Dass die Familie über dem Lokal wohnte, war ein großer Vorteil. So fand Mama immer Zeit, Katharinas Hausaufgaben zu überwachen und dafür zu sorgen, dass sie rechtzeitig zu Bett ging. Über dem gedämpften Stimmengemurmel, das aus der Gaststube heraufdrang, schlief das Kind ein.
Eines Tages jedoch wurde das beschauliche Leben jäh beendet. Katharina kam aus der Schule nach Hause und fand die Gastwirtschaft verschlossen. Sie ging durch den Kücheneingang in den Gastraum und sah ihre Mutter weinend an einem Tisch sitzen, um sie herum einige Leute, die sie streichelten und beruhigend auf sie einredeten. Das Kind bemerkte zunächst niemand. Papa war tot. Auf dem Weg zum Großmarkt hatte er einen Herzinfarkt erlitten, an dem er wenige Stunden später verstarb. Für Katharina brach eine Welt zusammen.
Das Leben änderte sich grundlegend. Ihre Mutter musste die Gastwirtschaft aufgeben und auch in ihrer Wohnung konnten sie nicht bleiben. Sie zogen um in einen anderen Stadtteil. Katharina musste die Schule wechseln und brauchte lange, bis sie wieder Freundinnen fand. Mama arbeitete nun als Restaurantleiterin in einem nahegelegenen Hotel. Sie verließ jeden Morgen zusammen mit ihrer Tochter das Haus und kam immer erst kurz vor Mitternacht zurück. Katharina schlief dann meist schon und sie sahen sich erst zum Frühstück. Mama hatte ihr gemeinsames Leben bestens organisiert, es fehlte an nichts, und wenn Katharina Sorgen hatte, war sie immer für ihr Kind da. Als Papa noch lebte, machten sie jedes Jahr zwei Wochen Campingurlaub in Bardolino am Gardasee. Später, als Mama und sie allein waren, gab es nur noch Kurzurlaube in schönen Hotels. Einmal machten sie eine Schiffsreise nach England, die aber buchstäblich ins Wasser fiel, denn es regnete ohne Unterlass. Man konnte das Schiff kaum verlassen und beide fingen sich eine böse Erkältung ein.
Mama veränderte sich, sie wurde streng gegenüber ihrer Tochter. Papas ausgleichende Kraft gab es leider nicht mehr. Die fröhliche Mama von früher, die für ihre Familie und ihre Gäste sorgte und bei allen beliebt war, gab es auch nicht mehr. Sie war zu einer pflichtbewussten, alleinerziehenden Frau geworden. Mit einem Mann aus dem Hotel hatte sie eine längere Affäre, die in großer Enttäuschung endete. Wovon sie ihrer Tochter aber erst viel später erzählte. »Bleib selbstständig, mach dich nicht von einem Mann abhängig!«, schärfte sie ihr ein. »Über Kurz oder Lang sieht er sich anderweitig um und du bist bestenfalls noch eine liebe Gewohnheit für ihn.«
Da war sie schon krank und konnte bald nicht mehr arbeiten. Warnungen und Empfehlungen ihres Arztes hatte sie ignoriert; sie wollte so lange wie möglich sie selbst bleiben und von Operationen nichts wissen. Katharina tat alles für sie, sorgte für sie, soweit es ihr neben ihrer eigenen Berufstätigkeit möglich war. Als sie dann schließlich doch ins Krankenhaus ging, war es ein Abschied für immer. Dass Katharina schwanger war, erfuhr sie nicht mehr. Katharina behielt die Wohnung und lebte dort zusammen mit ihrer Tochter, als diese auf der Welt war. Auch sie zog ihr Kind, ihre Tochter Michaela, allein groß.
Michaelas Vater war ein Kollege gewesen. Katharina und er hatten eine Zeit lang bei der Erstellung von Musterbüchern zu den Produkten des Unternehmens eng zusammengearbeitet und viel Lob für ihre Leistungen geerntet. Bei einem größeren Mitarbeitertreffen war es dann passiert; sie waren sich sehr nahe – zu nahe – gekommen. Leider war er verheiratet und hatte zwei Kinder. Außerdem war er auf dem Sprung ins Ausland; er sollte in der neu gegründeten belgischen Niederlassung der Firma die Geschäftsführung übernehmen. Ein uneheliches Kind hätte seine Karrierepläne womöglich zunichte gemacht, denn der Firmeninhaber hielt streng auf Moral. Und seine Frau hätte ganz sicher die Scheidung eingereicht. Also einigten sie sich darauf, dass Katharina ihn nicht als Vater angab und dafür von ihm eine beträchtliche Geldsumme erhielt, die ihr das Leben sehr erleichterte. Glücklicherweise machte ihr der Firmenchef keine Vorhaltungen wegen des Kindes. Ob er wusste, wer der Vater war, erfuhr sie nicht.
Am nächsten Morgen konnte Katharina ausschlafen, was sie eigentlich auch vorhatte. Aber natürlich wachte sie um sechs Uhr auf, wie sie es seit Jahren gewohnt war. Also kochte sie Kaffee und machte sich Frühstück, so wie immer. Der große, durchaus angenehme Unterschied war, dass sie sich überhaupt nicht beeilen musste und die Tageszeitung gemütlich bei Radiomusik und einer weiteren Tasse Kaffee lesen konnte. Es war Anfang September, noch beste Urlaubszeit, aber Katharina hatte keine Lust auf eine Reise. Sie würde sich einige Wochen gönnen, um ihren Haushalt in Ordnung zu bringen, verschiedene Dinge wie Kleidung, Schuhe, Zeitschriften auszusortieren und einen gründlichen Hausputz zu veranstalten. Ansonsten wollte sie die Ruhe auf ihrem Balkon genießen, solange das Wetter schön war, die Geranien pflegen und dann ohne Eile ihr Vorhaben in Angriff nehmen, sich eine neue Arbeit zu suchen. Genaue Vorstellungen hatte sie davon nicht; nur wollte sie nicht wieder den ganzen Tag im Büro sitzen und, wenn möglich, höchstens drei Tage in der Woche arbeiten. Mal sehen, dachte sie; irgendetwas wird sich schon finden.
Doch ihre Planungen wurden durch einen Anruf ihrer Tochter Michaela zunichte gemacht. »Ich muss nächste Woche bis Ende des Monats nach Madrid und dort eine Ausstellung ausrichten und betreuen. Mein Kollege, der das eigentlich machen sollte, liegt nach einem Unfall im Krankenhaus. Du bist meine letzte Rettung! Kannst du es irgendwie einrichten, dass du diese zwei Wochen frei nimmst und nach Augsburg kommst? Die Kinder haben keine Ferien mehr und Lars kann jetzt nicht schon wieder Urlaub bekommen, schon gar nicht mehrere Wochen.«
»Doch, das kann ich einrichten«, sagte Katharina spontan zu. Dass sie gerade ihren letzten Arbeitstag absolviert hatte, brauchte Michaela nicht zu wissen. »Wann genau fährst du weg?«, fragte sie. »Nächsten Sonntag. Mir fällt wirklich ein Stein vom Herzen! Wenn ich diesen Auftrag hätte absagen müssen, wäre ich vermutlich meinen Job los geworden.« Dann besprachen sie noch ein paar allgemeine, praktische Dinge und Katharina trug ihrer Tochter Grüße an die Familie auf. Hausputz und große Entsorgungsmaßnahmen waren erst einmal verschoben, zumindest teilweise; stattdessen Kofferpacken, Zeitung abbestellen, Postlagerung beauftragen, Fahrkarte kaufen.
Für Michaela war es gewissermaßen die Ultima Ratio, ihre Mutter um Hilfe zu bitten. Ihr Verhältnis war immer etwas gespannt gewesen, seit sie im Alter von etwa zwölf Jahren von ihr wissen wollte, wer ihr Vater war und kurz und bündig zur Antwort bekommen hatte: »Ein verheirateter Mann, ein Kollege. Seine Familie wusste nichts davon, er ist dann ins Ausland gegangen. Ich habe keinen Kontakt zu ihm gehalten und dich allein großgezogen. Du siehst ihm jedenfalls nicht ähnlich.« Michaela hatte ihre Mutter eine ganze Zeit lang regelrecht gehasst für diese Aussage und sich minderwertig und sehr zerrissen gefühlt. Alle ihre Klassenkameradinnen hatten einen Vater, manche einen geschiedenen, der nur alle zwei oder drei Wochen für sie Zeit hatte, aber sie hatten wenigstens einen! Als ihre Mutter ihr einmal einen Freund vorstellte, hoffte sie einerseits, sie würde doch noch einen Vater bekommen, er war ja ein sehr sympathischer Mann. Andererseits befürchtete sie, da könnte noch ein Bruder oder eine Schwester ankommen und sie dann nur noch die zweite Geige spielen oder zum Kindermädchen degradiert werden. Aber beides trat nicht ein; ihre Mutter erlaubte ihm nicht, bei ihrer Tochter Vater zu spielen und wollte keine enge Verbindung zu ihm aufbauen.
Katharina managte ihr Leben und das ihrer Tochter ganz selbstverständlich und mit großer Umsicht allein und es fehlte ihnen an nichts. Obwohl sich Anweisungen und Erziehungsmaßnahmen ihrer Mutter sehr in Grenzen hielten, hatte sich Michaela eingeengt gefühlt. Sofort nach dem Abitur war sie daher zum Studium nach Nürnberg gegangen, mit großzügiger finanzieller Unterstützung durch ihre Mutter über all die Jahre, die natürlich hochwillkommen war. Trotzdem hatte sie sich fast vollkommen von ihr abgenabelt und erzählte ihr nur sehr wenig aus ihrem Leben. Kontakte gab es per Telefon zum Geburtstag, Besuche manchmal zu Weihnachten, ansonsten herrschte oft monatelang Funkstille, woran sich aber beide nicht sonderlich störten. Sie dachten, solange ich nichts höre, ist alles in Ordnung.
Dass ihre Tochter ein Kind erwartete und heiraten wollte, erfuhr Katharina eine Woche vor dem Hochzeitstermin. Sie fuhr natürlich nach Augsburg, wo Michaela nun lebte, obwohl sie keine ausdrückliche Einladung erhalten hatte. Trotzdem war es eine schöne Feier in kleinem Kreis. Michaela stichelte zwar, dass ihre Mutter nicht das Glück gehabt hatte, einen Mann fürs Leben zu finden. Aber Katharina nahm es hin, dass ihre Tochter offenbar hin und wieder das Bedürfnis hatte, ihre Mutter zu provozieren. Sie selbst hielt sich ja auch durchaus nicht für eine ideale Mutter, ihr fehlte der Gluckeninstinkt.
Sie hatte die Lebensmaxime ihrer Mutter übernommen, die da lautete: Eine Frau muss selbstständig sein und ihren Mann stehen. In diesem Geiste war Katharina erzogen worden und sie hatte ihn vollkommen verinnerlicht. Auch sie war durchaus selbstständig, ließ sich nicht in ihr Leben dreinreden und widmete sich ihrem Beruf und der Erziehung ihrer Tochter, der es an nichts fehlen durfte. Natürlich versuchte sie, ihr ebenfalls diese Selbstständigkeit zu vermitteln. Sie war immer für ihre Tochter da und dachte, ihr Bestes getan zu haben. Dass Michaela eigentlich etwas anderes wollen, so etwas wie die Geborgenheit einer größeren Familie vermissen könnte, kam ihr nicht in den Sinn.
Katharina war sehr erleichtert, dass sich ihr Schwiegersohn Lars Westermann als ein ausgesprochen sympathischer Mann erwies, der seine Aufgaben als Familienvater ernst nahm. Von Beruf war er Personal- und Wirtschaftsberater, hatte einen gut bezahlten Job in München und war oft bis spät abends im Büro. Das gehörte in dieser Branche wohl dazu, er beklagte sich nicht. Jedenfalls akzeptierten er und Michaela beide die beruflichen Ambitionen des Partners und unterstützten sich gegenseitig, was Haushalt und Kinderbetreuung anging, so gut wie möglich. Katharina fand das sehr bemerkenswert. Üblicherweise blieben die häuslichen und erzieherischen Pflichten doch weitgehend an der Frau hängen, aber nicht bei ihnen; sie wechselten sich in allem ab und waren bestens organisiert.
Katharinas Enkelkinder, die nun fast vierzehnjährige Livia und die achtjährige Mara, zwei hübsche, äußerst intelligente, aufgeweckte Mädchen, sah Katharina – wenn überhaupt – nur einmal im Jahr und musste ihre Gesichter immer ein bisschen weiter oben suchen. Die Kinder wuchsen ja so schnell! Livia würde sie bald überragen, so dass sie zu ihr aufsehen musste. Nun, da sie nicht mehr arbeitete, wäre es doch sicher nett, etwas näher zusammenzurücken und sich häufiger zu besuchen? Natürlich ohne dass man sich gegenseitig lästig wurde. Es würde ihr die Gelegenheit geben, ihre Enkelkinder besser kennenzulernen. Sie könnte zum Beispiel die Geburtstage mit ihnen feiern und sähe sofort, ob ihre Geschenke Anklang fanden. Wenn sie immer nur Päckchen schickte, ging die Freude ja häufig an ihr vorbei. Mal sehen, ob sich das irgendwie regeln lässt im Laufe der Zeit, dachte sie. Jedenfalls würde sie diesen Wunsch bei ihrer Tochter sehr behutsam vorbringen müssen, damit sie sich nicht gleich wieder bevormundet fühlte. Und sie war nun doch etwas besorgt, wie sie die kommenden Wochen mit Enkelinnenhüten überstehen würde; eigentlich kannte sie die Kinder doch kaum. Hatte sie am Ende zu schnell ihre Bereitschaft erklärt?
»Jetzt bist du fünfzig; allmählich solltest du dich doch mal nach einer passenden Frau umsehen?« Mario Bienert und sein Freund Frank Lechner saßen noch zusammen bei einem Bier im Kasino der Polizeihauptverwaltung, nachdem sich die anderen Kollegen verabschiedet hatten. Runde Geburtstage wurden immer groß gefeiert. Mario nickte nur, sagte aber nichts. »Einige unserer Kolleginnen wären durchaus nicht abgeneigt. Wenn du schon mit keiner von ihnen etwas anfangen willst, musst du eben außerhalb suchen, auf der Straße oder im Internet.« Mario nickte wieder. Frank gab noch nicht auf. »Du kannst doch nicht den Rest deines Lebens ganz allein bleiben, wo jetzt deine Mutter nicht mehr lebt. Du wirst auch nicht jünger und du willst doch sicher nicht bis an dein Lebensende für Liebe bezahlen müssen? Wie unsere oberste Heeresleitung dazu steht, weißt du doch.« Frank schätzte seinen Kollegen sehr, sie arbeiteten seit langen Jahren zusammen und hatten auch privat häufig Kontakt, sie wohnten nur zwei Häuser voneinander entfernt.
Früher hatte Mario nichts anbrennen lassen, wie man so sagt, er hatte viele Frauenbekanntschaften gehabt. Bei seinem guten Aussehen hatte es ihm auch nie an Gelegenheiten gefehlt. Aber zu einer festen Beziehung war es bisher nicht gekommen. Familie sah ja bei anderen Leuten ganz nett aus, aber er fürchtete sehr um seine persönliche Unabhängigkeit. Er wollte nicht durch eine Frau oder gar Kinder in die Pflicht genommen werden. Als dann seine Mutter schwer erkrankte, kümmerte er sich aufopferungsvoll um sie bis zu ihrem Tod. Freundinnen hatte er seit dieser Zeit nicht mehr gehabt. Dass er gelegentlich zu einer ›Professionellen‹ ging, hatte er Frank einmal verraten, als der zu einem Grillfest in seinem Garten auch eine Freundin seiner Frau eingeladen und gehofft hatte, Mario würde Feuer fangen. Das geschah aber nicht. Mario fand die Frau sympathisch, mehr nicht, verhielt sich ihr gegenüber höflichfreundlich und wollte keine weitere Verabredung; sie war nicht sein Typ. Außerdem war sie ganz offensichtlich auf Männerfang aus und er wollte den Abend nicht als ihre Trophäe beschließen. Also blieb alles unverändert, Mario war nach wie vor Single, die möglicherweise interessierten Kolleginnen gaben resigniert auf und orientierten sich anderweitig.
Mario seufzte; er mochte es nicht, wenn sich andere Menschen in sein Leben mischten, auch wenn Frank es sicher nur gut meinte. »Du hast ja recht«, sagte er versöhnlich. »Aber das musst du schon mir überlassen. – Brechen wir auch auf?« Mario packte seine Geburtstagsgeschenke in einen Karton, überreichte der hocherfreuten Kantinenwirtin die diversen Blumensträuße, die er bekommen hatte und verabschiedete sich von Frank: »Also dann, bis morgen in alter Frische!«