Achtsam scheitern

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Achtsam scheitern
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Impressum

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Eulenspiegel Verlag – eine Marke der

Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten.

ISBN E-Book 978-3-359-50094-0

ISBN Print 978-3-359-01394-5

© 2020 Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut Berlin,

unter Verwendung von Fotos der Autorin von

Emanuel A. Klempa und eines Fotos von

tomertu /AdobeStock

www.eulenspiegel.com


Inhalt

Schöne neue Ökowelt

Achtsam am Arsch …

Green Lifestyle früher vs. Green Lifestyle heute

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Ausmisten mit Marie Kondo

Ich finde Chaos voll in Ordnung

Zero Waste im Badezimmer

Du riechst so schön nach Apfelessig

Tantra-Torben und ein Haufen Liebe

Einsam, zweisam, achtsam

Unverpackt

Total verkackt

Achtsame Momblogger

Stoffwindeln mit Montessori-Mathilda

Konsumfrei durch die Weihnachtszeit

Früher war weniger Lametta

Falsche Schönheitsideale

Baby, zieh’ die Alfstrumpfhose an!

Das Achtsamkeitsseminar

Rosinenmeditation für Anfänger

Easy entschleunigen mit Corona

Hilfe! Ich muss jetzt selber kochen

Liebesgrüße aus der Lausitz

Gemeinsam einsamen

Schöne neue Ökowelt

Achtsam am Arsch …

»Wir brauchen das Auto eigentlich gar nicht mehr«, erklärt Mona stolz und streichelt dabei verträumt über den Lenker ihres funkelnagelneuen Lastenfahrrads, mit dem sie bald die kleine Mathilda und den Benedict-Hector vom Hatha-Yoga für Neugeborene abholen kann. Gerade eben hat sie mit ihrem neuen SUV mit Pedalen versehentlich einen E-Roller und zwei Passanten umgenietet, aber das ist nicht so schlimm – immerhin sollen die Fahrradwege im Stadtzentrum bald Lastenradmutti-tauglich erweitert werden. Nach oben und unten ist ja noch massig Platz. Es dauert ungefähr eine halbe Stunde, bis sie das Monstrum vorm Bahnhof mit sieben Sicherheitsschlössern abgesperrt hat. Den Einwand ihres Mannes, sie blockiere damit eine Feuerwehrzufahrt, hat sie dabei gekonnt ignoriert.

Auch Gatte Manuel verzichtet seit kurzem auf seinen PKW. Obendrein hat er, trotz Tätigkeit im deutschlandweiten Vertrieb einer veganen Hundefutterfirma, all seine Inlandsflüge gestrichen und reist fortan ausschließlich mit der Bahn. Mit einer ordentlichen Portion Glück im Reisegepäck geht das genauso schnell, und er bekommt sogar manchmal einen Sitzplatz.

Unser alter Freund Denis lässt sich gar nicht mehr in der Innenstadt blicken. Er hockt jetzt im brandenburgischen Outback und hantiert im eigenen Garten. Einen Großteil seiner Lebensmittel baut er selbst an. Slow Food und so. Ständig schwärmt er uns von der Ruhe und der malerischen Landschaft vor und endet jedes Mal mit einem ausgedehnten »Ihr müsst uuunbedingt vorbeikommen. Es ist traumhaft hier!«

Mona und Manuel hatte er sofort angefixt. Seitdem sie mit den Zwillingen schwanger sind, suchen sie aktiv nach einem Ort, an dem ihre beiden Bio-Bälger optimal gedeihen können. Ihnen schwant, dass die Drei-Zimmer-Wohnung im Prenzlauer Berg bald ausgedient hat. Mich hingegen machte die ganze Promotion für Denis’ neuen Lebensmittelpunkt von Anfang an skeptisch. Wenn es da wirklich sooo toll ist, wieso muss man es dann explizit betonen? Das ist wie mit der kleinen Pummelfee, die jedem ungefragt erzählt, wie viel Sport sie treibt. Und warum zur Hölle weiß niemand von diesem paradiesischen Naherholungsgebiet?! Noch nie habe ich Leute sagen hören: »Also, das Karwendelgebirge, naja … Aber die Lausitz, Leute! Die Lausitz! Einfach wow!« Aber ich lasse mich gern eines Besseren belehren. Und nun verlassen Mona, Manuel und ich mit nur dreiundzwanzig Minuten Verspätung den Ostbahnhof, um Demeter-Denis einen Besuch abzustatten.

Die Entschleunigung beginnt bereits in der Regionalbahn. Keine Ahnung, wie der Tourismusverband der Region das retten will, aber ein Abenteuer ist die Fahrt im Lausitz-Express nicht gerade: Wald – Feld – Wald – Feld – Kuhkaff – wieder Wald – noch ein Feld, und das alles über eine Stunde lang und komplett ohne LTE. Das mit dem Breitbandausbau lohnt sich wahrscheinlich nicht, weil die wenigen Ortsansässigen das Internet gar nicht kennen.

Aber malerisch ist die Landschaft wirklich. Das muss man ihr lassen: hier ein Feld, da ein Baum, noch schnell ein paar Regenwolken – zack! Fertig gemalt. Da hat der Künstler nicht viel Arbeit.

»Meine Lieben, schaut mal! Er wartet schon auf uns!«, unterbricht Mona meine Gedanken, als der Zug in den Bahnhof unserer brandenburgischen Zielmetropole einfährt. Tatsächlich – da steht unser kord­hosentragender Ex-Berliner winkend an Gleis 1 (es gibt nur eins), um seine Gäste in Empfang zu nehmen.

»Hier, probiert mal!«, ruft er uns noch vorm ersten Hallo aufgeregt zu: »Das ist Brunnenkresse, frisch geerntet. Kann man prima an den Salat machen.« Sein breites Grinsen verrät, dass Brunnenkresse außerdem super in den Zahnzwischenräumen hängen bleibt. Wir umarmen ihn und freuen uns, dass die alte Gang nach langer Zeit wieder vereint ist. Die Brunnenkresse schmeckt interessant. Ein echt guter Tipp, falls ich mir einmal ein Kaninchen zulegen sollte. »Noch ein kurzer Fußmarsch, dann sind wir da«, erklärt Denis, der neuerdings ein kleines bisschen nach Kompost riecht, und wir folgen ihm auf einer verlassenen Straße in Richtung Gartenidyll. Vierzig Minuten später stapfen wir immer noch querfeldein. Er muss ziemlich viel von seiner Kresse geraucht haben, wenn er tatsächlich glaubt, dass er nah an Berlin wohnt. Mona ist bereits in siebten Monat und kommt richtig ins Schwitzen, aber glücklicherweise erreichen wir das Ziel noch vor Einbruch der Dunkelheit und vorm Einsetzen der Spontangeburt.

Das alte Bauernhaus steht am Rande einer winzigen Ortschaft. Der verwilderte Garten ist riesig und zwischen den urigen Obstbäumen quietscht leise eine Hollywoodschaukel. Es ist wirklich schön hier, das muss ich zugeben.

»Hier, probier mal!«, ruft Denis schon wieder und hält mir dieses Mal einen bis zur Unkenntlichkeit verschrumpelten Apfel unter die Nase. »Das ist der Holsteiner Cox, frisch geerntet. Da sind alle möglichen Vitamine drin. Superfood aus der Region sozusagen.«

»Alles klar! Dachte schon, das wäre Sonya Kraus ohne Make-up«, versuche ich der kulinarischen Belästigung mit einem kleinen Scherz entgegenzutreten. Doch Denis’ Dackelblick verrät mir, dass ich um die Verkostung des runzligen Teils nicht drumherumkommen werde. Hoffentlich zwingt er mich nicht, einen Beutel voll davon mit nach Hause zu nehmen.

»Mmmmh«, raunt uns Mona genüsslich entgegen. Ihr schmecken die Teile offensichtlich köstlich. Sie hat es sich auf der Hollywoodschaukel gemütlich gemacht, knabbert sich tapfer durch ihr Äpfelchen und setzt zu einem mahnenden Vortrag darüber an, was der unachtsame Verzehr eines Lebensmittels, das NICHT BIO ist, für riesige Schäden bei Embryonen anrichten kann. Das könne sie mit ihrem Gewissen absolut nicht vereinbaren. »Mal ganz ehrlich, meine Lieben – wozu bekommt man denn Kinder, wenn man sie dann vergiftet?!« Eine starke Ansage, wenn man bedenkt, dass sich Mona in den ersten drei Jahren ihrer Karriere bei einer namhaften Werbeagentur ausschließlich von Koks, Prosecco und Reisnudeln ernährt hat.

»Hier! Probiert mal!« Denis drapiert jetzt stolz vier Schnapsgläser auf dem Gartentisch. »Yeah, Alkohol!«, gluckse ich in freudiger Erwartung eines kleinen nachmittäglichen Damenschwipses. »Das sind frische Ingwer-Kurkuma-Shots«, werde ich sofort berichtigt. »Hab ich selbst gemacht. Man muss doch nicht immer Alkohol trinken!«

Mona und Manuel sehen das genauso. Sie schauen mich leicht vorwurfsvoll feat. mitleidig an. »Schon okay«, gebe ich klein bei und proste meinen Freunden brav mit der non-alkoholischen Ingwermischung zu. »Boah, ist das scharf!« Reflexartig ziehe ich meine Wasserflasche aus dem Rucksack und trinke einen großen Schluck, um dem Brennen in meinem Rachen entgegenzuwirken.

»Kraaaass!«, ruft Denis fassungslos in die Runde. »Du kaufst noch Plastikflaschen? Das hätte ich echt nicht von dir gedacht.«

»Kaufe ich ja normalerweise auch nicht«, verteidige ich mich sofort, »aber ich habe meine Glasflasche zu Hause vergessen, am Bahnhof gab es nichts anderes, und ich hatte echt riesigen Durst!« Auch Mona und Manuel sind schockiert: »Meine Liebe, warum hast du uns nicht einfach gefragt? Wir haben doch eine Trinkflasche dabei!« Ich bin genervt. Die tun ja gerade so, als sei die Verschmutzung der Weltmeere allein meine Schuld. Dass ich normalerweise keine Plastikflaschen kaufe, ist die Wahrheit, und mich aus Monas und Manuels Mehrweg-Equipment zu bedienen, kann man mir wirklich nicht zumuten. Egal ob Trinkflasche oder Brotdose: Seitdem die beiden all ihre Lebensmittel im Unverpacktladen beziehen, müffelt es im Deuter-Rucksack ganz gewaltig. Mein Mund hat absolut keine Ambitionen, sich deren Trinkflasche auf mehr als zwei Meter zu nähern. »Ach, und was ich dir vorhin schon erzählen wollte, meine Liebe«, fährt Mona fort, »den Rucksack, den du trägst, gibt es jetzt von diesem neuen Fair Fashion Brand auch aus veganem Leder.«

 

»Also aus Kunstleder?«, hake ich nach.

»Nein, meine Liebe! Aus veganem Leder!«

»Also aus Kunstleder!«

»Nein! Aus VEGANEM!«

Das wird mir echt zu doof. Zeit, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken: »Habt ihr eigentlich mal was von Anni gehört?« Nur mit ihr wäre die alte Clique vollständig. Den Großteil unserer Zwanziger haben wir gemeinsam im Rudel verbracht. Aber auch für Denis, Mona und Manuel ist unsere gemeinsame Freundin wie vom Erdboden verschluckt. Seitdem im letzten Sommer Life-Coach feat. Tantra-Lehrer Torben in ihr Leben getreten ist, hat sich alles verändert. Zur anfänglichen Euphorie über die heilenden Kräfte ihres neuen Zauselfreddis gesellte sich schnell ein schaler, polyamouröser Beigeschmack. Tantra-Torben ist mehrgleisig unterwegs – und das aus Überzeugung. Schließlich muss er doch so viele Damen wie möglich mit seinem güldenen Chakra und dem neuen Slow-Sex-Trend beglücken. Alles andere wäre egoistisch. Und Anni, die hoffnungslose Mono­gamistin, sei natürlich egoistisch und »noch nicht so weit«, wenn sie nachts in ihr Kirschkernkopfkissen heult, weil Torben sich zeitgleich beim Tantra-Festival in Schweden auf irgendeinem Liebeshaufen tummelt.

Vor ein paar Monaten habe ich Klartext geredet. Ich habe Anni gesagt, dass der Tantra-Typ ein emotional verkümmerter Vollpfosten ist, der sie unter dem Deckmantel der Erleuchtung geringschätzig behandelt. Das hat Anni dann Torben erzählt, und Torben hat Anni dann wiederum erklärt, dass ich eine schlimme Energieräuberin sei und sie sich dringend von mir lösen müsse. Und weg war sie. Sie war meine beste Freundin.

»Meine Liebe! Gib ihr ein bisschen Zeit. Sie will sich weiterentwickeln, auf eine neue Ebene kommen. Das ist doch gut.« Mona redet mit mir wie mit einem fünfjährigen Kind. Ohnehin scheint mich hier keiner wirklich für voll zu nehmen. Ich habe irgendwie den Anschluss verpasst.

Achtsamkeit, Meditation, Slow Food, Slow Sex, Zero Waste – das alles ist eine verdammt gute Sache und eine durch und durch positive Entwicklung unserer Zeit. Aber wieso muss der neue Trend gleich sektenhaft praktiziert werden, wie es viele tun? Man kann nicht dreißig Jahre lang täglich seinen »Zott«-Joghurt aus dem Plastikbecher löffeln und dann von einem auf den anderen Tag fuchsig werden, nur weil ein unachtsamer Mitmensch die Naturjoghurtmischung nicht brav aus dem Glas schnabuliert.

»Ich glaube, ich pack’s demnächst mal. Vielleicht gehe ich heute Abend noch was trinken«, sage ich in Vorfreude auf meinen baldigen Aufbruch.

»Aber es ist doch grad so schön hier, meine Liebe!«, ruft Mona. »Die Ruhe, die Natur, unser Beisammensein … Sei doch nicht immer so gehetzt. Wir sind gerade erst zwei Stunden hier. Genieße doch einfach die Zeit! Zeit ist das Kostbarste, was wir haben.«

»Vielleicht sollte sie ein Seminar von dir besuchen«, wirft Manuel verschmitzt ein und tätschelt Monas geschwollene Knie. Sie grinst ihn geheimnisvoll an.

»Was für ein Seminar?«, frage ich nach.

»Alsooo …« Mona macht es spannend. »Ich habe in der Werbeagentur gekündigt und mache jetzt eine Ausbildung zum Achtsamkeits-Coach. So kann ich mich selbst verwirklichen und anderen Menschen helfen, bewusster zu leben.«

Oha. Beim Wort »Coach« stellen sich bei mir direkt die Nackenhaare auf. Außerdem kann ich mir Mona einfach nicht dabei vorstellen, wie sie umringt von semi-verzweifelten Muttis andächtig auf einer Klangschale rumgongt und tief ein- und ausatmet. Es ist doch erst knapp ein Jahr her, dass sie auf einer griechischen Partyinsel vier Tage durchgemacht, ein fremdes Boot zu Schrott gefahren und dem Besitzer dann entschuldigend ihre Möpse gezeigt hat. Da wehte noch ein ganz anderer Wind durch ihren Lifestyle. Und jetzt hat sie sich urplötzlich um 180 Grad gedreht? Ich kaufe ihr das einfach nicht ab.

»Was lernt man denn in deinem Seminar?«, will ich es genau wissen.

»Das kann ich dir sagen, meine Liebe! Man lernt, mehr im Moment zu leben und wertschätzend mit sich selbst und der Natur umzugehen. Viele wissen ja gar nicht, was Achtsamkeit überhaupt bedeutet. Es bedeutet, wach zu bleiben und zu wissen, was du gerade machst. Man spürt ganz tief in sich und den Moment hinein.«

Klingt simpel. Ich setze das Gesagte sofort um und begebe mich ganz bewusst in den Moment. Augenblicklich befällt mich eine Spontandepression: Gerade in diesem Moment sitze ich nämlich fernab der Zivilisation in irgendeinem Garten, und meine drei Freunde, die sich im Zuge ihres neuen Lebenswandels einen seltsamen Körpergeruch angeeignet haben, binden mir halb gare esoterische Weisheiten ans Bein— und das auch noch stocknüchtern. Soll ich mich jetzt tatsächlich noch tiefer in die Situation hineinbegeben, oder kann die weg?

Ich entscheide mich für das Vogel-Strauß-Prinzip und verabschiede mich. Mona und Manuel bleiben noch.

»Eine gute Rückfahrt! Und ein bisschen mehr Achtsamkeit, meine Liebe«, ruft mir die schwangere Coaching Queen säuselnd hinterher.

»Achtsam am Arsch«, entgegne ich frech, werfe meinen Eso-Hipstern ein versöhnliches Grinsen zu und begebe mich auf den Rückweg.

Boah, wohnt der weit weg vom Schuss. Es dauert ewig, bis ich den Bahnhof erreiche. Der Weg ist voller Schlaglöcher, in meinem Kopf dreht sich alles. Haben meine Freunde recht? Bin ich wirklich zu unachtsam mit mir und meiner Umwelt? Musste die Plastikflasche heute wirklich sein? Gibt es nicht zahlreiche Gewohnheiten, die ich in meinen Alltag integrieren kann, um bewusster zu leben?

Ich fasse einen Entschluss: In den kommenden Wochen soll sich mein Leben von Grund auf verändern. Weniger Waste, mehr Meditation. Was die können, kann ich auch. Und obendrein werde ich beweisen, dass es sehr wohl möglich ist, die Erde zu retten und dabei gut zu duften.

Kurz bevor ich in den Regio einsteige, höre ich meinen abgehetzten Freund Denis laut rufen: »Warte! Ich hab noch was für dich!« Er rennt auf mich zu, und bevor die Türen schließen, drückt er mir eine Tüte voll mit schrumpligem Fallobst in die Hand. »Hier! Für dich! Selbst geerntet. Ganz köstlich«, japst er. Ich sage lieb Danke und küsse ihn auf die Wange. Es liegt mir fern, die Gefühle eines jungen, ambitionierten Biobauern zu verletzen.

Der Zug fährt endlich los, und meine Äpfel und ich freuen uns wie verrückt auf die laute, wuselige Großstadt.

Tipp 1: Wenn dich deine Eso-Hipster-Freunde in ein idyllisches, altes Bauernhaus ins WUNDERWUNDERSCHÖNE Brandenburg einladen – sei schlau! Fahr lieber ins Karwendel.

Tipp 2: Ein einfacher Tipp zur Müllvermeidung im Alltag ist die Verwendung einer hübschen Mehrwegtrinkflasche, die du jederzeit mit Leitungswasser wieder auffüllen kannst. Solltest du diese Trinkflasche einmal im Bus vergessen haben, vor dir liegt noch ein weiter Fußmarsch, es sind 35 Grad im Schatten, und der einzige Kiosk weit und breit hat keine Glasflaschen im Angebot – dann ist der Kauf einer Plastikflasche absolut in Ordnung.

Green Lifestyle früher vs. Green Lifestyle heute

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Die Landschaft zieht an mir vorbei. Ich lasse die Lausitz hinter mir und verbuche den Ausflug auf den posturbanen Hipster-Bauernhof als nette Erfahrung, die man nicht unbedingt wiederholen muss. Es ist mir nach wie vor schleierhaft, wie Leute, nur weil sie jetzt irgendwas mit dreißig sind, plötzlich »Juhu« schreien, wenn irgendwo ein Baum steht, an dem etwas Essbares hängt. Alle sehnen sich nach Ruhe und vielen, vielen Einweckgläsern, die mit unbehandelten Köstlichkeiten aus dem eigenen Bestand befüllt werden wollen. Die Öko-Kiste ist nicht mehr gut genug. Der Inhalt muss aus dem eigenen Garten stammen.

Einige machen auch vor einer hauseigenen Getreidemühle nicht halt, um sich fortan den Gang zum Bäcker zu sparen und obendrein die persönliche Insta-Story mit einem »einfachen« Brötchenrezept und einem fetzigen Dinkel-Bumerang zu füttern. Wer richtig kreativ ist, sucht sich draußen noch ein paar neckische Zweige, drapiert sie in einer schlichten Vase und stellt seinen Kindern Naturfarben aus Zwiebelschalen und roter Beete zur Verfügung, damit sich die kleinen Racker an der Ostereierfront mal so richtig austoben können und den Eltern beim Content über #daseinfacheleben ein bisschen unter die Arme greifen. Zum Dank ernten sie zahlreiche lobende Kommentare von anderen Öko-Neulingen, die auch Kinder und Eier zu Hause haben. Als »ganz fantastische Idee« und »zauberschöne Naturdeko« werden die bräunlichen Dinger dann von der Community betitelt. Maßlos übertrieben, wenn man bedenkt, dass dies die Beschreibung für ein paar völlig unspektakuläre Hühnereier ist. Mich kann man mit dem In-Szene-Setzen von Grundnahrungsmitteln auf jeden Fall nicht hinterm Ofen vorlocken.

Ein Strauch mit Himbeeren, ein Bund frische Petersilie oder ein Kartoffelbeet ist doch nichts Aufregendes, sondern ganz alltäglich. Im Gegensatz zum Großteil der Lifestyle-Umweltschützer wurde ich auch nicht urplötzlich von der Tatsache überrascht, dass wir mit überflüssigen Verpackungsmaterialien den Planeten zumüllen, und mir ist wahrlich nicht neu, dass Upcycling und Tauschgeschäfte eine umweltfreundliche Alternative zur westlichen Konsumgeilheit sind. Diese Grundregeln einer nachhaltigen Lebensweise sind mir seit über dreißig Jahren geläufig. Dafür haben meine Eltern gesorgt.

Es begann 1989. Kaum war die Mauer gefallen, schon versuchten sich Mutti und Vati in der Rettung der Erde. Es gab immer was zu tun: Die Autobahn musste verhindert, die Kröten über die Straße getragen und die Einwegverpackung vermieden werden. Sie waren die allerersten Ökos auf weiter Flur, und die Flur war wirklich verdammt weit, weil wir aus einem klitzekleinen Kaff in Thüringen stammen. Hätte man meinen Oldies ein Handy gegeben, einen Instagram-Kanal eingerichtet und sie in die heutige Zeit gebeamt, wären sie mit Sicherheit Greenfluencer des Jahres geworden. Louisa Dellert und ihre Haarbürste hätten alt ausgesehen. Chapeau vor dieser Weitsicht.

Aber leider war die Gesellschaft damals noch nicht sensibilisiert dafür, und Ökö sein auf dem Land war in erster Linie eins: sehr, sehr peinlich! Man dachte sofort an Jesuslatschenträger, die ihre lange, ungepflegte Mähne mit Eidotter waschen und kratzige Pullover tragen. Was soll ich sagen? Diese Beschreibung war zutreffend. T-Shirts mit niedlichen Micky-Maus-Motiven oder der pinkfarbene Badewasserzusatz mit Sprudel sind nur zwei der vielen Kindheitsfreuden, die mir verwehrt blieben. Zwar hatte ich früh verstanden, dass man bewusst mit seiner Umwelt umgehen muss, war täglich im Wald und liebte Tiere und Pflanzen, aber ich hätte eben auch mal gern eine Capri-Sonne getrunken.

Sehnsuchtsvoll blickte ich in den Hofpausen auf das Trinkpäckchen und den Kinder Maxi King des Banknachbarn, während ich in mein leberwurstbeschmiertes Graubrot biss, das immer nach Boskop schmeckte, da es die ersten drei Schulstunden dicht an dicht mit zwei bräunlichen Apfelschnitzen in einer kleinen, muffligen Brotdose verbringen musste. Überhaupt wusste ich nie so recht, ob ich gerade in den Apfel oder ins Brot biss, denn die Leberwurst hatte auch auf dem heimischen Obstsnack ihre Spuren hinterlassen. Es war deprimierend. Wenn alle Kinder glückselig die Schokoladenmilch aus dem Tetrapack schlürften, musste ich den selbst gemachten naturtrüben Apfelsaft (mit Betonung auf trüb) aus einer uralten Trinkflasche süffeln. Niemals verirrte sich eine Bifi oder gar ein Überraschungsei in meinen beigen Lederschulranzen der Marke Waschbär. Mein Flehen nach Naschereien dieser Art wurde stets mit dem Satz »So einen Plastikmüll kaufen wir nicht!« abgelehnt. Da diese Phrase zu Hause als Universalantwort auf quasi alle meine Wünsche erwidert wurde, haben es auch Barbies Traumhaus, der Einkaufspalast von Polly Pocket oder das niedliche Sticker-Album mit den Glitzeraufklebern nie in mein Kinderzimmer hinein geschafft.

 

Neben dem Plastikmüllargument gab es einen zweiten Evergreen: »Das kann man doch auch selber machen!« Meinen Eltern war es ernst damit. Anstelle zweier anständiger Fußballtore streuten wir Linien aus Sägespänen, Barbies Wohnmobil durfte ich aus Pappkarton nachbauen, und anstatt der obligatorischen Benjamin-Blümchen-Geburtstagstorte bekam ich einen selbst gebackenen Hefezopf mit sieben Bienenwachskerzen oben drauf. Es gab absolut nichts, was nicht selbst hergestellt oder selbst gebastelt werden konnte. Hierbei galt: Alles, was glänzt und glitzert, ist der Feind, Naturtöne sind viel schöner. Leuchtende Farben waren meinen Eltern ein Graus, da diese in der Natur so nicht vorkommen (zumindest nicht in Thüringen). Einmal präsentierte ich ihnen vorwurfsvoll meine Lieblingsseite im Tui-Reisekatalog, auf der Meerwasser in schillerndem Türkisblau abgebildet war. Diese Darstellung wurde von den Oldies als Fake News abgetan, und man verwies mich auf die matschgrüne Plörre der heimischen Werra. Ich blieb skeptisch und schlug vor, den nächsten Familienurlaub in der Karibik zu verbringen, damit wir uns von der Intensität der Farbe selbst überzeugen konnten. Noch heute höre ich meine Eltern laut lachen. Natürlich fuhren wir an die Mecklenburgische Seenplatte, so wie jedes Jahr. Dort gab es einen urigen Zeltplatz, und mein Vater hatte obendrein einen Forschungsauftrag, der irgendetwas mit Fledermäusen zu tun hatte. Verdammt spannend für eine Siebenjährige, die Prinzessin werden will. Wie gern hätte ich damals über die modernen Möglichkeiten der Bildbearbeitung verfügt, um meinen Sommerurlaub in der Postproduktion etwas aufzupeppen. Mit den deutschen Tümpeln konnte ich meinen Mitschülern wenig imponieren. Diese verbrachten ihre Ferien längst in Italien oder Griechenland, während wir mit der Bummelbahn durch den Osten tuckerten. Dafür hätte es die Wende wirklich nicht gebraucht.

Meinen Schulkameraden war inzwischen aufgefallen, dass es bei uns »etwas anders« zuging. Kopfschüttelnd rümpften die Glitzermädchen ihre Nase, wenn ich auf Anraten meiner Mutter mal wieder etwas selbst Gemachtes aus Naturmaterialien in den Unterricht mitbrachte. Eines Nachmittags geschah etwas sehr Schönes. Ein Glitzermädchen wollte nach der Schule mit zu mir nach Hause zum Spielen kommen. Das war in der Woche, als alle anderen Kinder die Windpocken hatten. Es lief richtig gut. Wir inspizierten den Garten, und meine neue Freundin interessierte sich brennend für die Frösche in unserem Teich. Sie wollte unbedingt einen küssen, weil sie den restlichen Nachmittag lieber mit einem Prinzen als mit mir verbracht hätte, aber blöderweise schrie sie jedes Mal laut auf, wenn ich einen fing, um ihn aus nächster Nähe zu präsentieren. Die Sache mit dem schönen Königssohn hatte sich also schnell erledigt.

Das eigentliche Desaster begann, als wir unser Haus betraten. Meine Eltern hielten nichts von vorgefertigten Dekoartikeln aus dem Baumarkt. Sie verzierten unseren Flur stattdessen mit Tierpräparaten aller Art. Jeder tote Vogel, den sie fanden, musste ausgestopft und aufs Regal gestellt werden. Das Gleiche galt für Säugetiere, also wurde man beim Eintreten von diversen Uhus, Spechten, Blaumeisen, zwei Füchsen, drei Wieseln und einer fünfköpfigen Dachsfamilie begrüßt. Ich bin heute noch froh, dass meine Eltern nie einen toten Bären gefunden haben. Unseren morbiden Zoo hätte das Glitzermädchen vielleicht noch verkraftet. Der größte Schock durchfuhr sie erst, als wir das Wohnzimmer betraten:

»Habt ihr gar keinen Fernseher?« Ihr hübsches Gesicht hatte das letzte bisschen Farbe verloren, und sie starrte mit offenem Mund auf den Platz gegenüber des Sofas. Anstelle einer Flimmerkiste stand dort eine ausgestopfte Wildkatze. Ich wusste nicht, wie ich angemessen reagieren sollte. Mir graute ja schon vor jedem Montagmorgen, an dem sich die Schulkameraden angeregt über die Mini-Playback-Show austauschten und ich nicht mitreden konnte.

»Klar haben wir einen Fernseher!«, flötete uns meine Mutter aus dem Flur entgegen, die das Gespräch offenbar belauscht hatte. Ich ahnte, was jetzt folgen würde. Schon stand Mutti bei uns im Wohnzimmer, rückte die Wildkatze beiseite und stellte einen braunen Pappkarton mit aufgemalten Knöpfen und einer ausgeschnittenen, viereckigen Öffnung auf die Kommode.

»Macht es euch bequem! Wir haben ganz viele verschiedene Sender!«

Das Glitzermädchen blieb wie angewurzelt stehen, während meine Mutter stolz eine Reihe aneinander geklebter Bilder durch den Monitor zog, um die einzelnen Programme zu präsentierten.

»Auf ARD läuft ein toller Tierfilm und – tadaaa! – auf ZDF eine Dokumentation über bedrohte Pflanzen.« Auf den dazugehörigen Bildern waren zwei Tiger abgebildet und Blumen, die traurig ihre Köpfe hängen ließen. In einer der oberen Ecken standen die Buchstaben der dazugehörigen Sender. Natürlich nur der öffentlich-rechtlichen. Dass nicht mal unser Papp-Fernseher RTL hatte, versteht sich von selbst.

»Und schaut mal hier«, Mutti zog die Rolle ein Stück weiter, »in den Nachrichten wird über die hohe Luftverschmutzung berichtet!« Sie nutzte diesen Aufhänger, um einen ausführlichen Vortrag über Treibhausgase und das Ozonloch zu halten, bis sie ein weiteres Mal »den Sender wechselte«, auf dem (große Überraschung!) schon wieder ein Tierfilm lief. Spätestens jetzt fiel auf, wie einseitig das Fernsehprogramm unseres Pappkartons war. Tiere, Pflanzen, Umweltschutz – und weit und breit kein Disney.

»Was ist denn deine Lieblingssendung?«, bezog meine Mutter nun auch das Glitzermädchen mit ein. Die Kleine hatte immer noch die Sprache verloren, und es dauerte ein Weilchen, bis sie ein leises »Die Gummibärenbande« hervorbrachte.

»Die Gummibärenbande, aha.« Meine Mutter schien enttäuscht. Sie hatte auf eine pädagogisch wertvollere Antwort à la »Als die Tiere den Wald verließen« gehofft. Das war die einzige Kindersendung, die mir meine Eltern erlaubten, wenn ich bei Oma und Opa zu Besuch war. Ich hätte viel lieber etwas Schönes mit Ariel oder einem Märchenschloss geschaut, aber ich war nicht wählerisch. Hauptsache in die Röhre glotzen.

»Na gut!« Meine Mutter hatte eine Idee. »Dann hole ich euch jetzt mal ein paar schöne Buntstifte und ein paar Blätter, und ihr könnt eine ganz tolle Folge dieser Gummitiersendung zeichnen!«

Zwei Minuten später lag ein Stapel umweltfreundliches Papier und eine Federmappe mit unbehandelten Buntstiften auf dem Tisch. Ich hatte Hoffnung, denn ich wusste, wie gern das Glitzermädchen bastelte.

»Da ist ja schon was drauf!«, warf meine Beinahe-Freundin ein und deutete auf die Blätter, deren Rückseite bereits mit dem Slogan »Stoppt die Thüringer-Wald-Autobahn!« bedruckt waren.

»Die kann man doch noch verwenden!«, bediente sich meine Mutter an den Top 3 ihrer Lieblingssätze und legte meinem Besuch eine unbedruckte Vorderseite vor die Nase. Wir legten los, aber schon nach wenigen Minuten wurde dem Glitzermädchen sichtbar langweilig.

»Habt ihr was zu naschen?«, fragte sie zögerlich und erzählte, dass ihre Mutti immer eine Schale mit Schokobons und Mäusespeck bereitstellte, wenn andere Kinder zu Besuch kamen. Jetzt blieb mir der Mund offen stehen. Dort musste es wie im Schlaraffenland zugehen. Meine Mutter wollte Schritt halten und überraschte uns mit einem Teller leckerer, selbst getrockneter Apfelringe, die so zäh waren, dass man sie lutschen anstatt beißen musste. »Hihi! Fast wie Gummibärchen«, feixte sie und wies meinen ahnungslosen Besuch darauf hin, dass Schokobons wirklich unmöglich sind, weil jedes Bonbon einzeln verpackt ist. Abschließend wurde ihr Vortrag mit dem obligatorischen »So einen Plastikmüll kaufen wir nicht!« beendet.

Die Kleine schaute verunsichert drein und malte weiter lustlos auf dem Recycling-Papier herum. »Die Farben sehen alle so komisch aus auf dem grauen Blatt«, bemerkte sie und fragte, ob wir Sticker zum Verzieren hätten. »So einen Plastikmüll kaufen wir nicht«, sagte meine Mutter schon wieder, »aber ihr könnt draußen im Garten ein paar schöne Blätter sammeln und aufkleben.« Damit war der Bogen eindeutig überspannt. Das Glitzermädchen suchte bereits nach einer Exit-Strategie:

»Ähm … Ich muss jetzt nach Hause, ich darf heute noch Super RTL gucken«, sagte sie und schnappte sich ihren pinken Anorak. »Schade«, sagte ich geknickt. »Schade«, hörte ich auch meine Mom sagen, »ihr könnt doch hier schauen!« Doch auch der letzte verzweifelte Versuch, unserem Gast das Recycling-TV schmackhaft zu machen, scheiterte. Für den Rest meiner Grundschulzeit hatte ich nie wieder Besuch. Ich hatte zweifellos den besten ökologischen Fußabdruck aller unter Zehnjährigen, aber Freunde wären mir wirklich lieber gewesen.

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