Magdalene und die Saaleweiber

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Magdalene stellte sich mit dem Jungen neben die Pferde, die noch angeschirrt waren. Hans streichelte das raue Fell, Magdalene warf immer wieder Blicke zu den Männern am Fuhrwerk. Die Begutachtung der Kisten würde noch eine Weile dauern. Als der Kleine die Geduld verlor, spazierten sie zum Federvieh. Zur Hauswirtschaft gehörten fünfzehn Hühner in einem Verschlag neben dem Stall, wo sie in einem Fleckchen Erde scharren konnten. Die Vögel plusterten ihre Federn und hockten sich in die von der Nachmittagssonne warmen Erdkuhlen, wo sie mit ruckenden Köpfen ins Leere starrten.

Dem Kind machte es Spaß, die Hühner zu rufen. Magdalene ließ den Jungen vom Arm gleiten, er war zu schwer, um ihn länger zu tragen. »Put! Put! Put!«, rief er, und ein paar Getreidekörner rieselten aus seiner Faust. Die Tiere erhoben sich und kamen gackernd angerannt, pickten und pickten, selbst als alle Körner fort waren. Mit roten Bäckchen stand Hans bei seiner Mutter und streifte sich die Kleie von den Händen. Magdalene nahm ihren Jungen an die Hand und ging ins Haus. Die Therapie war erfolgreich gewesen, sie hatte sich beruhigt. Sie nahm den Kleinen mit in die Küche, wo er bei den Mägden spielen konnte.

Else kam von oben herunter. Sie betrat die Küche, als hätte sie alle Zeit der Welt und nicht den Vormittag wer weiß wo verbracht, statt zu arbeiten. Auf dem Küchentisch stand die Schüssel, in der Magdalene das Pökelfleisch eingelegt hatte. Else schlenderte in die Stube, gefolgt von Rosina, die sich zu dem Kleinen hockte. Die Altmagd hob den Deckel von der Fleischschüssel und fuhr mit dem Finger durch die Salzschicht, bis sie das Fleisch herausgehoben hatte. Sie sah mit heruntergezogenen Mundwinkeln auf das weiß geäderte Stück. »Das ist ein zerriges Ding«, nörgelte sie. »Dafür hätte ich keinen halben Groschen gegeben.«

Magdalene blieb ruhig. »Es ist zartes Fleisch von einem Kalb.«

»Es ist nicht viel wert. Was an Haushaltsgeld für solches Zeug draufgeht, möchte ich nicht wissen.«

»Das musst du auch nicht wissen. Es geht dich nämlich nichts an.«

Elses Blick bohrte sich wie ein Messer ins Fleisch. Sie zog ein Gesicht, als wäre sie die Herrin und hätte das Recht, ein Urteil zu fällen.

»Das Zeug, das du früher gekauft hast, war auch nicht besser«, platzte Magdalene heraus. »Und Geld hast du dafür genug ausgegeben.«

Die Altmagd sah sie mit einem kalten Blick an, drehte sich um und schleuderte dabei ihre Röcke heftig über den Tisch. Die Schüssel mit dem Fleisch kam ins Trudeln und rutschte über die Kante. Magdalene war vor Schreck wie gelähmt. Rosina hockte bei Hans und konnte nicht schnell genug zugreifen, Gertrud stand zu weit entfernt am Herd, und so passierte es: Das irdene Behältnis zerbarst mit lautem Krachen auf dem Boden. Das Fleisch lag zwischen Salz und Scherben, Magdalene kniete daneben nieder.

»Verzeihung«, reckte Else den Kopf und verließ die Küche, ohne sich um das Unheil zu kümmern, das sie angerichtet hatte.

Magdalene war nicht in der Lage, ihr hinterherzulaufen. Am liebsten hätte sie die Altmagd geohrfeigt, aber Else war an die fünfzig und sie selbst nicht einmal einundzwanzig. Sie mochte sich nicht vorstellen, Else zu berühren, Elses Haut unter ihren Fingern zu spüren und erst recht nicht, sie zu schlagen. Einen Grund für diese Distanz fand sie nicht; Elses Unnahbarkeit vielleicht? Ihre alternde Haut, in die sich wie in Leder Falten zu graben begannen?

Ein schlechtes Gewissen wegen des Preises für das Fleisch oder andere Sachen musste Magdalene nicht haben. In ihrem Haushalt ging es ordentlich zu. Jeder Pfennig war in ihrer Ausgabenliste belegt, die Küche sparsam bewirtschaftet, wie es sich gehörte. Georg Rehnikel schob seiner Frau samstags an seinem Pult ein Häufchen Münzen zu, das er sorgfältig gezählt und in sein Buch eingetragen hatte. Magdalene nahm es an sich und trug es ins Schlafzimmer, wo sie ihr eigenes Geldkästchen verstaut hatte. In ihrem Buch notierte sie, was sie ausgab, rechnete, summierte und überprüfte. Jede Woche behielt sie ein paar kleine Münzen übrig. Die Ersparnis würde ihr eines Tages erlauben, sich einen Wunsch zu erfüllen, einen Gürtel vielleicht oder ein seidenes Tuch. Magdalene führte ihren Haushalt selbstständig und genau. Wenn es eine wichtige Sache gab, die Georg für sie regeln musste, war es Elses Rauswurf.

Draußen verließ das Fuhrwerk den Hof. Es schien, als wäre die Gelegenheit gekommen, ihr Anliegen auf den Weg zu bringen.

Magdalene fand ihren Mann im Kontor, den Ellenbogen auf sein Schreibpult gestützt. Das Kontor war die kleine Stube hinter dem Erkerzimmer, der Durchgang zu ihrem gemeinsamen Schlafzimmer. Alles, was das Geschäft anging, bereitete Georg dort vor, er schrieb Bestellungen, führte Bücher und Korrespondenz. Das Stübchen beherbergte nicht viel mehr als das Schreibpult, seine Truhe und die große Bibliothek – so hieß der verschlossene Schrank mit allen Büchern und Papieren. An der Wand über der Truhe hing ein gerahmtes Bildnis von Augusta, Georgs erster Frau, die dreieinhalb Jahre zuvor gestorben war. Augusta war dürr wie eine Spitzmaus gewesen, wenn das Bild nicht log. Es musste zu einer Zeit gemalt worden sein, als sie schon krank war; ihre Haut schien, wenn der Maler es richtig wiedergegeben hatte, stumpf und bleich, das Lächeln mühsam, und die rote Schleife in ihrem Haar wirkte, als hätte sie die seit ihren Kindertagen vergessen abzunehmen. Das Schreibpult stand gegenüber der Wand mit der Truhe. Georg musste, wenn er von der Arbeit aufblickte, dieses Bildnis sehen. Er sah Augusta in die Augen, und sie schien zu fragen: Was tust du, Georg?

An diesem Platz stand er, ein dickes Buch vor sich auf dem Pult, und tauchte die Feder in regelmäßigen Abständen in das Tintenfässchen. Sorgfältig schrieb er Zahlen in eine Liste. Verblichene und frische Tintenflecke färbten seine Fingerkuppen. Als Magdalene neben ihn trat, sah er kurz auf. »Ach, du bist es«, murmelte er, »achtunddreißig und drei Quent und Muskatenöl sieben … Gibt es etwas?«

»Ich habe da ein Anliegen«, Magdalene zögerte.

Seine kurzen Finger fassten die Feder weit vorn. Er stieß immer wieder an den Rand des Fässchens und beschmierte sich mit der schwarzen Tinte. Georg Rehnikel war klein und dick, mit einer wachsenden Glatze, die oben auf dem Kopf spiegelte und von einem Kranz dunkler Haare umgeben war. Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, kam er ihr mit seinem dicken Bauch und den weichen Bewegungen wie eine große Kugel vor. Seine Augen konnten vollständig rund werden, wenn er staunte. Wenn er ernst war, glänzten sie dunkel wie Flusskiesel, und die dichten schwarzen Wimpern ließen ihn sanft erscheinen. Georg Rehnikel war kein Kämpfer, sondern friedfertig und von ausgleichendem Charakter. Mit ihm konnte sie stundenlang ein Problem von allen Seiten beleuchten; wo sie sich in Zorn redete, blieb er voller Zurückhaltung und Sachlichkeit. Georg besaß einen glänzenden Humor, der in unerwarteten Momenten aufleuchtete, wie bei vielen Menschen, die gute Zuhörer sind. Er war kurzatmig, errötete schnell und schwitzte an warmen Tagen wie ein Käse in der Sonne.

Georg war schon achtundvierzig, also siebenundzwanzig Jahre älter als sie. Sein Alter brachte Lebenserfahrung mit sich, die ihm durch Menschenkenntnis und Gelassenheit erfolgreiche Geschäfte eintrug. Die nutzten allen.

Er legte die Feder zur Seite. »Was drückt dich, Lenchen?«

Verlegen knüpfte sie die Bänder ihrer Schürze. Sie musste es vorsichtig anfangen und durfte nicht mit der Tür ins Haus fallen.

»Die Else«, sie trat einen Schritt näher, bis sie dicht vor ihm stand. »Wie lange willst du sie in unserem Haushalt behalten? Ich meine, wenn man älter wird, verliert man Kräfte und Fähigkeiten. Man merkt es Else schon an.«

Ein friedliches Lächeln ergriff sein rundes Gesicht. Die Knopfaugen glitzerten. »Du bist ein guter Mensch, Lenchen, sorgst dich um alle, nicht wahr?«

Sie schluckte. Georg glaubte an das Gute in allen Menschen. Seine Freundlichkeit nahm ihr den Wind aus ihren Segeln.

»Die Barmherzigkeit ist eine unserer wichtigsten Aufgaben im Leben«, erklärte er. »Ich freue mich an deiner Demut. Du tust, was unser Herr in der Heiligen Schrift sagt: ›Wer gütigen Auges ist, der wird gesegnet werden, denn er gibt von seinem Brot den Geringen.‹ Viel zu wenige Menschen sind von tätiger Liebe beseelt! Stell dir vor, wir würden die, die nicht mehr für andere arbeiten können, ihrem Schicksal überlassen. Wir hatten viele Jahre lang unseren Nutzen von ihrem Fleiß, deshalb sind wir ihnen schuldig, sie im Alter zu stützen. Genauso wollen wir es mit Else halten. Sie ist bald fünfzig, das heißt, sie kann noch gut und gern zwanzig Jahre bei uns arbeiten. Wenn sie eines Tages zu alt für die Arbeit ist, soll sie weiter bei uns bleiben. Sie kann in der warmen Stube sitzen und den Kindern Märchen erzählen.«

Magdalene schluckte. »Was wäre, wenn sie ausreichend Eigentum hätte, um sich selbst zu versorgen? Leinen, Geschirr, Bettzeug?«

Georg zuckte die Schultern. Seine Antwort klang unbesorgt. »Woher sollte sie das haben? Ihr Mägdelohn ist nicht hoch genug, dass sie sich Hausrat kaufen kann.«

Magdalene antwortete vorsichtig: »Sie könnte Geld gestohlen haben.«

Georgs friedliche Miene verschwand wie der Sonnenschein hinter einer fliehenden Wolke. Sein Finger ragte steil und tintenbefleckt in die Luft. »Else stiehlt nicht. Das sind böswillige Vermutungen. Schlechte Reden des einen über den anderen dulde ich in meinem Haus nicht.«

»Das ist nicht bloß Gerede, ich habe Fakten. Weißt du, was sie heute getan hat? Sie hat die Schüssel zerbrochen, in der ich das Fleisch pökele, und zwar mit Absicht …«

Noch während sie redete, merkte sie, dass das vor Georg wie Kleinkrämerei klingen musste. Eine zerbrochene Schüssel war in seinen Augen unwichtiger als ein heruntergefallenes Pfefferkorn. Was zeigte schon die Sache mit der Schüssel? Nichts. Schüsseln können nun mal herunterfallen. Das war kein Beweis für Elses Aufsässigkeit.

 

Sie setzte noch einmal zu reden an, wollte ein neues Beispiel nennen, aber Georg wiegte den Finger. »Sei endlich still! Ich dulde keine bösen Reden!« Er ließ den Finger sinken. »Es ist Sünde, seine Zeit mit Bosheit gegeneinander zu vergeuden.« Er tauchte seine Feder in das Tintenfass, bekleckerte sich erneut mit einem Tintenspritzer und schrieb weiter in sein Buch.


4. KAPITEL


In den Stunden nach dem Gespräch mit Georg brannte der Zorn gegen ihre Altmagd so heftig wie noch nie in Magdalenes Brust, aber je mehr Zeit verging, umso mehr beruhigte sie sich. Bisher hatten Elses Vorzüge die Nachteile überwogen, weil sie sich fleißig und geschickt anstellte und alle Arbeiten beim Kochen, Putzen und in der Vorratshaltung so perfekt beherrschte, dass man viel von ihr lernen konnte. Magdalenes zornige Gedanken bekamen im Lauf der folgenden Stunden helle Wölkchen. Nach drei Tagen konnte sie sich wieder vorstellen, mit Else friedlich zusammenzuleben.

Else musste früher eine schöne Frau gewesen sein. Das Besondere waren ihr Lächeln und das Strahlen ihrer blauen Augen, das sie manchmal zeigte, wenn sie sich unerwartet über etwas freute. In solchen Fällen schien es, als würde sie sich nach kurzer Zeit selbst zur Ordnung rufen, um zu ihrem gewohnten missgelaunten Gesicht zurückzukehren.

Das Beste waren Elses gutmütige Momente. Die tauchten hin und wieder zu Beginn der Dämmerung auf, wenn die Frauen die Arbeit in der Küche fast geschafft hatten und langsamer wurden, wenn ihnen die Arme vom Häckseln, Raspeln oder Kneten schwer waren, wenn das Licht sank und die Sehnsüchte sich auf das Abendessen richteten. In dieser Zeit konnte Else ins Reden kommen. Manchmal redete sie von früher. Alle alten Leute waren so, das wusste Magdalene. Die Jungen taten die schwere Arbeit und die Alten genossen das Privileg, manchmal die Arme sinken zu lassen und zu reden.

Wenn Else von früher redete, dann meinte sie ihre Zeit in Weißenfels. Nach dem zu urteilen, was sie am Rand erwähnte, war sie ein bettelarmes Mädchen gewesen, selbst Tochter einer einfachen Hausmagd, und von einem Vater redete sie nie. Es musste eine schöne Zeit gewesen sein, trotz des Hungers, von dem Else sprach, als wäre sie stolz darauf, trotz der Flöhe, die sie zur Genüge gespürt und der Lumpen, die sie getragen haben musste.

Else kam nur ins Erzählen, wenn sie die Anwesenheit ihrer Herrin vergaß. Magdalene versuchte sich in solchen Momenten nicht zu rühren, sie fragte nicht nach, sagte keinen Ton. Vielleicht würde, hoffte sie, damit etwas aus Else aufbrechen, ein freundlicher, liebenswerter Kern, der alles gut machte. Sie stellte sich vor, wie Else als junges Mädchen am Saaleufer zusammen mit anderen Kindern gelacht und gekichert hatte, die blonden Haare aufgeflochten, ein schönes Mädchen.

Else kannte eine Menge Geschichten. Ihre Geschichten von früher gingen unmerklich in Sagen über, in Märchen. Sie glitten aus Elses eigenen Erlebnissen in die Welt von Feen und Hexen, woben sich aus dem Stoff der Jugend am Saaleufer in die Welt der Erzählungen anderer. Manchmal, wenn es Rosina oder Gertrud zu viel wurde, fragten sie nach und sagten, dass sie ihr nicht glaubten. Else behauptete jedes Mal, nichts als die blanke Wahrheit zu sagen, und dann stritten die Mägde. Magdalene musste still im Hintergrund bleiben und zuhören, wie sie für eine Weile zankten, aber jedes Mal kam der Streit zu einem schnellen Ende, denn die Hoffnung auf eine Fortsetzung der Geschichten ließ die jungen Mägde klein beigeben.

So war es auch an einem dämmrigen Abend eine Woche nach dem Tag, an dem Else begonnen hatte, sich besonders schlecht zu benehmen. Magdalene war draußen gewesen und hörte, dass Else in der Küche zu reden angefangen hatte. Sie trat in den Korridor und erhaschte die ersten Worte. Wenn sie in die Küche ginge, würde Else sofort aufhören, deshalb blieb sie vor der halb offenen Küchentür stehen und lauschte. Einen freundlichen Abend mit einer schönen Geschichte konnten alle gut gebrauchen, damit wieder Frieden ins Haus einkehrte.

»Seid still, sonst rede ich nicht weiter«, schimpfte Else. Sie hatten also gestritten.

»Schon gut«, hauchte Gertrud. Rosina runzelte die Stirn, das sah Magdalene vom Korridor aus, weil die Kindermagd am nächsten zur Tür stand. Es konnte sein, dass Else gleich eine besonders gute Sage erzählte, es konnte aber auch sein, dass sie beleidigt war und schwieg. Dieses Mal redete sie weiter.

»Hört zu«, fuhr Else fort, »die Saaleweiber sind gewissermaßen das Gegenteil der extraordinären Weiber. Die sind Gott nahe und vom Glauben durchdrungen. Die Saaleweiber dagegen sind teuflisch und tragen Aberglauben unter die Menschen. Es gibt sie, seit es den Teufel gibt. Am Anfang hat unser Christentum sie niederringen können, aber jetzt treiben sie wieder unbehelligt ihr Werk, die Saaleweiber. Und warum? Weil keiner mehr glaubt, dass es sie gibt.«

»Saaleweiber«, wiederholte Gertrud ängstlich.

»Saaleweiber sind gewöhnliche Hexen. Es ist diese Art Hexen, die es hier in der Gegend gibt.«

»Versündige dich nicht, Else«, murmelte Rosina.

»Wenn es doch wahr ist?«, seufzte Gertrud.

Elses Stimme grub sich in die Küchenluft. »Die Saaleweiber haben magische Kräfte.«

»Zauberkraft! Gibt’s die neuerdings auf dem Markt zu kaufen? Woher sollen sie die haben?«, spottete Rosina.

Else wurde lauter, als sie antwortete. »Aus einem magischen Ritual. Sie übertragen einander ihren Zauber durch ein Tieropfer.«

»Was für ein Tieropfer?«, fragte Gertrud mit zitternder Stimme.

»Sie schlachten ein Huhn oder einen Hasen und lassen den Kadaver an einem geheimen Ort liegen. Wenn die Knochen weiß geworden sind, nehmen sie sie an sich. Dort drin steckt die magische Kraft.«

»Und was machen sie damit?«

»Sie behalten sie oder geben sie an eine andere weiter. Die kleinen Knochenstücke sind es, die machen aus den gewöhnlichen Frauen Hexen.«

»Hexen?« Gertrud war kaum noch zu verstehen.

»Saaleweiber sind Hexen. Sie können schwimmen und tauchen, sie können sich sommers wie winters unterm Wasserspiegel der Saale verstecken, vor allem, wenn sie in Gefahr geraten. An Land sehen sie aus wie Menschen, aber wenn sie ins Wasser gehen, verwandeln sie sich in Fische. Sie treffen sich unten am Ufer, abends um die Stunde, bevor die Tore schließen. Das fällt nicht weiter auf. Sie sehen aus wie gewöhnliche Hausfrauen, die können nicht nachts verschwinden, sondern nur abends, wenn alle glauben, sie wären in alltäglicher Sache unterwegs.«

»Wann, um welche Zeit? Wenn ich das Abendessen vorbereite?«, fragte Gertrud.

»Um die Stunde, wenn Rosina den Hans hütet und Herr Rehnikel im Kontor arbeitet. Ich habe um diese Zeit mit meinem Gebet zu tun, ihr seht doch, dass ich mich jeden Abend auf den Boden knie und bete.«

Für einen Moment herrschte Grabesstille, bevor Gertrud hinzufügte: »Das ist genau die Stunde, in der Frau Rehnikel den französischen Armen Brot bringt. Sie sagt, das wäre Barmherzigkeit.«

Die Stille begann zu knistern und breitete sich in der Küche aus.

Magdalene vor der Tür schnappte nach Luft. Warum hatte Else die kleine Gertrud dazu gebracht, solch eine Ungeheuerlichkeit auszusprechen? Damit sie hinterher sagen konnte, sie hätte nicht selbst gegen die Herrin gehetzt?

»Ach was, sie bringt wirklich Brot zu den Armen«, fuhr Rosina heftig in das Schweigen hinein. »Was sollen die Andeutungen, Else! Wir treffen oft welche von den Franzosen, wenn wir zum Markt gehen. Sie sind freundlich und bedanken sich bei unserer Meisterin.«

»Franzosen, dieses Ketzerpack!« Elses Stimme vibrierte dunkel vor Verachtung. »Wer weiß, wofür die sich bedanken.«

Magdalenes Herz klopfte heftig. Das leise Wohlwollen, das sie noch wenige Augenblicke zuvor für Else empfunden hatte, war wie fortgeblasen. In Else steckte kein Staubkorn von Liebenswürdigkeit, diese Frau war nur böse. In ihren Augen standen nichts als Gift und Galle. Else glaubte, schlauer als alle anderen zu sein und dachte, Rosina und Gertrud auf ihre Seite ziehen zu können. Sie meinte, sich selbst als besonders gläubig und Magdalene als Hexe hinstellen zu können. Magdalene legte eine Hand an den Türrahmen und sah, dass ihre Finger zitterten.

Elses Stimme hüpfte höher. »Es betrifft nicht alle, sondern nur die Frauen, die das Amulett besitzen.«

»Was für ein Amulett?«, fragte bebend Gertrud.

»Ein Amulett, das sie an einem Lederband um den Hals tragen«, antwortete Else. »Das ist das Schmuckstück, in dem die zauberkräftigen Knochen stecken. An dem erkennen sich die Saaleweiber untereinander. Ansonsten geben sie sich wie gewöhnliche Frauen. Man sieht es ihnen nicht an.«

Ärgerlich antwortete Rosina: »So etwas soll unsere Meisterin haben? Das wolltest du doch sagen, Else. Das glaube ich nicht.«

Es war genug. Magdalene musste dem ein Ende setzen, sonst gelang es Else noch, die jungen Mägde gegen ihre Herrin aufzubringen. Sie klapperte mit den Holzpantinen durch den Korridor, schob die Küchentür weit auf und stellte sich mitten hinein. Magdalene sagte keinen Ton, die drei in der Küche auch nicht. Else rührte mit dem Rücken zu ihrer Herrin am Herd im Suppentopf, Rosina schnitzelte mit abgewandtem Kopf die Rüben. Nur Gertrud sah, während sie die eiserne Platte am Herd abrieb, ihre Herrin unter den gesenkten Wimpern hervor misstrauisch an.

Den Abend und die Nacht über ärgerte sich Magdalene so sehr über Elses Hetzerei, dass sie in ihrem Bauch einen heißen Stein zu fühlen meinte. Selbst am folgenden Morgen steckte der Ärger noch in ihrer Kehle. Sie musste dringend frische Luft atmen, draußen, wo ein kühler Wind ging. Der Himmel lag in einer milchigen Glocke über der Stadt, zartes Rot hinter dem Schleier kündigte Sonnenschein an. Der beginnende Herbst ließ den Frühnebel lange in der Saaleaue liegen, erst am frühen Vormittag stieg er als feuchter Dunst in die Luft. Magdalene holte sich eines der beiden Pferde aus dem Stall und legte selbst den Sattel auf. Das Tier, ein brauner Hengst mit einer weißen Blesse, war ein Ziehpferd für den Lastkarren und kam selten aus dem Stall heraus. Es wieherte und schnaubte, als Magdalene die Sattelgurte festzog.

Else stand, die Arme verschränkt, in der Toreinfahrt. Sie hatte eine frische Haube auf dem Kopf, als wollte sie sich für einen Feiertag aufputzen. Ihr Gesicht glühte, sie zog eine Miene wie ein Wolf, Magdalene meinte sogar ein Knurren zu hören. Sie sprach die Magd erst an, als sie auf dem Pferd saß, eine rein taktische Maßnahme, weil Else ihre Herrin sonst um ein paar Fingerbreit überragte.

»Denk daran, die Pflaumen auf der Dörre zu wenden, und sag meinem Mann, ich wäre zwei, drei Stunden unterwegs.«

»In welcher Art Geschäft?«

Das war keine Frage, die einer Magd zustand. Magdalene ließ Else ohne Antwort stehen. Ihre beste Freundin zu besuchen, lockte sie als Licht am dunklen Himmel ihrer Sorgen.

Sie störte Isabeau bei einer Flickarbeit. Das Flicken war ein mühseliges Geschäft, und Isabeaus morsche Seidenkleider rissen sowieso wieder ein. Magdalene nahm Marthe auf den Arm und zog Isabeau hinter sich her, die tat, als ob sie protestierte, aber sie lächelte dabei.

Magdalene genoss das Reiten. Isabeau setzte sich vor sie, die Beine schicklich zu einer Seite gelegt, und hielt sich an der Mähne des Pferdes fest. Marthe hockte sicher zwischen den beiden, juchzte und lachte. Der gute Braune trottete mühelos mit seiner Last durch das Tor, vor die Stadt, in die schmeichelnde Herbstluft hinein.

Sie folgten dem Flussufer nach Norden und bewegten sich gemächlich über die Wiesen, die im Sonnenlicht ausgebreitet lagen. Die Hufe des Braunen klapperten über das Pflaster an der Dorfkirche von Trotha, eine milde Sonne beschien die Frauen auf dem Weg in die Franzigmark. Isabeau sah die roten Felsen, die das Ufer nördlich der Dörfer am Stadtrand säumen, zum ersten Mal. Die Erhebungen waren mit Strandhafer und wilden Nelken bewachsen, Grillen zirpten aus dem Gras. Über das Blau schossen in schnellem Flug ein paar Schwalben. »Es ist schön hier«, flüsterte sie auf Deutsch, »beinahe so schön wie zu Hause.«

 

Marthe quengelte. Die Frauen stiegen ab und gingen ein Stück neben dem Pferd her. Auf einem flachen Platz oberhalb des Pfades machten sie es sich im Gras bequem. Isabeau summte. Die Freundinnen schauten über den träge dahinziehenden Fluss und rafften die Röcke bis zu den Knien. Am anderen Ufer standen Kühe in den sattfeuchten Wiesen und betrachteten die Menschen mit mahlendem Kiefer. Marthe legte sich ins Gras neben ihre Mutter und schlief ein.

»Vielleicht«, meinte Isabeau, »gewöhne ich mich daran, in der Fremde zu leben. Ich muss oft an zu Hause denken, an meine Heimatstadt.«

Magdalene legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter. »Es muss schön dort sein, wenn deine Stadt so einen großartigen Namen hat: La Roque-d’Anthéron. Es ist eine wunderschöne Stadt, nicht wahr?«

Isabeau winkte ab. »Eine Stadt voller Katholiken.« Sie fuhr mit der Hand über ihre Augen.

Magdalene nickte und streifte mit den Fingern durch den krümeligen Boden. »Ich muss dir etwas erzählen, Isabeau.« Sie sah starr aufs Wasser. »Ich glaube, es könnte stimmen. Das mit dem Kind, das Georg einer Magd gemacht hat.«

»Wieso? Ich hätte nie gedacht, dass du etwas Schlechtes von deinem Mann sagst. Bis jetzt hast du immer zu ihm gehalten.«

»Er glaubt mir nicht mehr. Er hält mich für böse und die alte Else für gut, obwohl sie es ist, die giftige Worte sagt.«

»Du meinst, er ist selbst böse?«

Magdalene zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Es ist nur so, dass ich es früher ausgeschlossen hätte. Jetzt nicht mehr.«

Isabeau überlegte einige Augenblicke und fragte: »Du meinst, er ist vielleicht kein so guter Mensch, wie du dachtest? Hat einer Magd ein Kind gemacht, der alte Bock. Glaubst du auch, dass er das Kind umgebracht hat?«

»Das nicht. So ein Mensch ist er nicht.« Magdalene schüttelte den Kopf. »Komisch ist es trotzdem. Er hat nie etwas von einem Kind gesagt. Es kann daran liegen, dass er nicht gern über sich selbst redet. Wer redet schon ohne Grund über dunkle Stunden in seiner Vergangenheit? Ich habe lange darüber nachgedacht, warum er mich geheiratet hat. Erst dachte ich, es wäre Zuneigung. Aber dann habe ich gesehen, dass er mir nicht glaubt. Es geht ihm nicht um mich. Jetzt denke ich, es war bloß, damit er einen Sohn hat.« Sie sah die Freundin prüfend an. »Hans ist nicht von ihm. Unsere Heirat war ein Geschäft. Ich war das Geschwätz los, und er hatte einen Erben.«

Isabeau schlug die Hand vor den Mund. »So war das? Hans ist nicht sein Sohn? Dann hat er dich aus dem Grund geheiratet, dass er den Leuten den gesunden und lebendigen Hans vorweisen kann.«

»Weil er das Gerücht zum Verstummen bringen wollte, meinst du? Das mit dem toten Kind?«

Isabeau zuckte die Schultern. »Kann sein. Wenn ich diesen Handel neben die Sache mit dem Kind lege, kommt es mir komisch vor.«

»Und ich war so glücklich über den guten Mann, den ich bekommen habe!« Magdalene schlug mit der Faust auf den warmen Grasboden.

Isabeau kniete nieder. Sie faltete die Hände und nickte Magdalene zu, bis ihre Freundin die Aufforderung verstand und sich neben sie kniete. Isabeau schloss die Augen und begann halblaut zu beten. »Gütiger Vater, gib deinen Dienerinnen Kraft, ihre Aufgaben zu erfüllen. Bestrafe die Sünder und belohne die Gerechten, dass sie dich mit ihrer Zunge preisen. Halte deine schützende Hand über Magdalene, dann wird sie dem Aberglauben entsagen und ihr Heil im Gebet suchen. Amen.«

Isabeau kniete mit geschlossenen Augen im Gras. Ihre Lippen bewegten sich tonlos weiter, sie reckte das Gesicht Gott und der Sonne entgegen. Sie öffnete die Augen, drehte sich zu Magdalene und streckte die Hand aus. »Gib es mir.«

»Was?«

»Das Amulett.«

»Warum?«

»Ich werde es in die Saale werfen. Du musst ein großes Opfer bringen, sonst kann Gott dir keine Gerechtigkeit geben.«

»Nein!« Magdalene presste die Hand auf die Brust, wo das Amulett unter dem Stoff lag. »Das verstehst du falsch. Gott ist kein Krämer. Mag sein, dass er etwas von mir will, aber bestimmt nicht mein Amulett.«

Isabeau ließ die Hand sinken. »Wie du meinst.«

Sie schwiegen, jede sah in eine andere Richtung. Die Sonne stieg, die Wärme fing an, auf die Schultern zu drücken. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, standen sie auf und klopften sich das Gras aus den Kleidern. Sie ritten zurück, Marthe döste im Halbschlaf zwischen ihnen. Fliegen summten über Magdalenes Handrücken hinweg. Der Himmel bewölkte sich allmählich, Wind frischte auf.

Auf dem Hof des Spezereienhandels blieben sie einen Moment stehen, da erst nahm Isabeau den Faden des Gespräches wieder auf. Sie konnte keine Verstimmung ertragen. »Du wirst es allein wegwerfen, nicht wahr? Du weißt, dass das Amulett Unglück bringt. An ihm ist nichts Christliches. Es ist Aberglauben.«

Sie sagte das mit einem solch bittenden Augenaufschlag, dass Magdalene nicht wagte zu widersprechen und damit einen Kratzer auf ihrer Freundschaft zuzulassen. Isabeau fügte hinzu: »Vielleicht kann ich dir helfen. Ich habe ein paar alte Rezepte aus meiner Heimat mitgebracht. Der Herr im Himmel hilft dir, wenn du dir im rechten Augenblick selbst zu helfen weißt. Willst du sie haben?«

»Natürlich.« Magdalene fasste versöhnlich ihre Hände.

»Eins ist für dich, es wird dich stärken und fruchtbar machen. Es ist ein Rezept für das Melotenpflaster, was man auf die Brust legen und dort über Nacht liegen lassen soll. Das andere Rezept offenbart dir alles über deinen Mann. Es ist eine Wahrheitsmilch. Sie macht, dass jede Verstellungskunst von einem abfällt und das wahre Gesicht nicht mehr zu verbergen ist. Von der sollst du täglich ein Löffelchen unter sein Essen mischen. Auf diese Weise wirst du erfahren, ob er ein böser oder ein guter Mensch ist.« Sie drückte Magdalenes Hände. »Ich habe die Rezepte extra für dich mitgebracht.«

»Ist die Wahrheitsmilch schwer zu machen?«

»Du musst warmen Wein mit Zimt, Safran und Borax anrichten. Wenn die Milch fertig ist, füllst du sie in eine Flasche und verwahrst sie im Dunklen. Die Milch wirkt stärker, je öfter du sie anwendest.« Sie griff in ihre Schürzentasche, streckte Magdalene die Zettel entgegen und verabschiedete sich mit einem Kuss auf Magdalenes Wange.

Der Waschtag begann, die jungen Mägde schufteten von Sonnenaufgang an, und Else war wieder einmal nicht aufzufinden. Der kleine Hans hing Magdalene am Rockzipfel, Rosina hatte genug zu tun und konnte sich nicht um ihn kümmern.

Am Waschtag wurde aus der Lauge gewaschen, das bedeutete eine Menge kraftraubendes Schleppen und Walken. Zwei Mal im Jahr wuschen sie auf diese Weise, im Frühjahr und im Spätsommer, Hemden, Schürzen und Bettzeug. Die Sonne strahlte hell, das Gras auf der Wiese zeigte seine von einem kräftigen Wind gebeugte silbrige Rückenseite. Das war ideales Wetter für die große Wäsche. Auf den warmen Steinen im Hof roch es nach nassem Staub.

Rosina und Gertrud hatten am Vorabend das Regenwasser aus der Zisterne in den Zuber geschöpft, den sie auf den Hof gestellt hatten. Es war weicher als Brunnenwasser, deswegen brauchte man weniger Lauge. Darin hatten sie über Nacht die Wäsche eingeweicht, das grobe Leinenzeug zuunterst, die feinen Stücke obenauf. Am Morgen legten sie ein dick mit Holzasche bestrichenes Tuch darauf und waren dabei, heißes Wasser aus der Küche nach draußen zu schleppen. Mit dem siedenden Wasser bildete die Holzasche eine Lauge, die wurde durch das Tuch gefiltert und durchdrang die Wäsche. Es roch unangenehm, aber dafür wirkte es umso besser. Wenn das heiße Wasser im Zuber war, mussten alle zupacken und jedes Teil scheuern, und das grobe Schrubben war harte Arbeit. Viele Hände mussten helfen, auch Elses Hände.

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