Loe raamatut: «Das Rubikon-Papier»

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Christoph Güsken

Das Rubikon-Papier

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

Impressum neobooks

1. Kapitel

Als aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es den Herrn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen, und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe.

Gen 6,5-7

Der alte Mann keuchte, während er lief. In seinen Gliedern machte sich Erschöpfung bemerkbar, das war nach vier Kilometern Strecke ganz normal. Ich habe es nicht mehr nötig, mir etwas zu beweisen, dachte er. Lange Zeit habe ich mir etwas darauf eingebildet, dass die Presse über mich schreibt, wie gut ich mich für mein Alter gehalten habe. Dass ich für einen alten Knacker verdammt fit aussehe. Aus rei­ner Eitelkeit habe ich damals angefangen zu joggen.

Trotz der Müdigkeit fühlte Benno von Zabern sich großartig, wäh­rend er die kalte, frische Nachmittagsluft einatmete. Joggen war für ihn kein Sport, sondern eine Form der Meditation. Vier Schritte lang ein­atmen, vier Schritte lang ausatmen. Immer abwechselnd, immer wie­der. Die Welt um ihn herum vergessen, Spaziergänger und Hundebes­itzer, den See, den er umrundete, den Schotterweg, auf dem er lief. Erinnerungen, Ideen und Assoziationen reihten sich wie von selbst in seinen Gedankenfluss ein. Blockaden lösten sich, und Banales trennte sich von Wichtigem. Oft hatte er das Gefühl, wenn er nur lange genug joggte, würde sich sein Leben wie von selbst ordnen, ohne dass er et­was dazu beitragen musste.

Eine schöne Illusion. Sein Leben würde sich nicht von selbst ord­nen, auch wenn er selbst alle seine Mühe darauf verwendete, es würde ihm nicht mehr gelingen. Dafür war es zu spät. Ich kann froh sein, ging es von Zabern durch den Kopf, während er einem entgegenkom­menden Radfahrer auswich, dass es mir wenigstens vergönnt war, ei­nen unge­schönten Blick auf das Chaos zu werfen. Jahre, Jahrzehnte lang habe ich mir in der Rolle des unbequemen Analysten gefallen. Als mir die Augen geöffnet wurden, sah ich im selben Moment, dass ich mir auf nichts etwas einbilden kann. Nicht einmal darauf, reinen Tisch ge­macht zu haben, denn das wird die Dinge nicht mehr ins Lot bringen. Die ganze Zeit war ich mir darüber bewusst, dass ich mir selbst etwas vormache, doch ich habe es eben gern getan. Es war be­quem und brachte mir Ansehen ein.

Der alte Mann verließ den See und bog nach links auf einen Weg ab, der an der Gartenseite seines Grundstücks vorbeiführte. Es war ein großes Grundstück in einer sündhaft teueren Lage, Innenstadt und Parklandschaft in einem. So etwas konnten sich nur wenige leisten. Er gehörte zu ihnen.

Von Zabern musste grinsen. Sich etwas vorzumachen, zahlte sich aus. Nicht nur jetzt, sondern auch später. Vielleicht war das Haus samt Grundstück schon bald nicht mehr viel wert, doch heutzutage konnte man sich selbst aus der Hölle freikaufen, wenn man nur über das nöti­ge Kleingeld verfügte. Die berühmte Volksweisheit, der zufolge ein To­tenhemd keine Taschen hatte, war widerlegt.

Der Jogger verfiel in Schrittempo und stoppte vor seiner Gartentür. Er überquerte den Rasen in Richtung Terrasse. Wenigstens hatte er rei­nen Tisch gemacht. Das war es eigentlich, was seine gute Stimmung aus­machte, nicht nur die Endorfine, die das Joggen freigesetzt hatte. Nach außen hin schien er sich dem Ende seines Lebens zu nähern. Und doch hielt er die Chance eines Neuanfangs in den Händen. Ob­wohl er es nicht verdient hatte.

Am Ende zählt immer nur, was du nicht verdient hast. Das hatte er ir­gendwo gelesen.

Die Terrassentür stand offen. So weit von Zabern sich erinnerte, hatte er sie verschlossen, als er vor einer halben Stunde das Haus ver­lassen hatte. Er blieb stehen und machte ein paar Dehn- und Streck­übungen. Und wenn es das letzte Mal gewesen ist, dass ich diese Stre­cke gelau­fen bin?, fragte er sich. Er war kein Dummkopf und hatte diese Mög­lichkeit von Anfang an in Betracht gezogen.

Benno von Zabern beugte sich vor, um mit seinen Fingern die Zehens­pitzen zu berühren. Richtete sich wieder auf und nahm einen tie­fen Atemzug. Er verwarf den düsteren Gedanken und betrat das Haus. Erst würde er eine Dusche nehmen und danach in aller Ruhe seinen Brief fertigstellen.

Im Arbeitszimmer befand sich ein Mann. Er trug eine braune Leder­jac­ke und stand, dem Ankömmling den Rücken zukehrend, über den Schreibtisch gebeugt.

Von Zabern trat auf ihn zu und bemerkte aus den Augenwinkeln, wie sich eine zweite Person aus dem Schatten der Tür löste. Also doch, dachte er.

„Suchen Sie etwas Bestimmtes, meine Herren?“, erkundigte er sich.

Der Mann am Schreibtisch drehte sich zu ihm um. Er war sehr groß, kräftig gebaut und trug eine spiegelnde Sonnenbrille, was sei­nem Ge­sichtsausdruck etwas Hartes und Unpersönliches gab.

In der Hand hielt er eine Waffe, auf dessen Lauf ein Schalldämpfer ge­schraubt war.

2. Kapitel

Kerkhoff sah auf seine Uhr, schon zum x-ten Mal. Fünfundzwanzig Minuten. So lange wartete er jetzt schon auf seine Verabredung. Er griff nach der leeren Kaffeetasse vor ihm auf dem Tisch und drehte sie in der Hand, was die Kellnerin dazu veranlasste herbeizueilen.

„Darf‘s noch etwas sein?”

Kerkhoff verneinte dankend, erwägte aller­dings für einen Moment, ob er nicht von Kaffee auf Bier umsteigen soll­te. Er ent­schied sich dage­gen.

Dabei sah es ja nicht so aus, als würde aus dem Interview etwas wer­den. Irgendwie hatte er sich das schon gedacht, er war schließlich nicht neu in seinem Geschäft. Kerkhoff hatte schon viele Große aus Po­l­itik und Wirtschaft um ein Interview gebeten und immer gern ge­wartet, wenn man ihn hatte warten lassen. Dafür hatte er sogar Ver­ständnis. Prominente lebten von dem Gefühl, bedeutend zu sein. Dass man sie um ein Interview bat, zeugte von ihrer Bedeutung, aber auch dass man dafür Wartezeit in Kauf nahm. Je mehr, desto bedeutender.

In diesem Fall jedoch sagte ihm sein journalistischer Instinkt, dass er vergeblich wartete.

Dr. Jörg Eichendorf, Abgeordneter des Europapar­laments, würde nicht kommen. Also warum nicht ein Bier bestellen und den Fall abhaken? Es von der positiven Seite sehen: Das hier war Hamburg von seiner schönsten Seite. Heutzutage hatte man nicht oft einen solchen blauen Himmel, der den bevorstehenden Frühling gera­dezu schmeckbar machte. Und an einem solchen Tag saß er in einem lauschigen Café und sah hinaus zu den Landungsbrücken, auf denen sich ameisen­gleich Touristen tummelten. Im Grunde genommen war das nämlich ein gutes Zeichen. Eichendorf ging einem Interview aus dem Weg, als ahnte er, dass unangenehme Fragen auf ihn warteten - das bedeutete doch, dass er, Kerkhoff, auf dem richtigen Weg war. Dass er mit seinen Vermutungen richtig lag. Und das war erstmal das Wichtigste. Wenn der Mann denkt, mich abwimmeln zu können, in­dem er mich einfach versetzt, dann ist er schief gewickelt.

Kerkhoff war vielleicht kein Athlet, aber ein Stehauf-Männchen. Einer, der viel Erfahrung damit hatte, zu Boden zu gehen. Eine echte K.O.-Erfahrung war Gold wert. Strahlenden Siegertypen fehlte sie meistens, deshalb verschwanden sie auch in der Versenkung, sobald es irgendjemandem gelang, sie einmal ins Wanken zu bringen. Kerkhoff dagegen gab niemals auf. Sich immer wieder aufzurappeln, machte den eigentlichen Kämpfer aus. Und dazu gehörte auch, das Gequat­sche anderer Leute nicht besonders ernst zu nehmen, vor allem dann, wenn sie ihn damit nur von den eigenen Zielen abbringen wollten.

„Viele Leute messen einen Journalisten an dem Aufsehen, das seine Story hervorruft“, hatte einer seiner ehemaligen Chefs ihm gepredigt. „Wollen unbedingt die Meldung des Jahrhunderts herausbringen – neueste Enthüllungen über das schwarze Loch, den Yeti oder die Marsmenschen. Du bist zu alt für so etwas.“

Kerkhoff wusste es besser. „Hast du dir schon einmal klargemacht, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass wir Menschen die einzige In­telligenz in diesem riesigen Weltall sind, so gut wie bei Null liegt?“

„Don Quichotte ist auch in die Geschichte eingegangen, weil er davon überzeugt war, gegen Ritter zu kämpfen. Das ändert aber nichts daran, dass es sich um Windmühlen handelte.“

„Abwarten“, sagte Kerkhoff.

Das sagte er meistens. Abwarten. In seinen dunklen Stunden kam es ihm oft so vor, dass dies das Motto seines Lebens war. Und dass er eines Tages genauso wie der berühmte Mann aus La Mancha enden würde, nämlich als Witz der Weltgeschichte. An solchen Tagen geneh­migte er sich meistens einen zu viel oder mehrere. Das machte ihn ab­geklärter und versetzte ihn in die Lage, über seinen eigenen be­schränkten Horizont hinauszusehen, über morgen und sogar übermor­gen hinaus, und meistens schwindelte ihn, wie schnell die Zeit, die noch vor ihm lag, schrumpfte. Wenn seine große Chance nicht bald kam, würde sie ihn gar nicht mehr antreffen, und es würde dabei blei­ben, dass er sein ganzes Leben mit dem Warten an einer Bushaltestelle verbracht hatte. Und all die Leute, die sich rechtzeitig mit dem mage­ren Durchschnitt beschieden hatten, würden triumphieren.

Eine Frau betrat das Café und Kerkhoff starrte auf ihre Beine, die halbdurchsichtige Strümpfe sehr vorteilhaft zur Geltung brachten. Dann stoppte die Frau plötzlich und setzte sich ungefragt an seinen Tisch.

Kerkhoff war überrumpelt. „Kennen wir uns?”, fragte er.

Die Frau widmete sich erst der Kellnerin und bestellte einen schwar­zen Kaffee, dann erst setzte sie ihre Sonnenbrille ab. „Grit van Basten”, sagte sie mit einem niederländischen Akzent. „Ich bin Dr. Ei­chendorfs Assistentin. Sie sind von der Presse?”

„Rudolf Kerkhoff”, sagte Kerkhoff. „Aber woher wussten Sie …”

Frau van Basten überging die Frage. „Hat das von Ihnen geplante In­terview so etwas wie einen inhaltlichen Schwerpunkt?”

„Nun ja”, entschloss sich Kerkhoff zu einer direkten Antwort, „den gibt es in der Tat. Ich wüsste gern etwas über Dr. Eichendorfs zahlrei­che Verbindungen zur Raumfahrtindustrie.”

Die Assistentin nahm ihren Kaffee in Empfang. Sie runzelte die Stirn. „Raumfahrtindustrie? Welche Verbindungen soll es da geben?”

„Genau darüber möchte ich ja gern mit Dr. Eichendorf sprechen. Und über Arca Nostra.”

„Würden Sie mir das bitte erklären?”

Kerkhoff verlor allmählich die Geduld. „Warum sollte ich das tun? Ich habe den langen Weg hierher gemacht, damit Dr. Eichendorf es mir er­klärt. Und ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht ganz, wieso er sei­ne Se­kre­tärin schickt, um mir damit …”

„Assistentin.”

In dem Moment wusste Kerkhoff, dass er verspielt hatte. „Also gut”, sagte er. „Assistentin.”

„Und ich hatte, ehrlich gesagt, für ein Interview mit dem Spiegel ein etwas höheres Niveau erwartet.”

„Na ja, Spiegel ...”

Frau van Basten musterte ihn mit unverhohlenem Misstrauen. „Sie sind doch vom Spiegel?”

„Ja, das kann man so sagen.”

„Also sind Sie es nicht?

„Im Prinzip schon. Sehen Sie, ich habe früher für den Spiegel das eine oder andere gemacht. Seit einigen Jahren bin als ich Blogger tätig und vertrete eine große Öffentlichkeit, die gern auch und ganz beson­ders über Vorgänge informiert werden will, die hinter den Kulissen ab­lau­fen, wie zum Beispiel -”

Grit van Basten knallte die Tasse auf den Unterteller. „Das reicht mir. Es tut mir leid, aber für so etwas habe ich schlicht keine Zeit. Gu­ten Tag.” Sie zog einen Geldschein aus ihrem Portmonee, ließ ihn auf den Tisch fallen und erhob sich. Wenige Sekunden später hatte sie das Ca­fé verlassen.

Kerkhoff bestellte sich jetzt doch ein Bier. Er ließ das kurze Ge­spräch Revue passieren und kam zu dem Schluss, dass es auch nicht viel ge­ändert hätte, wenn er Frau van Basten nicht Sekretärin genannt hätte. Im Großen und Ganzen war er zufrieden. Eichendorf selbst hätte seine Fragen auch nicht beantwortet. Niemand plaudert Dinge aus, von de­nen niemand wissen soll. Aber wenn man wie ich lange genug die­sen Job macht, dann weiß man, dass man die Leichen im Keller nicht fin­det, wenn man einfach so die Treppe hinunter stürmt. Und dass es in jedem Teppich mehr als ein Loch gibt, durch das man manchmal einen Blick auf die Dinge erhaschen kann, die unter ihn ge­kehrt werden.

Als er sich auf den Weg machte, war es schon früher Nachmittag. Er trat hinaus auf den Bürgersteig, atmete die Luft ein, die wieder nach Regen schmeckte. Als er zwischen zwei geparkten Autos auf die Stra­ße trat, um sie zu überqueren, nahm er mit halbem Ohr ein Ge­räusch wahr. Es klang wie das Aufheulen eines Motors. Eine winzige Sekun­de später quietschten in unmittelbarer Nähe durchdrehende Reifen.

Und dann raste etwas auf ihn zu.

3. Kapitel

Das Handy klingelte.

Dünn und aufdringlich piepsend verunglimpfte es ein Thema von Jo­hann Sebastian Bach, einem genialen Komponisten, der das Glück ge­habt hatte, lange vor der Erfindung der Telekommunikation zu ster­ben.

Hauptkommissar Nils Andersen hasste Mobiltelefone, in seinen Augen waren sie die Plage des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Die Mensch­heit glaubte sich im Rausch vollkommener und allgegenwärti­ger Kom­munikation. Spätere Generationen dagegen würden vom Un­ter­gang der Privatsphäre sprechen.

„Ich bin‘s, Tatjana. Hast du Zeit?”

Sie hatten sich vor kurzem getrennt. Tatjana nannte ihn, wenn sie mit anderen sprach, ihren Ex. Er fand, dass sie nicht seine Ex war. Für den Moment konnte man nur sagen, dass sie nicht zusammenlebten.

„Wie man‘s nimmt”, sagte er. „Wir sind auf dem Weg zu einem Tat­ort.”

„Es geht um Luise. Kann sie für ein paar Tage zu dir zu Besuch kom­men?”

„Warum jetzt?”, entfuhr ihm. Schnell korrigierte er sich: „Natürlich, gern. Jederzeit. Ich verstehe nur nicht, warum, schließlich wollte sie bisher nie …”

„Da solltest du sie fragen.” Tatjana wartete.

„Also gut”, sagte er. „Wann?”

„Wie wär‘s mit heute Abend? Und am Mittwoch wolltest du doch so­wieso zum Abendessen kommen. Elmar freut sich schon darauf, dass ihr euch endlich kennenlernt.”

Das war ihr Neuer. Elmar Stieleke. Dozent an der Uni, Kandidat der Linken für ein Landtagsmandat. Was ihre Lebenspartner anging, ging es für Tatjana klar nach oben: erst der Bulle, dann ein Linksintel­lek­tu­eller. Wie gern hätte er Tatjana die Freude gemacht und gesagt, dass die Freude ganz auf seiner Seite sei. „Also gut”, sagte er, „dann am Donnerstag.”

„Wir kochen auch was Leckeres, versprochen.”

Andersen unterbrach die Verbindung und steckte das Smartfone ein. „Das war Tatjana”, sagte er.

Hauptkommissar Frank Grunwald war zwei Jahre jünger als Ander­sen. Eingefleischter Single, der eine ganze Legion von Frauen seine Ex nannte. Andersen kannte ihn schon etliche Jahre als einen Mann, der heimlich dem Prototyp des US-amerikanischen Cop nacheiferte, was wahrscheinlich seinen Erfolg bei den Frauen ausmachte. Heim­lich - weil er gleichzeitig für Filme schwärmte, in denen mutige Kom­missare gegen die da oben und ihre Machenschaften vorgingen, und sich als Kämpfer für die kleinen Leute sah.

Es regnete in Strömen. Andersen machte eine Bemerkung über das lausige Wetter und schaltete die Scheibenwischer einen Gang schnel­ler.

„Angeblich soll es ab nächste Woche besser werden“. Grunwald deu­tete nach links. „Musst du da nicht abbiegen?“

„Keine Ahnung.“ Andersen setzte den Blinker. „In dieser Nobelge­gend kenne ich mich nicht aus.“

Sie bogen in eine Allee ein, die an der nördlichen Seite des Sees ent­lang führte. Schließlich hielten sie vor einer der Villen, deren Grund­stücke direkt an die Grünanlage grenzte, die den See umgab.

Das Haus war weiß getüncht und trug ein Dach aus blankgeputzten blauen Ziegeln. Aufgrund seiner enormen Breite wirkte es wie ein Flachbau, obwohl es zweistöckig war. Den Vorgarten beherrschte ein mannshoher Granitklumpen, der an einen Grabstein erinnerte. Die Haus­tür stand offen.

„Nicht besonders schön, aber ein Palast“, kommentierte Andersen.

„Benno von Zabern“, erklärte Grunwald. „So heißt der Ermordete. Einer der wenigen Promis in unserer Stadt. Er hat Bücher geschrieben und Fernsehsendungen moderiert.“

„Sowas hätte ich auch machen sollen statt Bulle.“ Andersen trat ein und kollidierte mit Lingen, einem Beamten der Schutzpolizei.

„Folgt mir, Kollegen“, sagte der junge Mann.

Durch einen breiten Flur gelangten die beiden Hauptkommissare in ein großes Wohnzimmer, das wie der Leseraum einer Bibliothek wirk­te. Hunderte von Büchern füllten die Regale, die bis zur Decke reich­ten. Der Schreibtisch stand mitten im Raum, mit Blick aus dem Fens­ter über den leicht abschüssigen Rasen zum See hinunter. Seine Schub­laden waren herausgerissen worden und ihr Inhalt, lose Blätter, Disketten und Büroklammern auf dem Boden verteilt. Einen halben Meter von dem Chaos entfernt lag der Tote, ein schlanker Mann, schätzungsweise Mitte sechzig. Er trug Turnschuhe, eine blaue Jog­ginghose und ein kurzärmliges Sweatshirt. Unter den Achseln konnte man Schwitzflecken erkennen.

„Man hat ihn aus nächster Nähe erschossen“, erklärte Dr. Künzel, die Gerichtsmedizinerin, die neben dem Toten stand. Sie deutete auf ein kleines, sauberes Einschussloch in der Stirn des Ermordeten. „Demnach müsste sich der Täter ungefähr dort am Schreibtisch befun­den haben.“ Sie lächelte gestresst. „Aber erst mal guten Abend, die Herrschaften.“

Sowohl Grunwald also auch Andersen waren lange genug bei der Kri­po, um sich mit wenigen Blicken einen Überblick über die Lage ver­schaffen zu können.

„Tja, das nennt man wohl eine Standardsituation“, meinte Ander­sen. „Dieser Mann ...“

„Dr. Benno von Zabern“, sufflierte Grunwald.

Andersen trat zum großen Fenster, wo ein Kollege von der Spuren­si­cherung ein kreisrundes Loch in der Scheibe auf Spuren untersuchte.

„Von Zabern kehrte vom Joggen nach Hause zurück und überrasch­te den oder die Einbrecher auf frischer Tat. Vielleicht bedrängte er ihn, das würde erklären, dass er ihm so nahe kam. Und dass der Täter in Pa­nik geriet und schoss.“

„Wer hat ihn gefunden?“, erkundigte sich Grunwald.

„Nelli Holm, seine Lebensgefährtin“, antwortete Lingen. „Sie ist oben im Schlafzimmer. Ziemlich fertig.“

„Bringen Sie mich zu ihr.“

Während Hauptkommissar Grunwald dem Polizisten zur Treppe folgte, nahm Andersen den Tatort weiter in Augenschein. Einbruch, dachte er, ist die nächstliegende Möglichkeit. Zweite Möglichkeit: Je­mand möchte, dass wir es für einen Einbruch halten.

Um herauszufinden, mit welcher der beiden Möglichkeiten man es zu tun hatte, war es hilfreich, die Unordnung im Raum einer genauen Un­tersuchung zu unterziehen. Es gab nämlich kleine, verräterische De­tails, anhand derer man eine wirkliche von einer nur vorgetäuschten Un­ordnung unterscheiden konnte. Die vorgetäuschte war meist umfas­sender, aber wahlloser. Der Einbrecher hätte beispielsweise reihenwei­se Bücher aus den Regalen ziehen können, um den Eindruck von hek­tischem Chaos zu verstärken. Doch selbst die unteren Böden waren un­angetastet, Bücher standen säuberlich Rücken an Rücken.

Der Täter hatte sich hauptsächlich auf den Schreibtisch konzen­triert. Auf der Platte lag alles wild durcheinander, die Schreibtischlam­pe war umgestürzt und auf einen Aschenbecher gefallen, der seinen Inhalt überall verstreut hatte.

Wie hatte der Schreibtisch wohl ausgesehen, bevor man ihn in ein Cha­os verwandelt hatte? Vorsichtig räumte Andersen den Papierwust mit dem Ärmel zur Seite und legte einen Schreibblock frei. Meine Kleine, stand dort, mit Kugelschreiber geschrieben, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Vielleicht aber ist es auch gar nicht mehr nö­tig. Trotzdem werde ich versuchen, dir zu erklären -

Ein angefangener Brief.

Lingen war wieder zurück und trat neben den Hauptkommissar. „Es sind noch mehr Zimmer im Haus durchwühlt worden“, sagte er. „Im Schlafzimmer hat der Täter eine Vitrine aufgebrochen.“

„Fehlt etwas?“

„Es sieht so aus. Die Vitrine scheint Schmuck enthalten zu haben, je­denfalls steht eine leere Schatulle darin. Wir warten aber noch dar­auf, dass Frau Holm wieder ansprechbar ist und nähere Angaben ma­chen kann.“

„Ein Einbruch macht Sinn.“ Andersen nickte und kratzte sich am Kopf. „Das Haus macht schließlich nicht den Eindruck, als könnte man hier nur wertlose Klunker abräumen.“

Lingen deutete auf den Computer. „Wir fanden das Gerät einge­schaltet vor. Der Ermordete scheint daran gearbeitet zu haben, bevor er zum Jog­gen aufbrach.“

Das leise singende Geräusch des Lüfters, der die Festplatte kühlte, hat­te Andersen bei den vielen Hintergrundgeräuschen bis jetzt nicht wahrgenommen. Er bewegte die Maus, worauf der Monitor zum Le­ben erwachte und ein Verzeichnis anzeigte, in dem sich nur eine Datei befand: Rubikon. „Wollen wir doch mal sehen“, sagte Andersen und wollte das Dokument anklicken. Nichts geschah. Der Bildschirm war eingefroren.

„Sehen Sie das Verzeichnis?“, sagte Lingen. „Wechseldatenträger E. Die Datei befindet sich wahrscheinlich auf einem USB-Stick.“

Andersen überprüfte alle PC-Eingänge. „Wo ist das Ding geblie­ben?“

Drei CDs lagen auf dem Schreibtisch vertreut. Der Kommissar sam­melte sie auf und drückte sie Lingen in die Hand. „Würden Sie mir den Gefallen tun herauszufinden, ob sich die Datei auf einer von ihnen befindet?“

„Da ist noch etwas“, sagte der Polizeibeamte. „Eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Wir fanden das Gerät unter dem Chaos auf dem Schreibtisch.“ Der junge Mann bückte sich, hob es vom Boden auf und drückte einen Knopf.

Es piepste.

„Rudi Kerkhoff hier, der Journalist. Sie erklärten sich freundlicher­weise bereit, mir ein Interview zu geben. Leider stecke ich im Stau und schaffe es nicht, um sechzehn Uhr bei Ihnen zu sein. Wäre Ihnen eine halbe Stunde später recht? Wenn nicht, können Sie mich über Handy erreichen. Ich gebe Ihnen meine Nummer ...“

„Frau Holm benachrichtigte uns um siebzehn Uhr vierunddreißig“, sagte Lingen. „Als dieser Anruf kam, war Herr von Zabern vermutlich joggen.“

Dr. Künzel näherte sich. „Ich bin soweit fertig. Alles nähere wie üblich in meinem Bericht.“

„Sechzehn Uhr dreißig“, sagte Andersen. „Was glauben Sie, Dok­tor, käme das als Tatzeit in Frage?“

Die Rechtsmedizinerin nickte. „Wie gesagt, bis jetzt gibt’s nur Ver­mutungen. Aber sechzehn Uhr dreißig ist eine ziemlich gute Vermu­tung.“ Sie winkte mit einer Zigarette, die sie noch nicht angezündet hatte. „Schönes Wochenende, die Herren. Und ziehen Sie sich warm an. Es soll recht frostig werden.“

Andersen nickte zufrieden. Er ließ die Nachricht noch einmal lau­fen und notierte die Nummer auf dem Zettel. „Kerkhoff, der Journa­list“, sagte er. „Es könnte lohnenswert sein, diesen Herrn kennenzuler­nen.“

Frank Grunwald kam die Treppe herunter und betrat das Wohnzim­mer hinter den Kollegen, die gerade anrückten, um die Leiche abzu­trans­por­tieren.

„Wie geht’s Frau Holm?“, erkundigte sich Andersen.

„Schon besser“, meinte Grunwald. „Sie hat sich schon umgesehen, ob etwas gestohlen wurde.“

„Und?“

„Die Vitrine im Schlafzimmer enthielt eine Schatulle mit einem Col­lier und Ohrringen.“

„Das ist doch schon was.“

„Frau Holm sagt allerdings, dass die Stücke nicht sehr viel Geld brin­gen werden. Es sind Erinnerungstücke, die vorwiegend einen ide­ellen Wert haben.“

„Trotzdem“, sagte Andersen. „Damit sieht die Sache schon rund aus.“

„Sie sind wertvoll für mich, weil Benno sie mir schenkte, als wir uns kennenlernten“, erklärte die Frau, die hinter Hauptkommissar Grun­wald das Zimmer betrat.

Nelli Holm war kräftig gebaut, hatte ein rundes Gesicht und stroh­far­benes lockiges Haar. Sie trug Jeans und einen Wollpulli. Andersen war einen Moment irritiert, aber nicht, weil von Zabern mit einer Frau zu­sammengelebt hatte, die seine Tochter sein konnte. Sein erster Ein­druck war vielmehr, dass diese Frau nicht in ein nobles Haus wie die­ses gehörte, mit seinen Marmorböden und den Legionen von Büchern. Frau Holm schien ihm eher der Typ zu sein, der sich auf einem Bau­ernhof wohlfühlte, naturverbunden und ohne modische Mätzchen.

Er trat auf sie zu. „Hauptkommissar Andersen“, stellte er sich vor. „Bei den meisten Einbrüchen nehmen die Diebe alles mit, das irgend­wie nach Schmuck aussieht. Das ist nichts Ungewöhnliches. Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie eine Liste der gestohlenen Stücke erstellen und uns Fotos an die Hand geben könnten, auf denen sie zu sehen sind.“

„Benno wurde ermordet“, sagte die junge Frau mit monotoner Stim­me. „Aber nicht von Einbrechern, die nur auf Schmuck aus wa­ren.“­

„Vieles deutet darauf hin, dass Ihr Mann gerade im falschen Mo­ment nach Hause zurückgekehrt ist“, sagte Grunwald verständnisvoll. „Dass er wegen eines dummen Zufalls sein Leben verlor, fällt schwer zu ak­zeptieren.“

„Nein“, beharrte Nelli. „So war es nicht.“

„Haben Sie einen bestimmten Verdacht?“, erkundigte sich Ander­sen.

Mit einer Geste umfasste sie das Arbeitszimmer und die Bücherre­gale. „Lesen Sie seine Bücher. Sehen Sie sich seine Fernsehsendungen an. Benno war ein Mann, der gekämpft hat. Er hatte ein Ziel vor Au­gen und war sich immer bewusst, dass er Leuten in die Quere kam. Sie sich zum Feind machte.“

„Wer waren denn seine Feinde?“

„Er legte sich mit der Industrie an, mit Politikern, mit großen Kon­zernen. Vielen von denen war er ein Dorn im Auge.“

„Die Politiker? Oder die Konzerne?“, fragte Grunwald nach. Ein spöt­ti­scher Unterton hatte sich in seine Stimme geschlichen. „Wer von ih­nen hat Ihrer Meinung nach Ihren Mann ermordet?“

Nelli schüttelte trotzig den Kopf.

„Gibt es einen akuten Anlass für Ihren Verdacht?“

„Anlässe gab es immer. Benno war sich im Klaren, dass eines Ta­ges so etwas passieren könnte.“ Sie wandte sich ab und zog ein Ta­schen­tuch.

„Wir werden Sie jetzt erst mal in Ruhe lassen“, versprach Ander­sen, der Grunwald einen vorwurfsvollen Blick zuwarf, und berührte Frau Holm an der Schulter. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte bei uns.“

„Und vergessen Sie die Fotos nicht“, mahnte Grunwald. „Die könnten uns zu den Tätern führen.“