Loe raamatut: «DER KELTISCHE FLUCH», lehekülg 2

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Mahr

Tarcic stöhnte im Schlaf. Schweißnass klebten die Haare an Stirn und Hals des Sehers. Seine Augenlider zuckten heftig und den Lippen entfuhren immer wieder undeutliche Worte. Unruhig wälzte er sich auf seinem Lager hin und her. Keine Frau lag neben ihm, die ihn hätte wecken und beruhigen können, denn er hatte sich schon lange nicht mehr vermählen lassen.

Plötzlich fuhr er schreiend hoch, die Hände zu Fäusten verkrampft, die Augen weit aufgerissen. Einen Augenblick saß er so, dann kehrten seine Sinne zurück. Verwirrt blickte er sich um. Als er begriff, dass er nur geträumt hatte, ging sein schwerer Atem in ein erleichtertes Schluchzen über.

Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, warf er das Schlaffell beiseite und erhob sich von seinem schweißdurchtränkten Lager. Sein Blick fiel auf das Trinkhorn, das auf einem Tischchen neben der Feuerstelle in seiner Halterung steckte. Seine Kehle fühlte sich an, als würde sie verbrennen.

Er eilte auf das Horn zu und ergriff es, doch seine Hände zitterten so stark, dass es zu Boden fiel. Fluchend packte er einige Scheite Feuerholz und warf sie auf die ausglimmenden Reste des Vorabends. Anschließend pustete er so heftig in die Glut, dass das Feuer mit einem prasselnden Schlag wieder aufflammte. Nun wagte er einen zweiten Versuch. Er bückte sich, nahm mit zittrigen Fingern das Horn vom Boden auf, füllte es mit Met und kippte es in einem Zug herunter. Anschließend ließ er sich auf die Sitzfelle fallen, die überall um die Feuerstelle herum lagen, und goss sich das Horn erneut voll. Er leerte das Gefäß abermals, ohne abzusetzen, bis auf den Grund. Einen Augenblick lang saß er mit geschlossenen Lidern da und atmete tief durch, dann füllte er das Horn ein drittes Mal.

„Bei allen Göttern!“, stöhnte er.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und versuchte sich an die Träume zu erinnern, doch was ihn eben noch in nackte Angst versetzt hatte, zog sich nun in die dunklen Regionen seines Unterbewusstseins zurück.

Er erhob sich und schritt zum Ausgang seiner Hütte. Er warf einen Umhang über, schob die Felle, die den Eingang verschlossen, beiseite und trat nach draußen. Eiskalte Luft schlug ihm entgegen. Noch war es dunkel, und das Dorf lag in tiefem Schlaf, doch am östlichen Himmelsrand kündigte sich bereits der kommende Tag an. Vom Dach des Versammlungshauses zogen Rauchschwaden gen Himmel. Dort drinnen brannte wie immer das große Feuer, an dem sich die Wachen, die auf den Stegen des Holzwalls, der das Dorf umgab, Wache hielten, zwischendurch aufwärmen konnten. Er sah nach oben. Die Wolken zogen schnell und gaben nur ab und an einen Blick auf den sichelförmigen Mond preis.

Warum ich?, dachte er.

Die Götter schwiegen.

Morgengrauen

Im Morgengrauen erhob sich Toromic leise. Shana schlief noch, und auch der kleine Bormic und sein Schwesterchen Nadsil schnarchten friedlich vor sich hin.

Toromics Leibsklave, Salunar, betrat die Hütte und half seinem Herrn beim Ankleiden. Toromic stieg in eine Wildlederhose, die er in der kalten Jahreszeit den bunten Braccae vorzog, die er während des Sommers zu tragen pflegte. Die gewebten Röhrenhosen waren für den Winter nicht geeignet. Anschließend warf er ein langärmeliges Hemd über und schlüpfte in seine Gamaschenstiefel. Er steckte das Hemd in die Hose und legte einen eisernen Gürtel an, während Salunar die Stiefel schnürte. Nachdem die Kleidung angelegt war, gingen Herr und Sklave zu dem Waffenpodest, das in einer Ecke der Hütte stand. Toromic ließ sich sein Hiebschwert reichen und seinen Wintermantel umhängen. Es war ein edles Stück, über und über mit bunten Karomustern bestickt, die Ränder goldverstärkt und rund um die Schulterpartie feinstes Biberfell genäht. Zusammengehalten wurde er von zwei mächtigen, goldenen Fibeln, die vor der Brust zusammengesteckt wurden. Er warf einen letzten Blick zu Shana und den Kindern hinüber, sah, dass sie noch immer schliefen, und verließ die Hütte.

Ein grauer Morgen empfing ihn.

Während er durch die Gassen der Siedlung auf das Versammlungshaus zuschritt, erwachte um ihn herum das Dorf zum Leben: Sklaven begannen, Holz zu schlagen, während Unfreie, meist Handwerker oder Viehzüchter, das Vieh aus den Ställen zum Fluss hinunter trieben, wo die kurzhornigen Rinder Auslauf hatten und unter Aufsicht grasten. Schweine und Ziegen wurden gefüttert, und einige Frauen brachen gerade die Lehmversiegelung eines Vorratsschachtes auf, um ihm das unter der luftdicht abschließenden Tonschicht haltbar gemachte Getreide zu entnehmen. Von den Hüttendächern stieg Rauch auf, was auf die Zubereitung der ersten Mahlzeiten hindeutete. Toromic grüßte eine Gruppe von Kriegern, die gerade von der Wachablösung kamen, und lächelte über andere, die beim gestrigen Gelage offensichtlich kein Ende gefunden hatten und mit aufgedunsenen Gesichtern ihren Vorhaben nachgingen.

An einem Holzgestell neben dem Versammlungshaus hing, kopfüber und mit heraushängender Zunge, der Grund von Toromics Sorgen. Der Häuptling blieb stehen und besah sich den Fang der gestrigen Jagd eingehend: Der Hirsch war im besten Alter. Ein kräftiges Tier, mit stattlichem Geweih und robustem Knochenbau. An Toromics innerem Auge zogen noch einmal die Geschehnisse des vorherigen Tages vorüber. Kurz fragte er sich, ob die Jagdgemeinschaft nicht etwas zu ängstlich reagiert hatte. Doch dann schüttelte er entschieden den Kopf. Nein, eine solche Anzahl von Treffern konnte kein normales Tier überleben, unmöglich! Tarcic würde herausfinden, was es mit der Sache auf sich hatte.

Er wandte sich von dem toten Tier ab und ging auf den Eingang des Versammlungshauses zu. Zufrieden sah er an seinem Herrschersitz empor. Er war sein ganzer Stolz. Nachdem er die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte, war seine erste Amtshandlung der Bau eines neuen, größeren Versammlungshauses gewesen. Die Abordnungen anderer Stämme mochten wissen, wie groß seine Rinderherde war, und seine Tapferkeit auf dem Schlachtfeld wurde gepriesen, doch das Versammlungshaus - sein Regierungssitz - kündete weithin sichtbar von der Macht, die er innehatte.

Noch einmal wanderte sein Blick zu dem kuppelförmigen Dach empor. Wie lange es wohl stehen würde? Ob sein Sohn, Bormic, eines Tages ein noch Größeres würde bauen lassen?

Er schüttelte die Gedanken ab. Es gab Wichtigeres zu tun. Er betrat das Versammlungshaus durch einen kurzen Vorgang. Nachdem er ihn durchschritten hatte, tat sich vor ihm das hallenartige Innere des Gebäudes auf. Sein Blick fiel zuerst auf die große Feuerstelle, die in der Mitte des Rondells eingelassen war. Hinter dieser befand sich, zur Rückseite des Gebäudes hin, der Häuptlingssitz. Sein Thron, ein aus dunklem Holz gezimmerter, mit Bärenfellen bedeckter Stuhl, dessen Armlehnen in filigran gearbeitetem Kupferblech eingefasst waren, und dessen Lehne ein stilisierter Widderkopf krönte, war die einzige erhobene Sitzgelegenheit im ganzen Gebäude. Alle übrigen Clanangehörigen saßen bei Versammlungen, je nach Rang, auf Fellen oder mussten an den Wänden des Gebäudes stehen.

Toromics Blick wanderte von der Feuerstelle aus über den festgestampften Boden bis zu den dunklen, lehmverputzten Wänden, die nach beiden Seiten hin zurückzuweichen schienen. Sie ragten einige Meter empor. Schräg über sie hinweg, nach innen auf die Kuppel zu, verlief das riedgedeckte Dach, unter dem sich ein großes Holzgestell befand. An diesem hingen, zum Beweis der Tapferkeit und Kampfkraft der Krieger des Clans, die Schädel getöteter Feinde.

Ein wachhabender Krieger kam herbei.

„Sei gegrüßt, Carduc, gibt es etwas zu berichten?“ fragte Toromic.

„Es ist nichts vorgefallen, es war eine ruhige Nacht, mein Ri.“

„Gut. Begib dich zu den Edlen und teile ihnen mit, dass Tarcic in den frühen Abendstunden die Runen befragen wird. Ich berufe hiermit die Versammlung ein.“

„Ja, mein Ri“, antwortete Carduc und eilte davon.

Toromic blickte ihm nach. Carduc war von der Order nicht überrascht gewesen. Der Häuptling wusste, dass die Teilnehmer der gestrigen Jagd, beim Gelage und später bei ihren Familien von der Jagd erzählt haben mussten. Nach großen Mengen Met und Bier lösten sich immer die Zungen. Dann machten Sagen und Legenden die Runde und bald auch Spekulationen.

Doch damit war nun Schluss. Jetzt würde bekannt werden, dass Tarcic, der Bruder des Ri, der in der großen Schlacht gegen die Caledonier so schwer verwundet worden war und nach seiner Genesung von den Göttern die Gabe des Sehens empfangen hatte, die Runen befragen musste.

Toromic hätte alles getan, um die Zeremonie zu vermeiden. Doch nach diesem Zeichen, blieb ihm keine Wahl. Wo, bei den Göttern, waren nur die Eichenkundigen?

Die Versammlung

Nach außen hin verlief der Tag im Dorf wie jeder andere, doch unter der ruhigen Fassade brodelte es. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht von der bevorstehenden Kulthandlung verbreitet, war von Mund zu Mund gegangen und hatte schließlich auch noch die Unwissendsten erreicht. Die Clanangehörigen fieberten der Zusammenkunft entgegen.

Als sich der späte Nachmittag allmählich über das Land senkte, trieben die Unfreien das Vieh in die Ställe zurück, die Tagarbeiten wurden beendet, und in allen Hütten herrschte rege Betriebsamkeit. Die Krieger und Frauen putzten sich, aufgeregt schwatzend, für den großen Anlass heraus. Die Männer legten ihre Kriegstracht an, bemalten ihre Gesichter mit schaurigen Ornamenten und putzten ihre Torques, die metallenen Halsringe, die ihren Stand und Besitz demonstrierten, auf Hochglanz. Viele wuschen ihre Haare nach Art ihrer Väter mit einer Mischung aus Wasser, Kalk und Rinderfett und kämmten sie anschließend gegen den Hinterkopf hoch. Das ergab eine Stachelfrisur, die ihre Wildheit unterstreichen und den Feinden bei der Schlacht Angst einjagen sollte. Doch erfreute sich diese Frisur auch bei feierlichen Anlässen großer Beliebtheit. Die Oberkörper rieben sie mit Fett ein, um später, in der Wärme des Versammlungshauses, ihre Tätowierungen und Muskeln besser zur Schau stellen zu können. Die Frauen legten ihren edelsten Schmuck an. Fein gearbeitete Ketten aus Muschelperlen und goldene Reife zierten Arme und Hälse der reichen Frauen, während die weniger wohlhabenden mit bronzenen und ehernen Ringen Vorlieb nehmen mussten. Die älteren Frauen, vor allem die der Edlen, trugen karierte Wickelröcke, die mit bunten Karomustern verziert waren. Seit Stunden schafften die Sklaven Unmengen an Nahrungsmitteln, Met und Bier ins Versammlungshaus, denn meist arteten Zeremonien in große Gelage aus.

Ein wenig abseits der übrigen Hütten, in einer kleinen, windschiefen Kate, warf Helwed eine Handvoll Kräuter ins Feuer. Zischend verbrannte das gräulich schimmernde Pulver. Ein betäubender Geruch breitete sich im Raum aus. „Siehst du, jetzt brauchst du nur noch zu warten, bis es wirkt.“ Sie wandte sich ihrer Tochter zu. Boudina sah sie zweifelnd an. Helwed verzog das Gesicht. „Du musst natürlich daran glauben, ansonsten werden dir die Geister nicht helfen.“

Boudina schüttelte den Kopf. „Ich weiß, dass du es gut meinst, Mutter, aber bisher hat noch keines deiner Kräuter irgendetwas bei ihm bewirkt.“

Helwed warf ihre ergrauenden Haare zurück und lächelte. „Die Liebe eines Mannes zu gewinnen, ist ein schwieriges Unterfangen. Selbst den Geistern fällt es schwer, solches zu vollbringen.“

Boudina stand ruckartig auf und stemmte ihre Arme in die schlanken Hüften. „Die Geister, die Geister! Ich will nicht mehr auf ihre Hilfe warten und auch nicht mehr auf die Wirkung deiner Kräuter. Es hilft nichts, ich muss ihn ansprechen.“

„Ihn ansprechen?!“ Helweds Stimme hatte ihren wohlmeinenden Klang verloren. Entsetzt sah sie Boudina an. „Das kannst du nicht wirklich vorhaben.“

Boudina verzog trotzig ihr hübsches Gesicht. „Und ob ich das vorhabe. Ich habe lange genug versucht, ihn mit Hilfe deiner Künste auf mich aufmerksam zu machen. Da dies jedoch offensichtlich nicht gelingt, muss ich nun eben die Sitten etwas verändern.“

„Die Sitten verändern?!“ Helwed fuchtelte hektisch mit den Armen. „Kind, du wirst dich mit deinem Sturkopf noch einmal unglücklich machen. Eine Frau spricht niemals einen Mann an! „Wo kämen wir denn hin, wenn wir uns auch noch an sie heranwerfen müssten“, murmelte sie leise vor sich hin.

„Dann bin ich eben die erste, die so etwas tut“, entgegnete Boudina trotzig.

„Wenn er dich bisher nicht beachtet hat, so liegt es daran, dass er ein gestandener Mann ist“, sagte Helwed in milderem Tonfall. Sie legte ihre feingliedrige Hand auf die Schulter ihrer Tochter. „Er ist der Bruder des Häuptlings, ein Edler und ein Seher noch dazu. Was bildest du dir ein? Du bist die Tochter eines einfachen Kriegers. Glaubst du denn wirklich, dass er dich ehelichen würde, eine aus niederem Stand?“

Boudina neigte den Kopf zur Seite und strich sich aufreizend durch ihre rotblonde Mähne. Gleichzeitig machte sie einen Schmollmund und zwinkerte mit ihren grünen Augen. „Diesem Anblick kann er bestimmt nicht widerstehen.“

Helwed atmete tief durch. Sie durfte Boudina nicht merken lassen, dass sie die Liebe zu dem Bruder des Häuptlings ablehnte, und dass nur aus diesem Grund ihre Kräuter nie gewirkt hatten. Von Tarcic ging, ganz abgesehen von den Vorbehalten, die sie ihrer Tochter gegenüber geäußert hatte, etwas Seltsames aus. Helwed sprach niemals mit Boudina darüber, doch sie besaß eine besondere Fähigkeit. Sie war als junge Frau, nachdem ihr geliebter Mann im Kampf gefallen war, zu den Matrae, den Dienerinnen Anus, gegangen, um sich unterweisen zu lassen und ihr Leben fortan der großen Muttergöttin zu weihen. Sie hatte nicht noch einmal heiraten und kurze Zeit später abermals den Schmerz des Verlustes eines geliebten Menschen ertragen wollen, denn die Männer führten ständig Krieg. Von den großen Müttern hatte sie die Kunst der Kräuterkunde erlernt. Doch nach einer Zeit der Reinigung und der Trauer, hatten die Matrae sie wieder nach Hause geschickt. Sie sei nicht für diesen Weg bestimmt, hatten sie ihr gesagt, ein anderes Schicksal erwarte sie. Schweren Herzens hatte sich Helwed wieder nach Hause begeben, nur um bald darauf festzustellen, dass sie schwanger war. Sie war überrascht gewesen, denn sie konnte sich nicht erklären, wie ihr dies hatte widerfahren können, doch sie akzeptierte ihren Zustand als ein Geschenk der Götter. Nach einer Zeit freudiger Erwartung stand die Geburt bevor. Während der schmerzhaften Entbindung schließlich geschah das Unglaubliche; Helweds Geist verließ ihren Körper. Sie sah sich selbst auf der Bettstatt liegen, ihren Säugling gebärend, und fühlte im selben Augenblick eine Verbindung zu der Seele des Kindes aufflammen, die heißer war als Feuer und beständiger als der stärkste Stahl. Nach dieser Erfahrung, war sie nicht mehr dieselbe. Sie spürte, dass ihrem Kinde Großes bevorstand, ein Schicksal, jenseits des normalen Lebens.

Während ihre kleine Boudina - diesen Namen gab sie ihrem Mädchen - heranwuchs, übte sich Helwed in den Fähigkeiten, die die Götter ihr verliehen hatten. Sie akzeptierte, dass es eine Gabe war. Mit der Zeit wurde sie immer sensibler und konnte die Aura ihrer Mitmenschen schließlich sogar fühlen, ohne sich in Trance versetzen zu müssen. Ihr Mädchen war über die Wanderung der Gestirne, über Sommer und Winterwechsel zu einem rechten Wildfang herangewachsen. Nun zählte sie sechzehn Winter und hatte die Reife zur Frau durchgemacht.

Als Boudina im letzten Winter auf einmal begonnen hatte, von Tarcic zu schwärmen, hatte Helwed dies als blanke Kinderei abgetan. Doch nachdem sich ihre Tochter immer mehr in ihre Idee verrannte, hatte sie ihre Fähigkeiten angewandt, um herauszufinden, was für ein Mensch der Häuptlingsbruder und Seher des Clans war. Ihre empfindlichen Sinne verrieten ihr bald, dass Tarcic eine seltsame Aura umgab. Ob diese Ausstrahlung guter oder böser Natur war, wusste sie nicht, doch ihre Tochter - ihr einziger Lebenssinn - sollte nicht an einen Mann geraten, den solch mysteriöse Dinge umgaben.

„Du wirst ihn nicht ansprechen“, sagte sie bestimmt. „Du kannst weiterhin versuchen, seine Aufmerksamkeit mit Hilfe meiner Magie zu erregen, und du kannst versuchen, dich ihm bemerkbar zu machen, doch ansprechen wirst du ihn nicht.“

Boudinas Gesicht lief vor Zorn hochrot an. „Mutter, ich bin sechzehn Winter auf dieser Welt, im besten Alter! Wenn ich ihn nicht bald erobere, werde ich als alte Jungfer enden, denn ich will keinen anderen.“

Helwed musste sich ein Lächeln verkneifen. Mühsam gelang es ihr, sich die Belustigung über die forschen Worte ihrer Tochter nicht anmerken zu lassen. Schon ein freundliches Gesicht hätte Boudina dazu verleiten können, ihre Anordnung nicht ernst zu nehmen.

Die Arme in die Seiten gestemmt standen sich Mutter und Tochter gegenüber. Helweds Blick wanderte über Boudinas Antlitz: Das schmale Gesicht mit den runden Wangenknochen, das von einer rotblonden Haarmähne eingerahmt wurde, erinnerte sie immer wieder an ihren toten Gatten. Durch die Augen ihrer Tochter, die tiefgrün schimmerten, wie die Seen im Wald, wenn es Sommer war, schien ihr geliebter Aragus sie anzublicken. Doch er war weit weg. Irgendwo in der Anderswelt, für sie nicht erreichbar. Auf dem Weg in ein neues Leben, ein Leben ohne sie ...

Boudinas volle Lippen schürzten sich, und auf ihrer Stirn bildeten sich ungeduldige Falten. Helwed bemerkte, dass sie in Erinnerungen versunken war und gab sich Mühe, ihre Gefühle zu verbergen. Sie schüttelte den Kopf. Sie würde nicht nachgeben.

Doch Boudina kam ihr zuvor. „Ich werde zur Versammlung gehen, danach offenbare ich mich ihm.“

Sie wandte sich einfach ab und begann sich im hinteren Teil der Hütte anzukleiden. Helwed war überrascht. Doch schon einen Augenblick später musste sie sich zähneknirschend eingestehen, dass ihr Kind nicht nur stur war, sondern auch einen starken Willen besaß. Schon als kleines Kind hatte Boudina ihren eigenen Kopf besessen, und selten das getan, was man von ihr verlangte. Sie besaß die Schönheit ihrer Mutter und den Dickkopf ihres Vaters.

Helwed versuchte es noch einmal: „Wenn du gehst, dann brauchst du nicht hierher zurückzukommen.“ Sie wandte sich von Boudina ab und starrte die Eingangstür an. „Ich werde mit einer solchen Schande nicht leben.“

Plötzlich spürte sie die zarte Hand ihrer Tochter auf ihrer Schulter. Boudinas Stimme war mitfühlend, aber auch bestimmt, als sie sagte: „Mutter, ich will dir keine Schande bereiten, aber ich muss meinem Herzen folgen.“

Als Helwed keine Anstalten machte zu reagieren, wandte sich Boudina seufzend ab. Während ihre Tochter den Rest ihrer Kleidung anlegte, stand Helwed unverändert auf ihrem Platz. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Boudina mit Gewalt hindern? Selbst mit zur Versammlung gehen? Nein, das kam nicht in Frage. Gewalt war kein Mittel ihrer Tochter gegenüber. Und aus genau demselben Grund wollte sie auch nicht zur Versammlung. Gewalt. Sie hatte früher, als Aragus noch gelebt hatte, genug von diesen Versammlungen miterlebt. Es wurde stundenlang hin- und her geredet, und am Ende kam doch immer dasselbe dabei heraus: Rache, Raubzug, Krieg.

Helwed machte das Wesen ihrer Mitmenschen für den Tod ihres Mannes verantwortlich und wollte mit deren Angelegenheiten nichts mehr zu schaffen haben. Das war eine lange Zeit gut gegangen, doch nun wandte sich ihr Prinzip gegen sie.

Boudina kam heran und sah sie mit einer Mischung aus Mitgefühl und schlechtem Gewissen an, dann wandte sie sich dem Ausgang zu. Als sie gerade die Eingangsfelle beiseite schlagen wollte, erklang Helweds Stimme: „Bitte bleib.“

Boudina schüttelte den Kopf. „Verzeih`, Mutter“, sagte sie leise, dann verließ sie die Hütte.

Fluchend wandte sich Helwed ab. War ihr Leben denn eine einzige Strafe? Mit schnellen Schritten durchmaß sie die Hütte. Sie musste sich in Trance versetzen. Sie musste erfahren, wie der Versuch ihrer Tochter ausgehen würde! Mit bebenden Händen durchwühlte sie ihre Kräutervorräte. Wo waren denn nur der Stechwurz und die Birkenrinde? Auch der zerstoßene Fliegenpilz war nicht auffindbar.

„Bei Anu, warum tut sie mir das an?“, stieß sie hervor. Dann lehnte sie sich zurück und begann zu weinen.

Boudina stapfte durch die Gassen des Dorfes auf das Versammlungshaus zu. Sie hatte ihrer Mutter wegen ein fürchterlich schlechtes Gewissen, doch andererseits hielt sie es vor freudiger Erwartung kaum aus. Endlich würde sie Tarcic wieder sehen, und endlich würde sie dem Versteckspiel ein Ende bereiten. Doch ihre freudige Erwartung trübte sich, als abermals das sorgenvolle Gesicht ihrer Mutter vor ihrem geistigen Auge aufstieg. Helwed ängstigte sich im Augenblick sicher zu Tode. Seufzend strich Boudina eine Haarsträhne beiseite, die ihr der scharfe Wind ins Gesicht wehte, und stieß einen Laut des Unmuts aus. Sie liebte ihre Mutter und wollte sie nicht verletzen, aber darauf konnte sie im Augenblick keine Rücksicht nehmen. Sie wollte Tarcic, denn sie liebte ihn.

Das Versammlungshaus kam näher. Es mussten sich bereits die meisten Clanangehörigen eingefunden haben, denn das Gewirr vieler Stimmen war bis hierher zu vernehmen. Boudina lief schneller und kam keuchend am Eingang des Rundbaus an. Die beiden wachhabenden Krieger warfen ihr gleichgültige Blicke zu, denn jeder Clanangehörige, ob jung oder alt, hatte das Recht, an einer Versammlung teilzunehmen.

Boudina durchquerte den kurzen Vorgang. Als sie das Innere des Baus betrat, verschlug es ihr fast den Atem: Die Ausdünstungen hunderter von Menschen, der Duft gebratenen Fleisches und honigsüßen Mets, verbanden sich mit dem Qualm der Feuerstelle und dem durchdringenden Geruch von Fett und Öl. Ein schwer erträglicher Brodem.

Sie sah sich um. Nicht weit von ihr drängte sich eine Gruppe junger Mädchen, die sie kannte. Sie reckten die Hälse, um mehr von dem mitzubekommen, was sich vorne abspielte.

Boudina zuckte verächtlich die Achseln. Bleibt nur, wo ihr seid, dachte sie, ich suche mir einen besseren Platz. Forsch balancierte sie durch die Reihen der am Boden sitzenden Clanangehörigen, vorbei an den niederen Kasten, bis sie ihr Temperament schließlich an einem der großen Tragepfosten des Gebäudes zügelte. Weiter durfte sie sich nicht vorwagen, ohne in Gefahr zu geraten, ernsthafte Schwierigkeiten zu bekommen. Denn sie befand sich nicht mehr weit hinter den Reihen der Krieger. Die bösen Blicke anderer Clanangehöriger ignorierte sie geflissentlich.

Eigentlich gab es eine strenge Sitzordnung, doch Boudina, die ohne Vater aufgewachsen war, hatte früh gelernt, forsch aufzutreten. Die übrigen Dorfbewohner waren ihrer Mutter und ihr gegenüber ohnehin sehr zurückhaltend, denn dass Helwed bei den Matrae in die Kunst der Kräuterheilkunde unterwiesen worden war, wussten alle und hatten Respekt. Außerdem trauten sie dem schweigsamen Weib noch ganz anderes zu.

Boudina wusste, dass ihre Grenzen erreicht waren.

Sie blickte nach vorn: Dort saßen die Häuptlingsbrüder.

Zuvorderst, auf dem Sitz des Häuptlings, thronte Toromic. Neben ihm hatten Tarcic und die wichtigsten und wohlhabendsten Männer des Clans Platz genommen. Sie bildeten den innersten Zirkel der Sitzordnung. Je wohlhabender und wichtiger einer der Edlen und Unterführer war, desto näher durften er und sein Gefolge dem Häuptling im Kreis der Anführer sitzen.

Boudina starrte Tarcic an: Er schien ein fremdes Wesen zu sein. Der Bruder des Toromic hatte sein ohnehin helles Haar mit Kalk gewaschen. Schlohweiß glänzte es im Schein des Feuers. Es war straff über den Schädel zurückgekämmt und am Hinterkopf zu mehreren Zöpfen geflochten. Über Tarcics schmales Gesicht verliefen geschwungene schwarze Striche abwärts. Diese Bemalung verblasste jedoch bei dem Anblick, den seine gigantische Narbe bot. Tarcic hatte sie, von der Stirn bis zum Hals hinunter, mit rotem Ocker eingefärbt. Sie prangte wie ein Brandzeichen auf seinem Gesicht und lenkte die Blicke aller Anwesenden auf sich. Der edle, mit Rabenfedern besetzte Umhang, den er sich um seinen nackten Oberkörper geschlungen hatte, sein mächtiger goldener Halsring und auch seine Brustplatte - all diese Zeichen von Macht und Würde erschienen bedeutungslos beim Anblick dieser Narbe. Boudina war entsetzt. Er sah völlig anders aus, als sie ihn kannte, so fremd und kalt. Einen Augenblick benötigte sie, um den Schrecken zu überwinden, dann schalt sie sich eine Närrin. Natürlich sah Tarcic anders aus als bei helllichtem Tage, wenn er durch die Siedlung schritt oder auf einem der das Dorf umgebenden Hügel stand und in die Ferne sah. Jetzt war er eine mystische Figur, ein Mittler zwischen der Anderswelt und dem Diesseits, ein heiliger Mann.

Da im Augenblick weder Tarcic noch Toromic Anstalten machten, mit der Zeremonie zu beginnen, nutzte Boudina die Zeit, um die übrigen Männer in ihrer Nähe in Augenschein zu nehmen.

Wann kam sie den Hohen des Clans schon einmal so nahe?

Ihr Blick blieb an den Vertrauten des Häuptlings hängen - an den Kriegern Borix und Turumir. Diese beiden hätten vom Aussehen her nicht unterschiedlicher sein können. Borix, der hinter Toromic saß, war eine beeindruckende Erscheinung. Sein kahlgeschorener Schädel saß auf breiten muskelbepackten Schultern. Mächtige, mit blauen Tätowierungen verzierte Arme ließen keinen Zweifel an der Kraft ihres Besitzers. Auf den ersten Blick erschien er grob und einfach, doch wer genauer hinsah, die wachsamen Augen unter den buschigen Brauen und die geschmeidigen Bewegungen dieses Mannes beobachtete, erkannte, dass sich unter der Fassade des tumben Rohlings noch anderes verbergen mochte. Wegen seines dürftigen Haupthaares als Junge oft verspottet, trug er seit seiner ersten Schlacht den Schädel kahlrasiert. Zum Ausgleich für diesen Nachteil - die Männer aller Stämme waren stolz auf ihre Haarpracht - ließ er seinen Schnauzbart über beide Mundwinkel bis zum Kinn hinunter wachsen. Boudinas Blick wanderte zu dem Krieger, der hinter Tarcic saß. Turumir war hochgewachsen, intelligent und hatte rotblondes Haar, genau wie sie. Er war seit seiner Jugendzeit der Freund und Vertraute Tarcics gewesen, sein erster Mann. Doch seit Tarcic über die Gabe des Sehens verfügte, gab es nicht mehr viele Situationen, die einen Beschützer erforderlich machten. Von den Beschwörungen und Ritualen, die Tarcic durchführte, verstand Turumir nichts, und mehr als ein wenig freundschaftliche Zuneigung ließ der Bruder des Häuptlings schon lange nicht mehr zu. So diente Turumir nach außen hin Tarcic, während er in Wirklichkeit längst Toromics zweiter Mann geworden war.

Da noch immer nichts geschah, ließ Boudina ihre Blicke durch den Rundbau schweifen. Hinter der ersten Riege des Clans hatten die Krieger in Gefolge aufgeteilt Platz genommen. Sie machten einen Großteil der Anwesenden aus. Nach ihnen kamen die Frauen, die mit ihren Kindern, Müttern, Schwestern, Cousinen und Tanten, je nach Verwandtschaftsgrad, in Gruppen zusammen saßen. An der Außenwand des Gebäudes standen die Gemeinen, Unfreien und Sklaven, an denen sich Boudina eben vorbeigedrückt hatte. Während die Gemeinen und Unfreien, meist Handwerker oder Viehzüchter, einiges Ansehen genossen, da ihnen in Kriegszeiten das Recht zustand, Waffen zu tragen, bildeten die Sklaven die unterste Schicht der Gemeinschaft. Sie waren meist Gefangene anderer Stämme oder aber Menschen, die die strengen Gesetze der Clans gebrochen hatten. Bis auf die Elite der Leibsklaven der Edlen und Hohen ging es ihnen schlecht. Sie waren rechtlos und ihr Leben zählte nicht viel.

Schwatzen und Raunen erfüllte das Innere des Rundbaus, ab und zu plärrte ein Kind. Die Krieger saßen stolz schweigend und ließen sich von der Unruhe in den hinteren Reihen nicht anstecken. Goldene, bronzene und eiserne Torques - aus mehrfach ineinander verschlungenen Strängen gefertigte Halsringe - die den Rang und den Wohlstand ihrer Besitzer symbolisierten, glänzten im Schein des Feuers. Versteinerte Gesichter und starre Körperhaltung bewirkten den Eindruck von Unnahbarkeit. Die reichsten Männer, die Edlen, trugen mit Bronze und Goldlegierungen verzierte Helme. Zum Zeichen ihres Ruhms hatten die Krieger ihre besten Waffen und wertvollsten Trophäen mitgebracht. Diese lagen auf ihren Schilden neben ihnen. Die Trophäen waren die einbalsamierten Schädel der tapfersten Feinde, gegen die sie gekämpft und gesiegt hatten. Die Kraft des Feindes, seine Numina, floss auf denjenigen über, der seinen Schädel nahm. Boudina wurde es unheimlich, als ihr Blick auf die seltsam entstellten Gesichter der mumifizierten Schädel fiel. Die meisten sahen wächsern und tot aus, gar nicht so, als hätten sie einmal gelebt - doch es gab auch welche, denen der Schrecken in die Züge gegraben war, den sie empfunden haben mussten, als sie getötet wurden.

Boudina schüttelte sich. Sie hatte nie einen Vater nach einem Kriegszug mit erbeuteten Schädeln heimkehren sehen. Dieser Brauch war ihr nicht geheuer.

Sie hielt wieder nach dem Ziel ihrer Sehnsüchte Ausschau.

Tarcic saß ruhig da.

Boudina bemerkte, dass Toromic seinen Bruder misstrauisch beäugte. Sie reckte den Hals ...

Toromic blickte unauffällig zu Tarcic hinüber. Was er sah, gefiel ihm nicht. Sein Bruder war, wie die übrigen Clanangehörigen, mächtig herausgeputzt, doch konnten all seine Würdezeichen und Bemalungen nicht den dichten Schweißfilm verbergen, der seine Stirn bedeckte. Er war eindeutig betrunken. Toromic wusste, dass sein Bruder vor einer Zeremonie große Mengen Met trank, um den Übergang seines Geistes in die Anderswelt, das Reich der Geister und Ahnen, zu erleichtern, doch heute schien es zu viel gewesen zu sein. Tarcic hielt dem Druck, den die Rituale auf ihn ausübten, offensichtlich nicht mehr stand. Toromic bis sich auf die Lippen. Nach diesem Tag würde er Tarcic schonen, doch zuerst musste er wissen, ob die Ereignisse der Jagd als schlechtes Omen zu deuten waren.