Loe raamatut: «Basaltbrocken»
E-Book 2012
2. Printauflage 1998
© 1997
Arne Houben
RHEIN-MOSEL-VERLAG Zell/Mosel Brandenbrug 17 D-56856 Zell/Mosel Tel. 06542/5151 Fax 06542/61158 Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-89801-812-8 Ausstattung: Cornelia Czerny/Marina Follmann
Christoph Kloft
Basaltbrocken
Ein Dorfbürgermeister geht seinen Weg (1930-1947)
Roman aus dem Westerwald
RHEIN-MOSEL-VERLAG
***
Maximilian und Mauritius gewidmet
Für die sachkundige Durchsicht des Manuskripts danke ich
Gernot Gingele, Eitelborn, und Dr. Uli Jungbluth, Nauort.
***
Er mochte sie nicht, die Tage, wenn der alte Matz kam. Noch einmal zog er sich an diesem empfindlich kühlen Novemberabend darum seine Jacke über, um nach Berta zu sehen. »Du alter Bauer, warum kannst du mir nur nicht sagen, was los ist«, dachte die Frau, die es nun schon eine ganze Reihe von Jahren mit ihm aushielt, als sie die Tür ins Schloß fallen hörte. Dabei wußte sie doch ganz genau, was mit ihm los war.
Aber so war er nun einmal, ihr Johannes, und sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß sich das niemals ändern würde. Und dann stellte sie sich vor, wie er gerade wieder vor der Sau stand und ihr seine Ansprache hielt. Bestimmt gab er ihr auch wieder von den besten Kartoffeln, sorgte sie sich, und am nächsten Tag, wenn der alte Matz kam, würde er wieder einen dringenden Weg zu erledigen haben. Immer war das so, und Agnes kannte keinen Grund, warum es diesmal anders sein sollte: wahrscheinlich mußte ihr Johannes wieder unbedingt in die Stadt – sie war eigentlich nur noch gespannt, welcher Anlaß dafür ihm bis morgen früh eingefallen war.
Der Bauer stand in diesen Augenblicken vor der Sau und erzählte mit ihr. »Na, Berta, glaubst wohl auch, es wird ein harter Winter. Zum Glück hast du´s hier einigermaßen warm. Die Ritzen mache ich schon noch dicht«.
»Wenn du wüßtest«, dachte er dabei und hielt der Sau eine besonders dicke Kartoffel hin. »Ja, friß nur, wir haben sowieso zu viele davon.«
Natürlich stimmte das nicht, denn man konnte nie wissen, wie lange der Winter dauern würde. Trotzdem griff Johannes noch einmal in den Sack, den er hinter der Stalltür verborgen hatte, und hielt Berta eine weitere Kartoffel hin. »Nur gut, daß heute nicht mehr mit der Axt geschlagen werden darf«, schoß es ihm durch den Kopf, und es war dies ein kurzer Moment, in dem er plötzlich ganz zufrieden damit war, daß der andere jetzt das Sagen hatte. »Wer zu Tieren gut ist, kann zu Menschen nicht schlecht sein«, hatte neulich noch einer gesagt, der meinte, ihn damit von Hitler überzeugen zu können.
»Wirst nicht viel spüren«, sagte Johannes jetzt leise in Richtung der Sau, die er nur dann Berta nannte, wenn er sicher war, daß es niemand hörte, und er war froh, daß der alte Matz so viel von seinem Handwerk verstand. Wenn der Bolzen richtig saß, würde sie garantiert nichts spüren. Sagten jedenfalls immer die, die es wissen mußten. Wahrscheinlich, nein hoffentlich nur hatten sie recht. Johannes bildete sich zwar ein, eine ganze Menge von der Landwirtschaft zu verstehen, beim Schlachten mußte er sich aber auf die Erfahrungen anderer verlassen, denn sein Ding war das nun einmal nicht.
Nachdem er die Sau ein letztes Mal mit den Augen ins Visier genommen hatte – und wer ihn genau kannte, dem wäre dabei aufgefallen, wie er dem Zweieinhalb-Zentner-Koloß in seinem muffigen Verschlag zum Abschied aufmunternd zuzwinkerte – verließ er den Stall, um zu sehen, ob auch wirklich die Leiter in Ordnung war, an der Berta morgen hängen würde. Sie war es natürlich, überzeugte er sich, denn sie war stabil wie alles, was sein Vater jemals gebaut hatte. Nach den Kesseln würde er heute nicht mehr sehen – das konnte morgen früh Agnes machen, wenn sie es nicht schon längst getan hatte.
Auf dem Weg zum Haus mußte Johannes unwillkürlich daran denken, wie er als Kind einmal einem Huhn den Kopf abgeschlagen hatte. Das hatte auch Berta geheißen, und damals hatte er noch keinerlei Bedenken gehabt, es auch vor aller Augen so zu nennen. Aufgezogen hatte er es in der Küche, damit die Glucke es nicht tottreten konnte. Am Anfang hatte niemand etwas dagegen gehabt, bis dann sein Vater meinte, Berta gehöre zu den anderen Hühnern in den Hühnerstall. Ihm war das fast egal gewesen, wußte er doch, daß der Vater oft wochenlang mit dem Händlerwagen unterwegs war und er ihm dann ohnehin nicht vorschreiben konnte, was er zu tun und zu lassen hatte. War Vater dann mal wieder außer Haus, nahm Johannes das Huhn einfach wieder mit in die Küche und brachte ihm feine Kunststücke bei. Seine Mutter, eine kleine Frau, die ihre Energien erst so richtig auszuleben schien, nachdem ihr Mann von einer seiner Reisen nicht zurückgekehrt war, zwinkerte ihm in solchen Momenten nur spitzbübisch zu, wenngleich sie zuvor natürlich ihr »Du weißt doch, daß du das nicht sollst!« vorgebracht hatte. Johannes erinnerte sich gerne an diese Zeit, nicht aber an den Tag, als sein Vater ihn gezwungen hatte, Berta den Kopf abzuschlagen. »Nun tu´s doch endlich, schlag zu«, hatte er ständig auf ihn eingeredet, auf den kleinen Jungen, der da so hilflos mit dem bebenden Huhn stand, seinen dürren Hals mit der kleinen Hand fest umklammert hielt, in der Rechten das frisch geschliffene Beil. Johannes hatte damals gewünscht, er würde auf der Stelle tot umfallen, dann aber, als sein Vater gebrüllt hatte: »Ich werde es allen erzählen, was ich mir da für einen Weiberrock aufgezogen habe!« Bertas Kopf fest auf den Holzbock gedrückt und zugeschlagen. Noch jetzt, als er die Tür zur Stube öffnete, konnte er sich genau an das Gefühl des warmen Blutes erinnern, das damals auf seine Hand gespritzt war: die linke Hand war es, deren Finger er vielleicht seit jener Zeit immer dann kräftig aneinander rieb, wenn er, wie um Unliebsames von vornherein abzustreifen, eine Verlegenheit sich gar nicht erst in seinem Gesicht niederschlagen lassen wollte. Und er wußte auch noch genau, wie es gewesen war, als Berta mit ihrem blutigen Stumpf über den Hof gestoben war und wie sie erst nach einer Ewigkeit endlich erlöst wurde und liegenblieb.
»Wo warst du nur so lange?« wollte seine Frau wissen. »Im Stall. Weißt doch Agnes, daß es vor dem Schlachten immer viel zu richten gibt«, antwortete er mürrisch und stellte seine schweren Schuhe neben ein Paar viel kleinerer Stiefel. »Hat übrigens so lange gedauert, weil ich morgen nichts helfen kann. Ich muß dringend in die Stadt, habe nämlich die letzten Nägel eben in die Leiter gehauen.« Fast mit ein wenig Stolz wegen dieser gelungenen Ausrede, doch auch bereits mit sich gegen die Entlarvung wehrendem Trotz – Agnes hätte die Schläge doch gewiß gehört! – bemühte er sich, einen möglichst festen Blick in Richtung Küchentisch zu werfen. »Richtig, du wolltest letzte Woche schon dahin«, kam von dort die unerwartete Hilfe. »Sieh aber nur zu, daß du vor der Dunkelheit zurück bist. Du weißt, manch einer im Dorf wartet nur darauf, dir eins auszuwischen.«
Johannes liebte seine Agnes von ganzem Herzen, und sie wußte das, wenn er es ihr auch niemals sagte. Große Worte waren nicht seine Sache, und Agnes hatte das noch nie gestört, schon gar nicht damals, als er sie steif und unbeholfen gebeten hatte, seine Frau zu werden. Gestört hatte sie auch nicht der Makel, der an ihm haftete und von dem er ihr gleich bei der ersten Begegnung erzählt hatte. Johannes jedenfalls war in diesen Augenblicken, in denen er sich Luft gemacht hatte, klargeworden, daß er seinen Bekannten Paul und Hilda, die Agnes von ihm erzählt hatten, ein Leben lang zu Dank verpflichtet war, weil sie ihm eine so lebensfrohe und ehrliche Frau zugeführt hatten. Dabei hatte er zu dieser Zeit die Suche schon fast aufgegeben und gemeint, er müßte sich wohl oder übel damit abfinden, daß jedes Mädel, das die Wahrheit über ihn und seine Herkunft erfuhr, sich schließlich von ihm abwenden würde. So wie vor einer ganzen Reihe von Jahren Maria, die am Ende doch auf ihre Eltern gehört und den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte. Für ihn, so dachte Johannes seither, war es aussichtslos, im Ort oder der näheren Umgebung eine Frau zu finden, und er beschloß, nicht zu heiraten und immer mit seiner Schwester Franziska, der ebenfalls der Makel anhing, zusammenzubleiben. Von seiner Seite aus war die Sache damit besiegelt, für Franziska war sie das nur so lange, bis sie einen jungen Mann kennenlernte, den sie bald darauf heiratete. Johannes gönnte ihr das Glück, freute sich mit ihr, doch, wollte er nicht ganz alleine bleiben, so wurde es nun für ihn höchste Zeit, sich endlich um eine Frau zu kümmern.
Paul und seine Bekannte aus dem Dorf, woher Agnes stammte, hatten die Sache ungefragt in die Hand genommen, ihre Vermittlung war erfolgreich, und im Alter von 33 Jahren konnte Johannes eine Braut, die zehn Jahre jünger war als er, zum Traualtar führen. Damals konnte er sein ganzes Glück nur ahnen, heute wußte er, daß er eine Frau gefunden hatte, die mit ihm durch alle Lebenslagen ging, die nicht nur seine treue Gattin, sondern stets auch sein bester Freund war.
Und in diesen Momenten am Abend vor dem Schlachttag, als er in der Stube so verlegen vor ihr stand, da schämte er sich ein wenig, und das nicht nur deshalb, weil er Agnes im Grunde ja schon etwas angelogen hatte, denn so dringend war der Gang in die Stadt nun wirklich nicht, sondern weil er wieder einmal nicht verstand, wie er nur eine solch wunderbare Frau verdient hatte.
Einige Wochen später, die Sau war längst geschlachtet – selbst Johannes hatte sich einige Mahlzeiten der fetten, kaum mehr an Berta erinnernden Wurstsuppe schmecken lassen – da klopfte es eines Abends mehrmals heftig an die Haustüre der Zimmermanns. »Nur immer rein«, rief der große Mann, der dabei war, seine lange Wasserpfeife zu reinigen und in dieser Beschäftigung getrost fortfahren konnte, da die Tür, wie im Dorf üblich, nicht verschlossen war. »Du mußt helfen, Johannes, du mußt helfen«, stürzte ein zugeschneites Wesen herein, das erst bei genauem Hinsehen als die bucklige Anna zu erkennen war, eine häßliche Kreatur um die Vierzig, die alt und jung im Dorf schon deshalb gerne zum Spott diente, weil sie bis jetzt noch keinen Mann gefunden hatte: einerseits wegen ihres körperlichen Gebrechens, andererseits gewiß auch ihrer Schrulligkeit wegen, die wiederum nur Folge der ersten Ursache war. »Bitte Johannes, du mußt helfen«, kam es jetzt einmal mehr aus ihrem vom Frost verzerrten Mund gequollen. »Ruhig jetzt, ganz ruhig, wenn ich helfen soll, muß ich erst wissen, wo und wem.«
»Na dem Herrn Pfarrer sollst du helfen, dem Pfarrer natürlich, du mußt gehen, du bist doch der Bürgermeister!«
»Was ist mit dem Pfarrer? Sag jetzt sofort, was mit ihm ist!« – allmählich riß Johannes der Geduldsfaden, denn das Wohlergehen des Pfarrers lag ihm, wie den meisten, die es nicht mit der Partei hielten, sehr am Herzen. »Die Jungen, die wollen ihm eine Lektion erteilen, haben sie gesagt, und da bin ich sofort zu dir gerannt. Schließlich bist du der Bürgermeister und mußt ihm helfen!« Johannes wurde immer nervöser. Es waren zwar schlimme Zeiten, aber sich an einem Pfarrer vergreifen, das konnten doch selbst diese üblen Schreier nicht wagen. »Wo hast du das her?« wollte er jetzt wissen, und seine Gesichtszüge waren mit einemmal hart wie Stein. »Unten beim Brunnen, da haben sie sich getroffen, und weil sie denken, ich bin nicht ganz richtig im Kopf, haben sie laut weitergesprochen, als ich in ihre Nähe kam. Einer hat sogar gesagt: »Buckel-Anna, heut´ kannst du was erleben, du und noch der Pfarrer.« – »Was wollt ihr?« hab´ ich gefragt. »Ich hab´ keinem was getan und der Herr Pfarrer schon gar nicht. Laßt mich bloß in Ruhe.« Da ist ein anderer plötzlich auf mich zugegangen, ein großer fremder Junge, fast schon ein Mann, ganz langsam ist er auf mich zugegangen, und erst, als er direkt vor mir stand, hat einer gesagt, und zwar dem August sein Junge war es, der hat auf einmal gerufen: »Laß sie doch in Ruhe, an alten Weibern brauchen wir uns nicht zu vergreifen und an so häßlichen schon grade gar nicht.« Da haben sie alle laut gelacht, und der andere, der Fremde, hat mich nur in den Schnee gestoßen und ist weggegangen. »Dem Pfarrer, dem geht´s dafür aber an den Kragen. Der lernt heute seine Lektion«, hat er noch gesagt, und ich hab´ getan, als hätte ich mir wehgetan, damit ich noch ein wenig liegenbleiben konnte und hören, was sie genau vorhaben. Denn um mich hat sich zum Glück keiner mehr gekümmert.«
»Und«, stieß Johannes ungeduldig hervor, »was ist es, was wollen sie machen?«
»Der Pfarrer kommt heute zurück von seiner Reise. Da wollen sie ihm am Bahnhof auflauern und ihn verdreschen. Drum geh schnell hin, sie sind schon auf dem Weg, und der Pfarrer kommt bestimmt gleich an. Wenn du nicht hilfst, wird´s ihm übel ergehen.«
Johannes begriff, daß er nicht zögern durfte, wenngleich es ihm schwerfiel, der Buckel-Anna Glauben zu schenken. Einen Pfarrer verdreschen, das war wirklich noch nie dagewesen und konnte es heute, 1935 Jahre nach Jesu Geburt, einfach nicht geben. Doch wollte er sich nachher, wenn vielleicht wirklich etwas passiert war, nicht sagen müssen, er hätte nichts unternommen, und so stand sein Entschluß rasch fest. Auch aus dem Blick seiner Frau konnte er Ermutigung ablesen: sie wußte ohnehin, daß der Versuch, ihn zurückzuhalten, sinnlos gewesen wäre.
Johannes war klar, daß er alleine gehen mußte, denn er durfte nicht die aufrechten Nachbarn, die ganz bestimmt bereit gewesen wären, ihm in dieser Sache zur Seite zu stehen – und davon gab es in einem katholischen Dorf wie Kleeberg eine ganze Menge – er durfte sie nicht unnötig in Gefahr und in Konflikt mit der Obrigkeit bringen. Also zog er seine Ledergamaschen an, warf den Lodenmantel über, setzte den großen Hut auf, der für seinen imposanten Schädel eigens gemacht schien, ging in den Stall, um den halbfertigen Axtstiel zu holen, den er noch am Nachmittag dabeigewesen war, für seine mächtigen Hände maßzuschneidern, und machte sich unverzüglich auf den Weg.
Schon hatte er die letzten Häuser des Dorfes hinter sich gelassen und war umgeben von der winterlichen Schönheit der Landschaft, auf die der volle Mond sein helles Licht warf, da gingen ihm immer wieder die langen Unterhaltungen mit dem Pfarrer durch den Kopf, bei denen dieser ihn stets von der Gefährlichkeit der neuen Machthaber hatte überzeugen wollen. »So übel können die gar nicht sein«, hatte Johannes anfangs nur immer dazu gemeint, »die Leute sind schon nicht so dumm, sich so etwas gefallen zu lassen«, – er hatte wirklich keine Lust gehabt, sich auf seine alten Tage plötzlich für die große Politik zu interessieren. Vielleicht, hatte er aber gleich nach diesen Gesprächen gedacht, war der Pfarrer ja doch im Recht. Möglich, sogar wahrscheinlich, daß er, Johannes, sich geirrt hatte: Schließlich war er ein einfacher Mann, hatte keine große Bildung genossen, wegen einer schlimmen Krankheit nicht einmal die Schule beenden können. Die einzige Lektüre, die er in seinem Leben regelrecht verschlungen hatte, war sein Realienbuch – »Was brauche ich Geschichten zu lesen, die sich andere ausgedacht haben«, sagte Johannes immer, auch zum Pfarrer, und er war überzeugt, daß er mit seinem Gefühl und dem scharfen Verstand gerade deshalb meist ins Schwarze traf, weil er Dritten eben nicht erlaubte, sich in seinem Hirn breitzumachen. Nein, sympathisch waren ihm die Nazis noch nie gewesen, doch hatte er sich in seinem schweren Leben zu wenig mit dem beschäftigen können, was außerhalb des Westerwaldes vor sich ging, um seinerzeit, als der österreichische Handwerksbursche erst wenige Monate an der Macht gewesen war, bereits die Gefahr zu erkennen, die der studierte Mann heraufbeschwor. »Wer Menschen mit Viehzeug gleichstellt, der kann selbst kein guter Mensch sein«, sagte er aber schon wenig später, als er begriffen hatte, daß man neuerdings ohne die Politik gar nichts mehr verstehen konnte und wetterte zusammen mit dem Seelsorger: »Die Gottlosen machen sich zum Glück nur auf der Erde breit, im Himmel will sie ihre Vorsehung nicht haben«.
Johannes war etwa eine halbe Stunde gegangen, als er in der Ferne das Pfeifen einer Lokomotive vernahm. Nun mußte er sich ein wenig sputen, da noch ein Weg von fast einem Kilometer vor ihm lag. Angst hatte der Bürgermeister keine, jedenfalls machte er sich darüber keine Gedanken, und so ignorierte er auch das beklemmende Gefühl in der Magengegend einfach. Trotz seiner sechzig Jahre wußte er nämlich genau, daß der Herrgott ihn noch nicht haben wollte. Wußte es seit damals, als er im Krieg wie durch ein Wunder dem Tode entgangen war: Bei der Artillerie war er gewesen, und alle waren sich einig, daß der stattliche Mann in seiner schmucken Uniform schon etwas hermachte. Aber das hatte ihm dann am Ende doch nicht viel genutzt. Der Krieg war kein schönes Geschäft, dies hatte Johannes schnell begriffen, und alle, die anders dachten, sollten erst einmal dabeigewesen sein. Niemals würde er den Tag vergessen, an dem er mit seinem Pferd wieder einmal einen Munitionswagen begleitet hatte. Er erinnerte sich noch genau, es war ein herrlicher Sommertag gewesen, und er hatte nur daran gedacht, daß sich solche Tage wunderbar dazu eigneten, Heu zu holen. Um wieviel lieber hätten er und seine Kameraden sich darum auch heute der Beschäftigung gewidmet, der sie in den Kampfpausen so gerne nachgingen, nämlich den französischen Bauern mit ihren Pferden beim Einfahren der Ernte zu helfen! Aber nein, man mußte sich ja durch diesen Morast quälen, und das neuerdings sogar bei Tageslicht, was bedeutete, daß die ausgebauten Wege noch weiter zu umgehen waren als nachts, damit einen die feindliche Artillerie nicht bemerkte. Dabei war es fast unmöglich, mit den großen Wagen, die immerhin von sechs Pferden gezogen werden mußten, unentdeckt zu den vordersten Gräben der Front zu gelangen.
Johannes hatte es deutlich vor Augen: er selbst hatte wie immer auf einem Gaul in der mittleren Reihe gesessen, einen Nachbarn gab es nicht, dafür einen Vordermann, der ebenso wie er vom linken Pferde aus die Richtung dirigierte, während die hinteren beiden Gäule vom Wagen aus gelenkt wurden. Und Johannes erinnerte sich auch genau, daß er bei diesen Fahrten immer an den Vater gedacht hatte, der ihm früher, als er noch zu Hause war, so oft gezeigt hatte, wie man mit Pferden umging. An diesem Tag war er jedoch aus seinen Gedanken gerissen worden, und zwar nicht etwa durch den sich allmählich nähernden Granatenlärm, sondern dadurch, daß das Silscheit seines Zuggeschirrs brach. Ohne dieses Stück Holz, das die beiden Pferde einer Reihe auf Abstand hielt, konnte die Fahrt nicht fortgesetzt werden, und Johannes mußte darum seine Kameraden bitten anzuhalten, damit er Gelegenheit hatte, das Scheit wenigstens provisorisch zu reparieren. Natürlich waren die anderen nicht sehr froh darüber, doch Johannes hatte schon immer seinen eigenen Kopf gehabt, um sich aus dem, was andere Leute redeten oder dachten, wenig zu machen. So störte es ihn auch kaum, daß der nachfolgende Wagen überholte – schließlich hatte man es im Krieg immer sehr eilig. Er hatte den Kameraden noch entschuldigend zugewinkt, sah sie sich dann an der Stelle einfädeln, wo er mit seinem Wagen jetzt eigentlich angekommen wäre – als vor ihm eine Granate niederging und den Weg in ein hell loderndes Flammenmeer verwandelte: Den Munitionstransport, der eben noch an ihm vorbeigezogen war, hatte es voll getroffen, und es war schon in diesem Augenblick klar, daß man nicht nach Überlebenden suchen müßte, denn die konnte es nicht geben. Zum Glück nur waren im Konvoi große Lücken gewesen, denn sonst wären nicht nur die sechs Mann da vorne gestorben, von denen ihn einer im Vorbeiziehen eben noch an einen Nachbarn aus dem Dorf erinnert hatte. Johannes hatte dank des gebrochenen Silscheites damals großes Glück gehabt, denn ohne dieses wäre sein Wagen jetzt dort gewesen, wo der Tod Einzug gehalten hatte. Er war verschont geblieben, und seitdem wußte er, daß er einmal steinalt werden würde, denn so leicht wie damals an der Front würde man es wohl nie wieder haben, ihn ins Jenseits zu befördern. Der Herrgott hatte ihm einen Wink gegeben, daß er noch sehr viel Leben vor sich hatte, einen Wink allerdings, der ihm Jahre später auch einmal sehr schmerzlich bewußt wurde, da nämlich, als er immer wieder gebeten, ja regelrecht gefleht hatte, man möge doch statt seines kranken Sohnes ihn selbst sterben lassen, aber auch da hatte man ihn im Himmel noch nicht haben wollen …
Immer wieder wog Johannes jetzt seinen gewaltigen Knüppel in den Fäusten – mit dem konnte man den lieben Gott schon ein wenig unterstützen, notfalls sogar einem Ochsen den Schädel einschlagen, redete er sich ein, und er wußte nicht, daß er dies mit dem Mut der Verzweiflung tat, denn er war sich durchaus darüber im klaren, daß sein Jüngster, der damals zur Welt kam, kurz nachdem Herbert gestorben war, und die große Tochter ihn noch eine ganze Weile brauchen würden.
Im Gebüsch waren plötzlich Geräusche zu vernehmen, leise Stimmen hörte er, die jetzt wie auf ein Kommando hin verstummten. Am Bahnhof, der schon längst in Sichtweite lag, war noch nichts vom Zug des Pfarrers zu sehen. Johannes schritt langsam weiter, und nur noch ein gelegentliches Knacken von Ästen machte ihm klar, daß da irgendwo in der Dunkelheit eine ganze Meute junger Parteigänger verborgen liegen mußte.
In der Ferne sah er jetzt zwei allmählich stärker werdende Lichter. Wieder wog er den Knüppel in seiner Hand – denen da drüben würde er schon kräftig eins überziehen, wenn sie Anstalten machten, sich an ihm oder dem Pfarrer zu vergreifen. Was waren das doch für dumme Jungs! Vielleicht war der Gedanke gar nicht so falsch, auch sie einmal in eines der Kohlebergwerke zu schicken, in denen er selbst wertvolle Jahre seiner Jugend verbracht hatte!
Jedenfalls war er früher niemals auf dumme Gedanken gekommen, aber vielleicht, so dachte der gutgläubige Mann, war das heute auch alles anders – schließlich hatte man ihm in seiner Jugend auch nicht solche Flöhe ins Ohr gesetzt, wie man das bei diesen jungen Leuten heute tat.
Der Zug war nun ganz nahe, und Johannes wußte, daß nichts passieren würde. Wahrscheinlich hatten schon seine mächtige Statur und der eine Reihe von unmißverständlichen Bewegungen ausführende Knüppel die verborgene Meute ins Bockshorn gejagt, und als sie dann auch noch erkannt hatten, mit wem sie es zu tun bekommen würden, da hatten sie sich wohl endgültig dazu entschlossen, in ihren Büschen versteckt zu bleiben.
Der Pfarrer merkte von all dem vorerst nichts. Zwar wunderte er sich, daß er vom Bürgermeister persönlich abgeholt wurde, doch waren die beiden führenden Köpfe im Dorf in der Vergangenheit ohnehin bereits sehr viel näher zusammengerückt, als dies zu anderen Zeiten der Fall gewesen wäre. Und so unterhielten sich die Männer auf ihrem Weg über unwesentliche Dinge, schimpften daneben gemeinsam auf das vor zwei Monaten herausgekommene »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«, das die Judenhetze, die sie beide schon lange störte, nun auch noch schriftlich festhielt, und taten ansonsten so, als ob die Gefahr, die die Buckel-Anna heraufbeschworen hatte und die ja auch wirklich dagewesen war, niemals bestanden hätte.
Erst das Geräusch von sich rasch entfernenden Schritten gab dem Pfarrer, der längst bemerkt hatte, daß etwas nicht in Ordnung war, Anlaß, die Frage zu stellen, die ihm auf den Lippen lag, seitdem er am Bahnsteig die hohe Gestalt des Bürgermeisters entdeckt hatte. »War wohl nicht ganz ohne Grund, daß du mich heute abgeholt hast, Johannes?« wollte er wissen. »Nicht der Rede wert«, antwortete der Bürgermeister nur, und er blieb auch stumm, als sein Begleiter zum Abschied meinte: »Ich will dir aber trotzdem einmal ein herzliches Merci sagen«, und ihm kräftig die Hand schüttelte. Damit war die Angelegenheit für Johannes abgeschlossen: allein der Pfarrer, dem später noch das lose Mundwerk der Buckligen die volle Wahrheit offenbaren würde, war schon jetzt von einer tiefen Dankbarkeit dem Mann gegenüber erfüllt, den er seiner geringen Bildung wegen anfangs nur wenig geschätzt hatte.
Daß es zwischen ihnen teilweise sehr unterkühlt zugegangen war, hatte auf Gegenseitigkeit beruht: auch Johannes war es anfangs schwergefallen, dem Gottesmann den nötigen Respekt zu zollen. Sicher, ihm lag viel an der Kirche, aber die den Herrgott auf Erden vertraten, schienen ihm oft zu weltfremd und zu sehr von sich selbst überzeugt, als daß sie sich noch in die Seele kleiner Leute hätten hineinversetzen können. Auch Pfarrer Wagner hatte er seinerzeit für einen solchen Vertreter gehalten, und es hatte schon fast der gesamten acht Jahre bedurft, die vergangen waren, seit er damals, 1927, die Pfarrgemeinde übernommen hatte, bis die beiden Männer zu einem halbwegs normalen Umgang gelangt waren. Die meisten Reibereien gab es dadurch, daß Johannes auch Mitglied des Kirchenvorstandes war und er hier, im Gegensatz zu denen, die seiner Ansicht nach immer nur brav zu den Worten des Pfarrers nickten, ebenfalls nicht mit seiner Meinung hinter dem Berg hielt. Wie immer war es Agnes, die mäßigend auf ihn einzuwirken versuchte, ebenso wie dies im Lager des Kontrahenten dessen Schwester tat, die er mit nach Kleeberg gebracht hatte, damit sie ihm den Haushalt führte.
Beide Frauen konnten dann aber doch nicht verhindern, daß es zu einer Auseinandersetzung kam, die den Höhepunkt der ständigen Rangeleien markierte: Johannes hatte sich in einer Vorstandssitzung wieder einmal fürchterlich geärgert, was Agnes ihm an diesem Sonntag morgen natürlich gleich ansah. Dennoch sagte sie nichts, wollte nicht in ihren Mann dringen, denn soviel wußte sie: wenn er reden wollte, dann mußte das von ihm aus kommen. So setzte sich Johannes mit verkniffenem Gesicht an den Mittagstisch, wo die Familie schon auf ihn gewartet hatte, betete laut – wie er es immer tat – das Vaterunser und stand danach aber plötzlich wieder auf, um ins Büro zu gehen. Agnes, die nicht gleich begriff, vergegenwärtigte sich erst, als sie Johannes durch die offene Tür sprechen hörte, daß das Bürgermeisteramt ja seit kurzem mit einem Telefonapparat ausgestattet war. Nun war es zu spät, ihr Dickkopf hatte den Pfarrer bereits an der Strippe und polterte auch schon los: »Herr Pfarrer, wenn ich geahnt hätte, daß ich mich nach dem Gottesdienst so über Sie hätte ärgern müssen, ich wäre weder in die Kirche noch in die Vorstandssitzung gekommen!« Und mit einem kräftigen Schlag warf er den Hörer auf die Gabel und setzte sich wieder an den Mittagstisch, um jetzt in aller Ruhe zu essen. »Das ist aber nicht die richtige Art, eine Auseinandersetzung zu bereinigen«, konnte sich nun ihrerseits Agnes nicht bremsen. »Ach was«, grummelte Johannes nur, »manchmal muß man sich eben mal Luft machen«. Damit war für ihn die Angelegenheit beendet, und es machte ihm überhaupt nichts aus, daß der Pfarrer ihm von nun an für eine lange Zeit aus dem Wege ging: fast konnte man sogar den Eindruck haben, als freue er sich darüber wie über einen persönlichen Triumph, denn einen so gescheiten Widersacher hatte er lange nicht mehr gehabt.
Erst nach und nach kamen sich die zwei so unterschiedlichen Männer wieder näher, wahrscheinlich, weil es der Pfarrer ebenso wie Johannes einsah, beide selbstverständlich nicht aus freien Stücken, sondern der eine auf Betreiben seiner Schwester, der andere auf das seiner Frau, daß sie nun einmal auf Gedeih und Verderb miteinander auskommen mußten, und langsam, ganz langsam entwickelte sich sogar so etwas wie Sympathie zwischen ihnen; doch wer gesagt hätte, daß dieses Verhältnis auch ohne diejenigen zustandegekommen wäre, für die sie gleichermaßen wenig übrighatten, die neuen Machthaber nämlich, der, da durfte man sicher sein, hätte mit seiner Vermutung unter Umständen falsch gelegen.
Mit den Nazis hatten beide nichts am Hut, und dies war ein gemeinsamer Nenner, der allein schon ausreichte für ein gutes Verhältnis: Wie oft nur wurde der Pfarrer vom treuen Parteigenossen Herbst, der gleich neben der Kirche wohnte, angezeigt, wenn er an einem nationalsozialistischen Feiertag das Gotteshaus entweder gar nicht oder viel zu spät flaggte, und wie oft ergriff Johannes dann Partei für den einst ungeliebten Geistlichen und verteidigte ihn nach allen Regeln der Kunst! Dann das Zusammenspiel der beiden Männer, als es um die Friedhofserweiterung ging: Johannes brauchte seinerzeit ein kleines Stück von einer Wiese, die zwar der Kirche gehörte, aber vom Pg (Parteigenossen) Herbst so, als ob sie sein Eigentum wäre, genutzt wurde. Um dem Bürgermeister, der notgedrungen schon dadurch auffallen mußte, daß er immer noch nicht der Partei beigetreten war, einen der vielen Knüppel zwischen die Beine zu werfen, die ihm als überzeugtem Nationalsozialisten zur Verfügung standen, machte Herbst Eingaben an alle möglichen Behörden, blieb zu guter Letzt aber dadurch erfolglos, daß sich der Pfarrer wie selbstverständlich an die Seite von Johannes gesellte. Seither hatten beide Männer einen unerbittlichen Feind, der, was erschwerend hinzukam, bei weitem nicht der einzige war, allerdings hatte jeder von ihnen auch einen treuen Freund gewonnen, und ein solcher war in dieser Zeit um so wertvoller, als es viel zu wenige von ihnen gab.
Johannes verstand immer weniger, was in dieser merkwürdigen Zeit vor sich ging, und dies bestimmt auch darum, weil er selbst sich bei dem, was er tat, stets vom Kopf und der von ihm hochgepriesenen Logik leiten ließ. Agnes dagegen, deren Gedanken wie bei allen Frauen, die er kannte, mehr von Herz und Gefühl bestimmt waren, konnte sich ihrerseits gerade deshalb die Schrecken, die der Führer verbreitete und die mittlerweile selbst bis in ihr Dorf vorgedrungen waren, wesentlich besser ausmalen als ihr Mann. Als Johannes ihr zum Beispiel erzählte, daß die Buckel-Anna wirklich recht gehabt hatte, schüttelte sie zwar auch den Kopf, doch wollte sie ihn damit nur glauben machen, daß er nicht der einzige war, der das Unfaßbare nicht fassen konnte. Zu gut hatte Johannes noch ihre skeptischen Worte im Ohr, die sie von Anfang an für die neuen Herrscher gefunden hatte: »Jetzt kommt Schlimmeres auf uns zu, als wir jemals gekannt haben« und »Wer so schreien muß, der kann nicht viel zu sagen haben.« Er hatte ihr zuerst immer vorgeworfen, daß sie dem Pfarrer nur nach dem Mund rede, aber wenn das vielleicht auch so gewesen war, so hatte er doch rasch begriffen, daß man sich heutzutage auf eine Seite, und zwar auf die richtige, schlagen mußte, und er hatte sich mehr als einmal darüber geärgert, daß Agnes diese Einsicht früher gekommen war als ihm. Dabei hatte er doch eigentlich nur Eintracht und Frieden im Dorf gewollt. Die Politik, so hatte er immer gedacht, werde vor den Toren von Kleeberg schon zum Stehen kommen, wen konnte es hier auch interessieren, was in Berlin oder Nürnberg vor sich ging. Seit gestern war das aber alles anders, denn die Figuren, die sich im Gebüsch versteckt hatten, um dem Pfarrer eine Lektion zu erteilen, waren keine Einbildung gewesen.